Deutsche Bibelgesellschaft

Josua 1,1–9 | Neujahrstag | 01.01.2025

Einführung in das Buch Josua

Das Buch Josua – welches? Das ist die erste und im wörtlichen Sinne grundlegende Frage, wenn man an einen Predigttext aus diesem Buch herantritt. Denn es liegen uns drei je eigenständige Ausgaben vor. Diese drei Ausgaben oder Buchgestalten werden durch den masoretischen Text (MT), die griechische Übersetzung der Septuaginta (LXX) sowie ein fragmentarisch erhaltenes Manuskript aus Qumran (4QJosha) bezeugt. Alle drei Zeugen weisen Eigenheiten auf, die nicht im Lauf der Textüberlieferung entstanden sein können, sondern jeweils das Ergebnis planvoller literarischer Gestaltung darstellen. So ist LXX nicht nur ca. fünf Prozent kürzer als MT bzw. MT ca. fünf Prozent länger als LXX, wobei die längeren MT-Texte häufig aus inhaltlichen Gründen als sekundäre Erweiterungen einzuschätzen sind. Vielmehr bietet LXX ihrerseits auch an mehreren Stellen Text, der in MT nicht geboten wird. Hinzu kommen Unterschiede in der Abfolge von Perikopen und in einem Fall (Jos 5,2–9) eine je eigene Variation des gemeinsamen Themas. Ein vergleichbares Bild ergibt sich trotz der insgesamt spärlichen Textbezeugung für 4QJosha; die beiden anderen Josua-Manuskripte aus Qumran, 4QJoshb und XJoshua, bezeugen demgegenüber eine MT nahestehende protomasoretische Textform. Es liegen uns also drei je eigenständige Ausgaben des Josuabuches vor, denen als solchen grundsätzlich das gleiche Recht zukommt – weshalb es in der Predigtvorbereitung durchaus gewinnbringend sein kann, die unterschiedlichen Ausgaben gegebenenfalls im Vergleich zu analysieren und zu interpretieren. Da sich die Frage für jede Perikope individuell stellt, wird sie im Abschnitt Exegese kompakt (s.u.) für den hier behandelten Predigttext aufgenommen.

Die Gliederung des kanonischen Buches, in der seine drei Ausgaben übereinstimmen, kann in gröbster Form durch die beliebte Zweiteilung nachvollzogen werden: Landnahme in Jos 1–12, Landverteilung in Jos 13–24. Etwas genauer und dem Stoff in den ersten und letzten Kapiteln sehr viel angemessener ist demgegenüber eine Grobgliederung in vier Buchteile:

Jos 1,1–5,15  

Auftakt der Epoche mit dem Einzug unter Josua

Jos 6,1–12,24

Eroberung des Landes

Jos 13,1–21,42

Verteilung des Landes

Jos 21,43–24,33

Abschluss der Epoche mit Abschieden und Abschiedsreden

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Die Josua-Erzählung ist ihrerseits Teil eines übergreifenden literarischen Kontextes – oder genauer: literarischer Kontexte. Zum einen wird erst im Josuabuch vom Einzug Israels in sein Land erzählt, auf den die Hörerin oder der Leser der kanonischen biblischen Darstellung seit dem Auszug des Volkes aus Ägypten wartet, und damit die Großerzählung vom Exodus zu ihrem Abschluss gebracht. Zum anderen beginnt mit der in Josua erzählten Einnahme und Verteilung des verheißenen Landes die bis ans Ende der Königebücher reichende Darstellung der ‚Geschichte Israels‘ in seinem Land, die durch die im Deuteronomium übermittelten Gebote für das Leben in diesem Land gleichsam grundgelegt worden ist.

In dieser Scharnierstellung des Buches spiegelt sich seine Entstehungsgeschichte. Eine Josua-Erzählung, die die Konturen der vorliegenden kanonischen Darstellung aufweist, ist vermutlich erstmals durch eine deuteronomistische (dtr) Redaktion des literarischen Kontextes Dtn–2Kön in der Exilszeit konzipiert worden. Diese dtr Josua-Erzählung dürfte folgende Gestalt gehabt haben:

Jos 1; *3–4

Auftakt der Epoche

Jos 6*; 7,2–5a; 8,1–29; 9*; 10; 11; 12* 

Landnahme

Jos 21,43–45; 22,1–6; 23*; Ri 2,6–10

Abschluss der Epoche

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Im Darstellungsbereich der Landnahme wurde dabei augenscheinlich eine bereits erzählerisch gestaltete vor-dtr Überlieferung verarbeitet.

Die dtr Josua-Erzählung erfuhr diverse Erweiterungen auf dem Weg zum kanonischen Josuabuch. Zunächst sind hier sekundär-dtr Bearbeitungen zu nennen, wie sich z.B. an Jos 23 gut ablesen lässt, wo der dtr Grundbestand in V. 1–3.6(?).11.14–16a erweitert wurde um die nachdrücklich eingeschärfte Warnung vor jeglicher Verbindung mit den Völkern des Landes. Aufs Buchganze gesehen besonders bedeutsam war sodann der Einbau des literarisch späten, aber gleichfalls unter Verwendung älterer Überlieferung konzipierten Landverteilungsberichts in Jos 13–19 (20–21).

Redaktionelle Bearbeitungen von unterschiedlicher Reichweite (und von Belang für die von der Perikopenordnung vorgesehenen Predigttexte) sind am Anfang und am Ende des Buches feststellbar. Zum einen liegt in Jos 2,1–24; Jos 3,1.5.9–11.13.16a*; 4,21–5,1; 6,17–19.22–23.24b–25; 7,1.5b–26 eine späte, literargeschichtlich als nachpriesterlich einzuordnende Fortschreibungsschicht vor. Ihr Programmtext ist die Erzählung von der Kanaanäerin Rahab, die gegen jede Erwartung Jhwh als Gott bekennt und sich solidarisch zu Israel hält. Einen sehr viel weiteren, bis in die Genesis zurückreichenden literarischen Horizont weist zum anderen die Hexateuch-Redaktion auf, die für die Einfügung der zweiten Abschiedsrede Josuas in Jos 24 verantwortlich zeichnet und darauf zielt, die in Entstehung befindlichen literarischen Größen des Pentateuch einerseits und des Josuabuches andererseits zu einem Werk zusammenzubinden.

Neben und nach diesen Wachstumsstufen sind schließlich, wie in einer Überlieferung dieses Umfangs und Inhalts wenig verwunderlich, vielfältige lokale Fortschreibungen auszumachen. Darunter sind kleine und kleinste Zusätze, aber auch literarisch und theologisch durchaus gewichtige Stücke, allen voran die drei Exodusreminiszenzen in Jos 5, die den Einzug ins Land als Abschluss des Auszugs aus Ägypten inszenieren.

Angesichts dieser Entstehungsgeschichte des Buches ist auch die Frage nach seinem historischen Kontext nur im Plural zu beantworten. Die im Bereich Jos 6ff. verarbeitete vor-dtr Landnahmeerzählung dürfte in der Spätphase des Königreichs Juda entstanden sein, die formative dtr Josua-Erzählung in der Exilszeit, d.h. unter dem Eindruck der historischen Katastrophe Judas 587 v. Chr. Demgegenüber sind sowohl die für Jos 24 verantwortliche Hexateuch-Redaktion als auch die mit Jos 2 beginnende Fortschreibung in der fortgeschrittenen Perserzeit zu verorten. Dafür sprechen die jeweils vorausgesetzten Bezugstexte im Pentateuch, im Fall der Jos-2-Schicht darüber hinaus auch das augenscheinlich auf lebensweltliche Verhältnisse in der persischen Provinz Jehud bezogene Anliegen. Letztere wies eine ethnische und religiöse Pluralität auf, die zu einem offenen gesellschaftlichen Konflikt über die Frage des Umgangs mit nicht-israelitischen ‚Anderen‘ führte. Das belegt der scharfe Streit um exogame Ehen, den Esr 9–10; Neh 13 einerseits und Ruth andererseits spiegeln. In diesem Kontext gibt sich die Rahab-Erzählung als Votum zu der Grundfrage nach Identität und Grenzen der Gemeinschaft zu erkennen. Sie zielt darauf, in Auseinandersetzung mit exklusivistischen Definitionen, denen auch die dtr Darstellung der Landnahme Vorschub leistet, die soziale Integration Jhwh-fürchtiger Nicht-Israeliten in die judäische Bevölkerung im Jehud der Perserzeit zu rechtfertigen.

Literatur

  • Gaß, E., 2023, Gott, Gewalt und die Landnahme Israels. Eine literarhistorische Analyse von Josua 9–12 (FAT 172), Tübingen.
  • Krause, J.J., 2014, Exodus und Eisodus. Komposition und Theologie von Josua 1–5 (VT.S 161), Leiden / Boston.
  • Krause, J.J., 2017, Hexateuchal Redaction in Joshua, in: HeBAI 6, 181–202.
  • van der Meer, M.N., 2004, Formation and Reformulation. The Redaction of the Book of Joshua in the Light of the Oldest Textual Witnesses (VT.S 102), Leiden / Boston.
  • Noort, E. (Hg.), 2012, The Book of Joshua (BEThL 250), Leuven.
  • de Vos, J.C., 2003, Das Los Judas. Über Entstehung und Ziele der Landbeschreibung in Josua 15 (VT.S 95), Leiden / Boston.

Kommentare

  • Fritz, V., 1994, Das Buch Josua (HAT 7), Tübingen.
  • Knauf, E.A., 2008, Josua (ZBK 6), Zürich.
  • Nelson, R.D., 1997, Joshua. A Commentary (OTL), Louisville.
  • Noth, M., 21953, Das Buch Josua (HAT 7), Tübingen.
  • Rösel, H.N., 2011, Joshua (HCOT), Leuven.
  • van der Meer, M.N. / de Vos, J.C., 2025, Josua (IEKAT), Stuttgart (2 Bde.; in Vorbereitung).

A) Exegese kompakt: Josua 1,1–9

Nach Gottes Willen leben – was kann das konkret bedeuten?

1וַיְהִ֗י אַחֲרֵ֛י מ֥וֹת מֹשֶׁ֖ה עֶ֣בֶד יְהוָ֑ה וַיֹּ֤אמֶר יְהוָה֙ אֶל־יְהוֹשֻׁ֣עַ בִּן־נ֔וּן מְשָׁרֵ֥ת מֹשֶׁ֖ה לֵאמֹֽר׃ 2מֹשֶׁ֥ה עַבְדִּ֖י מֵ֑ת וְעַתָּה֩ ק֨וּם עֲבֹ֜ר אֶת־הַיַּרְדֵּ֣ן הַזֶּ֗ה אַתָּה֙ וְכָל־הָעָ֣ם הַזֶּ֔ה אֶל־הָאָ֕רֶץ אֲשֶׁ֧ר אָנֹכִ֛י נֹתֵ֥ן לָהֶ֖ם לִבְנֵ֥י יִשְׂרָאֵֽל׃ 3כָּל־מָק֗וֹם אֲשֶׁ֨ר תִּדְרֹ֧ךְ כַּֽף־רַגְלְכֶ֛ם בּ֖וֹ לָכֶ֣ם נְתַתִּ֑יו כַּאֲשֶׁ֥ר דִּבַּ֖רְתִּי אֶל־מֹשֶֽׁה׃ 4מֵהַמִּדְבָּר֩ וְהַלְּבָנ֨וֹן הַזֶּ֜ה וְֽעַד־הַנָּהָ֧ר הַגָּד֣וֹל נְהַר־פְּרָ֗ת כֹּ֚ל אֶ֣רֶץ הַֽחִתִּ֔ים וְעַד־הַיָּ֥ם הַגָּד֖וֹל מְב֣וֹא הַשָּׁ֑מֶשׁ יִֽהְיֶ֖ה גְּבוּלְכֶֽם׃ 5לֹֽא־יִתְיַצֵּ֥ב אִישׁ֙ לְפָנֶ֔יךָ כֹּ֖ל יְמֵ֣י חַיֶּ֑יךָ כַּֽאֲשֶׁ֨ר הָיִ֤יתִי עִם־מֹשֶׁה֙ אֶהְיֶ֣ה עִמָּ֔ךְ לֹ֥א אַרְפְּךָ֖ וְלֹ֥א אֶעֶזְבֶֽךָּ׃ 6חֲזַ֖ק וֶאֱמָ֑ץ כִּ֣י אַתָּ֗ה תַּנְחִיל֙ אֶת־הָעָ֣ם הַזֶּ֔ה אֶת־הָאָ֕רֶץ אֲשֶׁר־נִשְׁבַּ֥עְתִּי לַאֲבוֹתָ֖ם לָתֵ֥ת לָהֶֽם׃ 7רַק֩ חֲזַ֨ק וֶֽאֱמַ֜ץ מְאֹ֗ד לִשְׁמֹ֤ר לַעֲשׂוֹת֙ כְּכָל־הַתּוֹרָ֗ה אֲשֶׁ֤ר צִוְּךָ֙ מֹשֶׁ֣ה עַבְדִּ֔י אַל־תָּס֥וּר מִמֶּ֖נּוּ יָמִ֣ין וּשְׂמֹ֑אול לְמַ֣עַן תַּשְׂכִּ֔יל בְּכֹ֖ל אֲשֶׁ֥ר תֵּלֵֽךְ׃ 8לֹֽא־יָמ֡וּשׁ סֵפֶר֩ הַתּוֹרָ֨ה הַזֶּ֜ה מִפִּ֗יךָ וְהָגִ֤יתָ בּוֹ֙ יוֹמָ֣ם וָלַ֔יְלָה לְמַ֨עַן֙ תִּשְׁמֹ֣ר לַעֲשֹׂ֔ות כְּכָל־הַכָּת֖וּב בּ֑וֹ כִּי־אָ֛ז תַּצְלִ֥יחַ אֶת־דְּרָכֶ֖ךָ וְאָ֥ז תַּשְׂכִּֽיל׃ 9הֲל֤וֹא צִוִּיתִ֨יךָ֙ חֲזַ֣ק וֶאֱמָ֔ץ אַֽל־תַּעֲרֹ֖ץ וְאַל־תֵּחָ֑ת כִּ֤י עִמְּךָ֙ יְהוָ֣ה אֱלֹהֶ֔יךָ בְּכֹ֖ל אֲשֶׁ֥ר תֵּלֵֽךְ׃ פ

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Übersetzung

1 Nach dem Tod Moses, des Knechts Jhwhs, sprach Jhwh zu Josua, dem Sohn des Nun, Diener des Mose: 2 Mose, mein Knecht, ist gestorben. Mach dich also auf und überquere den Jordan hier, du und dieses ganze Volk, in das Land, das ich ihnen gebe, den Israeliten. 3 Jeden Ort, den eure Fußsohle betritt, habe ich euch gegeben, wie ich zu Mose geredet habe. 4 Von der Wüste und dem Libanon hier bis zu dem großen Strom, dem Euphrat, das ganze Hetiterland, und bis zu dem großen Meer gen Sonnenuntergang soll euer Gebiet sein. 5 Niemand wird dir standhalten können, solange du lebst. Wie ich mit Mose war, so werde ich mit dir sein, ich werde dich nicht im Stich lassen und nicht verlassen. 6 Sei stark und mutig, denn du sollst diesem Volk das Land, das ihnen zu geben ich ihren Vorfahren geschworen habe, als Erbbesitz verteilen. 7 Sei nur sehr stark und mutig, darauf zu achten, nach der ganzen Weisung zu handeln, die Mose, mein Knecht, dir geboten hat. Weiche von ihr nicht ab, weder nach rechts noch nach links, auf dass du Erfolg hast, wohin du auch gehst. 8 Dieses Buch der Weisung soll nicht aus deinem Mund weichen, und du sollst es Tag und Nacht vor dich hinmurmeln, damit du darauf achtest, nach allem zu handeln, was darin geschrieben steht. Denn dann wird dein Weg glücken, und dann wirst du Erfolg haben. 9 Habe ich dir nicht geboten: Sei stark und mutig? Hab keine Angst und fürchte dich nicht, denn Jhwh, dein Gott, ist mit dir, wohin du auch gehst.

1. Ausgewählte textkritische Probleme und Hinweise zur Übersetzung

Der obigen Arbeitsübersetzung liegt MT zugrunde. Die Differenzen gegenüber LXX sind in unserer Perikope aufs Ganze gesehen überschaubar (s. die folgenden Hinweise). In Qumran ist der Text so gut wie nicht erhalten (abgesehen von V. 9, der fragmentarisch auf XJoshua zu lesen ist).

V. 1: Das auf Mose bezogene Epitheton „Knecht Jhwhs“ wird von LXX nicht bezeugt.

V. 2: Das Demonstrativpronomen in dem Ausdruck „dieser Jordan“ (oder, wie oben übersetzt, „der Jordan hier“) wird in LXX nicht geboten, wobei gute Gründe dafür sprechen, dass MT hier die ursprünglichere Lesart bewahrt hat. Die sprachlich auffällige Formulierung wird an einer Handvoll weiterer Stellen im Alten Testament verwendet, die mit Ausnahme von Gen 32,11 alle im thematischen Zusammenhang des Beginns der Landnahme stehen: Dtn 3,27; 31,2; Jos 1,2.11; 4,22. – Am Ende von V. 2 fehlt in LXX das nachgestellte „den Israeliten“.

V. 4: Die Apposition „das ganze Hetiterland“ wird nur von MT geboten. Hier scheint LXX die ältere Lesart bewahrt zu haben, wie nicht zuletzt die Parallelstellen Dtn 1,7; 11,24 nahelegen.

V. 7: Das Element „Weisung“ (hebr. tora) fehlt in LXX (ebenso wie das intensivierende „sehr“). Gleichwohl ist der Sinnzusammenhang kein anderer („nach allem zu handeln, was Mose, mein Knecht, dir geboten hat“), zumal das fehlende Element im direkt anschließenden V. 8 auch auf Griechisch bezeugt wird.

V. 8: Das „Buch der Weisung“ (sefer ha-tora) heißt auf Griechisch ἡ βίβλος τοῦ νόμου, „Gesetzbuch“. Unsere Perikope partizipiert damit an der theologisch folgenreichen (man denke an Paulus!) rezeptionsgeschichtlichen Einengung der semantischen Breite des hebr. tora auf den Aspekt „Gesetz“. Die Grundbedeutung des Wortes ist „Weisung“, was je nach Verwendung „Gesetz“ einschließen kann. Die dtr Tradition prägt das Wort programmatisch neu und verwendet es im Singular für den von Mose übermittelten und in seiner Abschiedsrede, als die sich das dtr Dtn darstellt, kodifizierten Gotteswillen. Auch dabei wird tora aber nicht auf den nomistischen Aspekt verengt. Denn hier wie auch sonst im Alten Testament ist der in Geboten gegebene Gotteswille eingebunden in die Erzählung der Heilsgeschichte.

2. Text und Kontext

Mit einer relativen Umstands- und Zeitangabe (Jos 1,1a) beginnt eine Erzählung, die an einen Vorkontext anknüpft. So ist Jos 1 Auftakt der dtr Josua-Erzählung und Zielpunkt eines kompositionellen Zusammenhangs mit den Zentraltexten Dtn 3,27–28 und 31,2.7–8. Gemeinsam mit dem narrativen Kontext (v.a. der Nachricht vom Tod Moses nach Dtn 34,*1–6) bilden die drei Texte eine sprachlich dicht gewobene Darstellung der Nachfolge Moses durch Josua. Ein Teil baut auf dem anderen auf: Am Anfang steht die Entscheidung Jhwhs, dass Mose das verheißene Land nicht betreten wird, und der damit verbundene Auftrag an Mose, Josua zu seinem Nachfolger zu ernennen (Dtn 3,27–28). Unmittelbar vor seinem Tod führt Mose diesen Auftrag dann in aller Öffentlichkeit aus (Dtn 31,7–8). Unter expliziter Aufnahme dieser Texte wendet sich schließlich in unserem Text Jhwh selbst an den neuen Anführer (Jos 1,2.5–6). Wenn Jos 1 also als Exposition der dtr Josua-Erzählung fungiert, so überrascht es nicht, dass es programmatisch und grundsätzlich zugeht. Die von der Erzählung gewählte Form hierfür ist die der Grundsatzrede. Gleich drei umfangreiche Reden von prinzipiellem Anspruch werden im Wortlaut wiedergegeben. Zunächst und grundlegend spricht Jhwh zu Josua (V. 1–9). Daraufhin wendet sich Josua im zweiten Teil des Kapitels mit einem grundsätzlichen Anliegen an die zweieinhalb ostjordanischen Stämme (V. 12–15), die ihm ebenfalls mit einer Grundsatzerklärung antworten (V. 16–18). Der Predigttext umfasst die erste dieser drei Reden.

3. Entstehung und Einordung

Der oben benannte literarische Zusammenhang von Jos 1 mit dem dtr Rahmen des Dtn erklärt sich unter Annahme eines Dtn und Jos umfassenden Werkzusammenhangs ungezwungen als werkimmanente Anknüpfung. Dies gilt gleichermaßen für beide forschungsgeschichtlichen Variationen dieser Annahme, die eines von Dtn bis 2Kön reichenden dtr Geschichtswerkes (DtrG) oder jene einer nur Dtn und Jos umfassenden dtr Landeroberungserzählung (DtrL). Wo, wie in der jüngeren Forschung häufiger der Fall, ein solcher Werkzusammenhang zugunsten anderer literaturgeschichtlicher Modelle in Frage gestellt wird, muss der Charakter der Josua-Erzählung als Fortsetzung mit anderen Bezugstexten erklärt werden. Für das in der vorliegenden Perikope fragliche Thema der Nachfolge Moses durch Josua kommt hierfür v.a. Num 27,12–23 in Betracht. Wer sich die Mühe macht, Jos 1,1–9 einerseits mit diesem Text, andererseits mit den o.g. Stellen aus Dtn 3 und 31 zu vergleichen, kann sich ein eigenes kompositionsgeschichtliches Urteil bilden.

Dass die Perikope selbst ein durch und durch dtr Text ist, darüber herrscht weitgehendes Einvernehmen. Auch vor-dtr Quellenfäden werden darin kaum noch gesucht. Gegenstand der literarkritischen und redaktionsgeschichtlichen Debatte ist stattdessen, welchen Bestand die dtr Grundschicht aufwies und wo Ergänzungen vorliegen könnten. Dabei verdienen zwei Bereiche besondere Aufmerksamkeit. Der eine ist die Beschreibung des zugesagten Landes in V. 3–4. Gemeinsam mit dem direkt anschließenden V. 5a bildet sie eine wörtliche Parallele zu Dtn 11,24–25a, die sich selbst als Zitat ausweist: „wie ich zu Mose geredet habe“ (V. 3b). Hier wie da wirft diese Beschreibung eines Israel zugesagten Landes, das bis an den Euphrat reicht, dasselbe Problem auf: Diese idealisierten, in keiner historischen Konstellation auch nur annähernd realisierten Grenzen stehen in diametralem Widerspruch zur sonstigen Darstellung der Landnahme in Jos, die von der Einnahme lediglich des Westjordanlandes berichtet; so ist die Aufforderung Jhwhs an Josua in Jos 1,2, den Jordan zu überschreitend, gleichbedeutend mit dem Auftrag, Israel in das verheißene Land zu führen. Hinter dem harten Nebeneinander von V. 2 einerseits und V. 3–4 andererseits steht ein nur literarkritisch zu lösendes Problem. Die Lösung muss aber nicht lauten, den Bestand der Verse 3–4 insgesamt auszuscheiden, was sich angesichts des zugehörigen V. 5a (vgl. Dtn 11,24–25a!) auch nicht empfiehlt. Stattdessen reicht es, die Elemente „bis zu dem großen Strom, dem Euphrat, das ganze Hetiterland“ als Nachtrag zu identifizieren. Nach deren Abzug passt der verbleibende Grundbestand von V. 4 problemlos zu der andernorts in dtr Jos vorausgesetzten Konzeption des Landes.

Der zweite Bereich ist der Abschluss der Gottesrede in V. 7–9. Forschungsgeschichtlich kommt der Frage nach der Herkunft dieser Verse besondere Bedeutung zu, da es sich bei ihnen um den Paradetext der von Rudolf Smend jun. postulierten „nomistischen“ Redaktionsschicht DtrN handelt. Am Anfang stand dabei die Wahrnehmung eines literarkritisch zu erklärenden Bruchs zwischen V. 6 und 7. In diesem Sinne wurden die Wiederholung der charakteristischen Formel „sei stark und mutig“ und deren Betonung („sehr“) gewertet. Hinzu komme eine inhaltliche Zäsur: Während die Formel in V. 6 Mut im militärischen Zusammenhang meine und eine unbedingte Zusage Jhwhs an Josua einleite, werde sie in V. 7 auf einen anderen Sinn „umgebogen“ und überdies nachträglich unter eine Bedingung gestellt: die Bedingung des Gesetzesgehorsams. Mit der Rede von dem Gesetzesbuch werde diese Neuprägung in V. 8 noch vertieft. Entsprechend fasste Smend seine Gesamthypothese zusammen: „DtrN hat [...] an vielen Stellen den ausdrücklichen Hinweis auf die Bestimmungen des mosaischen Gesetzbuches nachgetragen und geradezu eine Theologie des Gesetzes und des ihm gemäßen Verhaltens und der Folgen von Gehorsam und Ungehorsam entwickelt.“ (Smend, 123).

Diese Analyse hat, zumal in der deutschsprachigen, vornehmlich im Horizont christlicher Theologie betriebenen Exegese, stark gewirkt, ist aber nicht unwidersprochen geblieben. Denn der Zusammenhang von Zusage (V. 5), Paränese (V. 7–8) und neuerlicher Bekräftigung der Zusage (V. 9) lässt sich auch dahingehend interpretieren, dass Josua am Anfang seiner neuen, großen Aufgabe von Jhwh dessen Zuwendung und Mitsein versichert und im selben Atemzug daran erinnert wird, wie die so etablierte Gemeinschaft gelingen kann. Dabei wird ein Korrespondenzverhältnis von göttlicher Zuwendung (Ansprache) und auf dieser Grundlage zu erwartendem menschlichen Verhalten (Antwort) vorausgesetzt. In Form eines theologischen Programms ist dieses Korrespondenzverhältnis in der bundestheologischen Konzeption des dtr Dtn ausgearbeitet worden, also in dem literarischen Zusammenhang, den die dtr Tradenten mit dem Ausdruck „Torabuch“ bzw. „Buch der Weisung“ (V. 8) meinen. Insofern mag man zu Beginn der Josua-Erzählung, die unmittelbar an diesen Zusammenhang anknüpft und seine erzählerische Fortsetzung bildet, eine Erinnerung wie Jos 1,7–8 geradezu erwarten.

Wenn demnach ernsthaft in Erwägung zu ziehen ist, dass der dtr Grundbestand der Perikope nicht mit V. 6 endete, sondern vielmehr mit den theologisch volltönenden Versen 7–9, stellt sich exegetisch die Prüffrage, welche Rolle im weiteren literarischen Kontext das hier als Element der erzählerisch dargestellten Welt eingeführte Torabuch spielt. Die Antwort könnte lauten, dass es eine essenzielle Voraussetzung für die doppelte Ätiologie von Landgewinn und Landverlust, die in (Dtn) Jos–2Kön gegeben wird, darstellt. Der Plot dieser Großerzählung läuft darauf hinaus, dass Israel das Land aufgrund seines Gehorsams gegen Jhwh – konkret: gegen von Mose übermittelte Gebote Jhwhs – gewinnt, um es hernach aufgrund seines Ungehorsams gegen Jhwh – wiederum: gegen von Mose übermittelte Gebote Jhwhs – zu verlieren. Der große Mittler Mose lebt da aber längst nicht mehr. Vielmehr ist die zu seinen Lebzeiten gültige Relation Jhwh – Mose – Israel durch die Relation Jhwh – Torabuch – Israel abgelöst worden. Was es bedeutet, nach dem Willen Jhwhs zu leben, weiß man in post-mosaischer Zeit aus dem von Mose selbst niedergeschriebenen Torabuch, bzw. man könnte und sollte es aus ihm wissen. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Einführung des Torabuchs als Element der Geschichte Israels nach Mose für die Nachvollziehbarkeit der Erzählung geradezu unverzichtbar – und genau diese Einführung wird in Jos 1,7–8 geboten.

4. Theologische Themen

An theologischen Themen herrscht in Jos 1,1–9 kein Mangel, die Perikope bietet Stoff für ganz unterschiedlich ausgerichtete Predigten. Etliche Aspekte sind in den obigen Ausführungen bereits zur Geltung gekommen, sodass es genügt, sie stichwortartig in Erinnerung zu rufen: das Israel verheißene Land (übrigens ein Thema, das im jüdischen Kontext theologisch viel fruchtbarer geworden ist als im christlichen); Gottes Zuspruch und des Menschen Antwort; Gottes Gebote als Anleitung zu, gleichsam als Medium dieser Antwort; die materiell-dingliche Präsenz dieser Gebote im Buch; der frömmigkeitspraktische Umgang (Meditation) mit dem Buch etc. Aus diesem Stoff können und dürfen Predigten entstehen, die die Frage umkreisen, wie das eigentlich konkret gelingen und sich darstellen kann, Leben in Gottes Gegenwart und nach Gottes Willen. Mindestens für sich selbst bedenken (wenn es nicht gar Stoff einer weiteren Predigt wird) sollte die Predigerin dabei aber auch, worin Josuas Gehorsam im Kontext bemessen wird. Das eine Gebot der Tora, auf das es der Erzählung im Kern ankommt, ist das der Vernichtungsweihe (hebr. herem), in deutschen Übersetzungen meist mit „Bann“ wiedergegeben. Es wird in Dtn 20,16–17 eingeschärft und verlangt, bei der Landnahme alles auszulöschen, „was Odem hat“. Wenn die dtr Josua-Erzählung die Landnahme als Epoche des vorbildlichen Gehorsams darstellt, tut sie es durch den Bericht über die gewissenhafte Ausführung des Banngebots. Wieder und wieder wird notiert, dass die Vernichtungsweihe vollstreckt worden ist (Jos 6,21; 8,26; cf. 10,1; 10,28.35.37.39.40; 11,11.12; cf. 11,14–15; 11,20.21). So avanciert die vollständige Vernichtung der Vorbewohner des Landes zum Maßstab für den Gehorsam Israels unter Josua.

Literatur

  • Krause, J.J., 2014, Exodus und Eisodus. Komposition und Theologie von Josua 1–5 (VT.S 161), Leiden / Boston.
  • Smend, R., 31984, Die Entstehung des Alten Testaments (ThW 1), Stuttgart u.a.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Durch die Exegese ist für mich die Bedeutung von tora im Text (V. 7f.) besonders erkennbar geworden. Drei Gedanken sind dabei für mich in den Vordergrund getreten:

Zum einen, dass es sich lohnt, tora als Begriff in seiner Eigenart wahrzunehmen und ihn nicht zu schnell über sein griechisches Äquivalent νόμος auf den Aspekt des Gesetzes zu beschränken. Dass Heilsgeschichte und Gottes Gesetz miteinander in der tora in einer engen Verbindung stehen, ist für die Auslegung und eine Predigt, die Israel als Gegenüber wahr- und ernstnimmt, von Bedeutung.

Zum anderen war für mich die Beobachtung neu, dass das Torabuch hier als „Mittler“ in gewisser Weise die Stelle des Mose einnimmt.

Drittens ist mir deutlich geworden, dass das prominente Vorkommen des Torabuchs in diesem konkreten Kontext der Landnahme wohl kein Zufall ist, sondern verbunden ist mit einer theologischen Deutung, nach der sowohl der Landgewinn als auch der spätere Landverlust etwas mit der Bewahrung der tora zu tun hat.

2. Thematische Fokussierung

Als Folge dieser persönlichen Resonanzen und angesichts der Tatsache, dass dies an Frömmigkeitspraktiken der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher anknüpfen kann, scheint mir das Umgehen mit Bibelworten ein passendes Thema der Predigt zu sein.

Eine Herausforderung sehe ich dabei darin, dieses Thema nicht zu dekontextualisieren. Landnahme (und ggf. im Rückblick auch Landverlust) bieten den Interpretationshintergrund, aus dem der Text nicht einfach herausgelöst werden kann und sollte. Zugleich bietet der Kasus (Neujahrstag) ja durchaus eine passende Gelegenheit, um einen Übergang zu thematisieren – auch wenn zu beachten ist, dass die Einnahme des verheißenen Landes kategorial etwas anderes ist als der Übergang in ein neues Jahr.

Explizit nicht würde ich an dieser Stelle das thematisieren, was als Kontext der Perikope mit zu bedenken ist, nämlich die Vernichtungsweihe (herem) als Ausdruck des Gehorsams Gott gegenüber, die am Ende der Exegese zu Recht als Kontext aufgerufen wird.

Dies könnte in Auslegung eines anderen Textes aus Jos (in derselben Predigtreihe am 17. So. n. Trin.) angemessener geschehen, da das Thema hier stärker im Zentrum steht.

3. Theologische Aktualisierung

In Aufnahme der Beobachtung, dass mit tora eben nicht nur Gesetzesvorschriften gemeint sind, sondern Weisungen und Verheißungen hier miteinander verwoben sind, und in Abgrenzung von einem Textverständnis, das annimmt, dass hier der Gedanke eines einfachen Do-ut-des (tut das, dann werdet ihr erfolgreich das Land einnehmen) vorliege, lohnt es sich, für die Aktualisierung von folgender Fragestellung auszugehen: Wie sieht ein Leben aus, das sich aus Gottes Zusagen speist und zugleich auch um seine Weisungen weiß?

Vielleicht hilft an dieser Stelle das Bild von Menschen, die daran gehen, ein eigenes Haus zu bauen. Vieles ist auf dem Weg unwägbar. Wird die Baugenehmigung erteilt – und wenn ja, unter welchen (ggf. kostspieligen) Auflagen, die die Umsetzung am Ende noch einmal fraglich erscheinen lassen? Gewähren die Banken die notwendigen Kredite – und auch hier die Frage: zu welchen Konditionen?

Die Situation des Textes entspricht zu einem gewissen Grad der Situation, in der die vorgestellte Person die Nachricht in Händen hält, dass die Baugenehmigung erteilt ist. Wenig später kommt der Anruf, in der die Bankmitarbeiterin mitteilt, dass die Kredite in gewünschter Weise gewährt werden. Zum Abschluss sagt sie dann noch: „Dann gehen Sie jetzt mit gutem Mut an alles, was nun zu tun ist!“

Selbst in solch profanen Zusammenhängen wie einem Hausbau gibt es manches, was unverfügbar ist. Es lässt sich sogar dann schon von „Geschenk“ oder „Gnade“ reden, wenn die Räder ineinandergreifen und manches problemfreier gelingt, als vorher befürchtet: Für das Gelingen eines Projekts ist das grundlegend – beim Bau des Hauses wie damals bei der Einnahme des verheißenen Landes. Um wieviel mehr gilt dies, wenn das, worum es geht, ganz Geschenk ist!

Und trotzdem bleibt manches an Regeln bestehen – ja, sinnvollerweise bestehen. Die Vorgaben, die die Statik des neu zu errichtenden Hauses sicherstellen oder dafür sorgen, dass im Brandfall eine Rettung möglich ist, sind ja keine Schikane, sondern dienen letztlich den neuen Bewohnerinnen und Bewohnern. Das Torabuch trägt in vergleichbarer Weise dazu bei, das Leben, das auf den Verheißungen und dem gnädigen Mitgehen Gottes aufbaut, zu ordnen – um der Menschen willen.

Nicht immer aber ist es Menschen – damals wie heute – gelungen, ein solches Leben aus den Verheißungen Gottes mit Blick auf seine guten Ordnungen zu führen. So tritt neben das Erleben des Gelingens auch das Misslingen. Mit Gunda Schneider-Flume lässt sich festhalten: „Nichts ist einzuwenden gegen Erfolg und Gelingen. Einspruch erhoben werden muss aber gegen die Instrumentalisierung Gottes für Gelingen und Erfolg und gegen die damit verbundene Absolutsetzung von Gelingen als Gesamtperspektive.“ (Schneider-Flume, 116).

Sie setzt dagegen: „Der christliche Glaube erkennt im Blick auf das Kreuz Jesu Christi, dass Gott selbst an dem Ort der äußersten Gottverlassenheit ist – es gibt kein Außerhalb Gottes –, dass Gott Leben schafft, wo Leben zerstört ist, und dass Gott Menschen erneuert, die vermeintlich nichts mehr zu erwarten haben und im Blick auf die es nach menschlichem Ermessen nichts mehr zu erwarten gibt.“ (Schneider-Flume, 117).

So könnte sich eine differenzierte Sicht auf das ergeben, was in V. 8 mit Glück und Erfolg gemeint ist. Es ist eben nicht einfach beschwerdefreies Glück und auch nicht grenzenloser Erfolg. Schon der V. 4 hat ja, wie in der Exegese deutlich geworden ist, etwas Utopisches an sich und enthält einen Wirklichkeitsüberschuss gegenüber der wahrnehmbaren Realität für Leserinnen und Leser unterschiedlichster Zeiten.

Es wird bei der Aktualisierung entsprechend darum gehen, die Komplexität des Lebens nicht zu überspringen, sondern Erfahrungen des gottgeschenkten Glücks in Zeiten des Unglücks aufzuzeigen und Perspektiven des Erfolgs bei bleibenden Erfahrungen des Scheiterns.

Für christliche Predigt ist an dieser Stelle der Christusbezug, wie von Schneider-Flume dargestellt, ein hilfreicher Zugang. Ein Anknüpfungspunkt im Text findet sich dabei in dem Gedanken, dass die Tora an die Stelle des Mittlers Mose tritt und so das Wort an den Platz der Person. Die Mittlerschaft wird im Neuen Testament zentral auf Jesus Christus bezogen (1Tim 2,5; Hebr passim). Und in Weiterentwicklung des hier erkennbaren Gedankens des personalen Mittlers, an dessen Stelle das Wort tritt, kann das Johannesevangelium das Motiv formen, dass nun das Wort wiederum Person wird (Joh 1,1–18).

4. Bezug zum Kirchenjahr

Als Lesung aus dem Alten Testament ist das Predigtwort hineingestellt in einen Textraum für diesen ersten Tag des Jahres, der ansonsten vor allem durch die Epistel aus Jak 4,13–15 und das Evangelium aus Lk 4,16–21 geprägt ist. Die Epistel rückt dabei die Unverfügbarkeit und nur bedingte Planbarkeit des Kommenden in den Fokus. Das Evangelium dagegen lässt den Gedanken des in Jesus Christus präsenten Heils, das sich in Befreiung und Heilung zeigt, aufstrahlen. Dabei lässt sich die alttestamentliche Lesung von der Akzentsetzung her eher dem Evangelium zuordnen, während die Epistel stärker die Bedrohtheit des Lebens andeutet.

Wer nun danach fragt, was der Predigttext als besondere Akzentsetzung einträgt, dürfte hier vor allem auf den Gedanken der Beschäftigung mit dem Wort stoßen.

Die zum Jahresbeginn weit verbreitete Praxis, gute Vorsätze zu fassen, könnte dazu einladen, die Hörenden zu ermutigen, sich im neuen Jahr ein neues Umgehen mit der Bibel vorzunehmen. Angesichts der Tatsache, dass die guten Vorsätze aber oft sehr schnell in Vergessenheit geraten, wäre allerdings zumindest kritisch zu prüfen, ob eine solche Verbindung tatsächlich zielführend ist.

In jedem Fall würde es sich aber lohnen – um einen Lieblingsgedanken von Martin Luther aufzunehmen – ein solches Umgehen mit dem Wort Gottes als reizvoll und verlockend darzustellen (Barnbrock). Wenn man schließlich die Neujahrsvorsätze mit Kristian Fechtner als ein „[C]hangieren […] zwischen sozialer Konvention und Herzenswunsch, zwischen Spiel und Lebensbewältigung“ (Fechtner, 84) versteht, dann ließe sich von diesen ersten Versen des Josuabuchs her sagen, dass das Kommende zwar nicht bis ins Letzte berechenbar ist, aber doch von Gottes Zusage des Mitgehens umfangen ist, sodass das „Hab keine Angst!“ (V. 9) auch der Gemeinde gilt. Und weil Gott in seinem Wort so ermutigend mit seinen Menschen redet und die Beschäftigung damit auch in Fragen der Lebensgestaltung neue Perspektiven für Glauben und Handeln eröffnet, lohnt sich die Beschäftigung mit diesem Wort.

5. Anregungen

Angesichts der Konkretion des Umgangs mit dem Buch der Weisung (Murmeln, Tag und Nacht damit umgehen) im biblischen Text selbst könnte die Predigt auch dazu beitragen, durch bibeldidaktische Hinweise (z.B. https://www.die-bibel.de/tipps-zum-bibellesen/hilfen-zum-bibellesen) konkret zu einer bereichernden Beschäftigung mit diesen Worten einzuladen.

Literatur

  • Christoph Barnbrock, Der (ver-)lockende Katechismus. Überlegungen zur Methodik und Didaktik kirchlichen Unterrichts, LuThK 28 (2004), 177–194. (http://dx.doi.org/10.15496/publikation-37895)
  • Kristian Fechtner, Im Rhythmus des Kirchenjahres. Vom Sinn der Feste und Zeiten, Gütersloh 2007.
  • Gunda Schneider-Flume, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen ³2008.

Autoren

  • Prof. Dr. Joachim J. Krause (Einführung und Exegese)
  • Prof. Dr. Christoph Barnbrock (Praktisch-theologische Resonanzen)

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