2. Mose 3,1-8a(8b.9)10(11-12)13-14(15) | Letzter Sonntag nach Epiphanias | 02.02.2025
Einführung in das 2. Buch Mose
Das 2. Buch Mose (bzw. Buch Exodus
1. Verfasser
Obwohl Mose
2. Adressaten
Da das 2. Buch Mose als Ursprungsgeschichte Israels dient, sind die Adressaten im breitesten Sinn das ganze Volk Israel; d.h. die Bevölkerung Israels und Judas in der spätmonarchischen und nachmonarchischen Zeit. Insbesondere der Dekalog
3. Entstehungsort
Obwohl die Exoduserzählung in Ägypten beginnt, wurden große Anteile des 2. Buch Moses am wahrscheinlichsten in Israel und Juda (und vor allem in Jerusalem) verfasst. Insbesondere die priesterlichen Partien deuten auf den Tempelkult hin, der (nach der biblischen Erzählung) später im salomonischen Tempel in Jerusalem
4. Wichtige Themen
Wichtige Themen der exegetischen Interpretation von Ex sind u.a.
- Gottes Eingreifen in die menschliche Geschichte, insbesondere durch die Befreiung seines Volkes aus der Unterdrückung und existentiellen Bedrohung,
- die Beziehung Gottes zu seinem Volk, ausgedrückt durch das Konzept eines „Bundes“
(ברית) und durch die Begegnung der Menschen mit Gott im Kult, - die göttlichen Gesetze (sowohl nicht-kultische als auch kultische) in Ex 20–40
und ihr Verhältnis zu anderen Gesetzen im Pentateuch (in 3., 4. und 5. Mose) und - die Auseinandersetzung des Buches mit Fragen der Führung und Organisation eines idealen Israels, die bereits in der „Geburtsstunde“ Israels verhandelt werden, bevor das Volk ins verheißene Land kommt.
Literatur:
- Albertz, R., 2012, Exodus: Ex 1–18 (ZBK.AT 2/1), Zürich
- Berner, Chr., 2010, Die Exoduserzählung. Das literarische Werden einer Ursprungslegende Israels (FAT 73), Tübingen
- Carr, D.M., 2012, The Moses Story: Literary-Historical Reflections, HBAI 1, 7–36
- Dozeman, Th., 2009, Commentary on Exodus (ECC), Grand Rapids
- Gerhards, M., 2006, Die Aussetzungsgeschichte des Mose. Literar- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu eine Schlüsseltext des nichtpriesterlichen Tetrateuch (WMANT 109), Neukirchen-Vluyn
- Utzschneider, H./Oswald, W., 2012, Exodus 1–15 (IEKAT 2.1), Stuttgart
A) Exegese kompakt: 2. Mose 3,1-8a(8b.9)10(11-12)13-14(15)
Übersetzung
(1) Und Mose war dabei, das Kleinvieh seines Schwiegervaters Jithros zu weiden, und er führte das Kleinvieh in die Wüste, und er kam zum Gottesberg, nach Horeb.
(2) Und der Bote JHWHs ist ihm erschienen in einer Flamme, mitten aus dem Busch. Und er sah hin, und siehe, der Busch brannte mit Feuer, aber der Busch wurde nicht verzehrt.
(3) Und Mose sagte: „Ich will hingehen und diese große Erscheinung ansehen. Warum (ver)brennt der Busch nicht?“
(4) Und JHWH sah, dass er hingegangen ist, um zu schauen. Und Gott rief ihn aus dem Busch und sagte: „Mose, Mose!“ Und er sagte: „Hier bin ich.“
(5) Und er sagte: „Komm nicht näher! Nimm deine Sandalen von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden.“
(6) Und er sagte: „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.“ Und Mose versteckte sein Gesicht, denn er fürchtete sich, zu Gott zu schauen.
(7) Und JHWH sagte: „Fürwahr, ich habe das Elend meines Volkes, das sich in Ägypten befindet, gesehen, und ihr Schreien vor ihren Antreibern habe ich gehört. Denn ich kenne seine Schmerzen.
(8) So bin ich herabgestiegen, um es aus der Hand Ägyptens zu retten und es aus diesem Land hinaufzuführen, in ein gutes und breites Land, in ein Land, das von Milch und Honig überfließt, zum Ort der Kanaaniter und der Hethiter und der Amoriter und der Perissiter und der Hiwwiter und der Jebusiter.
(9) Und nun sieh, das Schreien der Kinder Israels ist zu mir gedrungen, und ich habe auch den Druck gesehen, mit dem Ägypten sie unterdrückt.
(10) Und nun geh, und ich werde dich zum Pharao senden. Führe mein Volk, die Kinder Israels, heraus aus Ägypten!“
(11) Und Mose sagte zu Gott: „Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe, und dass ich die Kinder Israels aus Ägypten herausführe?“
(12) Und er sagte: „Ich werde mit dir sein, und dies ist das Zeichen, dass ich dich gesendet habe: Wenn du das Volk aus Ägypten hinausführst, werden sie auf diesem Berg Gott dienen“.
(13) Und Mose sagte zu Gott: „Wenn ich zu den Kindern Israels komme und ihnen sage, „Der Gott ihrer Vorfahren hat mich zu euch gesandt,” und sie sagen zu mir, „Was ist sein Name?”, was soll ich ihnen sagen?
(14) Und Gott sagte zu Mose: „Ich bin, der ich bin.“ Und er sagte: „So sollst du den Kindern Israels sagen: “Ich bin” hat mich zu euch gesandt.“
(15) Und weiter sagte Gott zu Mose: „So sollst du den Kindern Israels sagen: JHWH, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Dies ist mein Name für immer, und dies ist meine Erinnerung[sbezeichnung] von Generation zu Generation.“
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
V. 2: הַסְּנֶה „der Busch“. Dieses Wort wird in LU17 einmal mit „Dornbusch“ und einmal mit „Busch“ übersetzt. Im hebräischen Text von V. 2 kommt das Wort sogar dreimal vor, was stilistisch unschön erscheinen mag. Dennoch spielt das Wort סְּנֶה sene auf den geographischen Namen סִינָי sinai „Sinai“
V. 4: In diesem Vers wird sowohl der Gottesname JHWH (יהוה, LU17: „der Herr“) als auch der Name Elohim (אֱלֹהִים, „Gott“) verwendet. Die Verwendung von verschiedenen Gottesnamen in Ex 3,1–15 ist nicht willkürlich, sondern sie folgt einer gewissen Logik: In diesem Abschnitt (auch wenn nicht überall im Alten Testament) wird JHWH als eine im Himmel wohnende Gottheit dargestellt (vgl. V.7f), wohingegen Elohim Gott bezeichnet, der im irdischen Raum agiert (vgl. V. 6b.13f).
V. 5: אַדְמַת־קֹדֶשׁ „heiliger Boden“ (wörtl. „Boden der Heiligkeit“). Die Hebräische Bibel unterscheidet zwischen „Land“ im territorialen Sinne (אֶרֶץ eretz) und „Boden/Erde“ (אֲדָמָה adama). Der Konkordanzbefund des Begriffs קֹדֶשׁ qodesch „Heiligkeit“ in anderen alttestamentlichen Texten zeigt, dass dieser eng mit dem Tempelkult zusammenhängt. Insofern ist die Szene am Gottesberg in Ex 3,1–15 eine Vorschau auf den späteren israelitischen bzw. judäischen Tempelkult und auf die Heiligkeit des Tempelbezirks.
V. 14: אֶהְיֶה אֲשֶׁר אֶהְיֶה „ich bin, der ich bin“ (bzw. „ich werde sein, der ich sein werde“). Zu diesem Zeitpunkt der Erzählung weiß Mose noch nicht, wie die Gottheit Israels heißt, und an dieser Stelle gibt JHWH
2. Literarische Gestalt und Kontext
Der Passus stellt keinen eigenständigen Erzählanfang dar, sondern setzt die Einführung Moses
3. Kontext
Der Fokus dieser Episode liegt primär in der Beauftragung Moses als menschlicher Anführer im göttlichen Plan, das Volk JHWHs bzw. die Kinder Israels aus Ägypten herauszuführen. Insofern blickt sie voraus in die erzählerische Zukunft bis Ex 15 und – im Fall von V. 12 – noch weiter bis in die zweite Hälfte des Exodusbuches, in der das Volk zum Berg Sinai kommt und der Opferkult vor der Wohnung JHWHs eingeführt wird (Ex 25–31; 35–40). Andererseits blicken V. 6a und V. 15 zum Buch Genesis zurück, indem sie die Erzeltern Abraham, Isaak und Jakob erwähnen und betonen, dass JHWH seit mehreren Generationen der Gott Israels ist. Mose wird beauftragt, vor den Israeliten genau diesen Aspekt hervorzuheben, damit sie ihm glauben, dass JHWH ihn tatsächlich zur Herausführung aus Ägypten beauftragt hat. Im Kontext der Biographie Moses, die in Ex 2 angefangen hat, geht es bei dieser Offenbarung zudem um die Reintegration Moses in sein eigenes Volk – das Volk JHWHs.
4. Schwerpunkte der Interpretation
Auch wenn die Passage literarisch gesehen einen Dialog zwischen zwei Figuren – Gott/JHWH und Mose – darstellt, wird die kollektive Ebene stets betont. In V. 6 stellt Gott die Figur des Mose in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang. Auf der Ebene der Erzählung in Ex 1–3 scheint Mose zu wissen, dass er ein „Hebräer“ ist (jedenfalls weiß der Erzähler dies und teilt es den Lesenden in 2,11 mit), auch wenn er am ägyptischen Königshof aufgewachsen ist. Aber erst in Ex 3,6 erfährt Mose etwas mehr über die Vorgeschichte seines Volkes, nämlich, dass die Erzväter dieses Volkes Abraham, Isaak und Jakob heißen und dass das Volk eine Vorgeschichte mit seiner (noch unbenannten) Gottheit hat. Wie Mose selbst in Ex 2,11 die Fronarbeit seines Volkes (im hebr. Text „seiner Brüder“) gesehen hat, so hat auch Gott das Elend des Volkes gesehen (Ex 3,7.9). Die Lesenden können sich vorstellen, dass diese göttliche Aussage Mose in seiner Beauftragung sicherlich beruhigt und bestätigt hat: Wenn Mose das Leiden des Volkes nicht selbst gesehen hätte, wäre er vielleicht gar nicht bereit, einer ihm bisher unbekannten Gottheit zu glauben und eine zunächst aussichtslose – und für ihn gefährliche – Mission anzunehmen.
Zusätzlich zum erzählerischen Schwerpunkt auf JHWHs bzw. Gottes Befreiung der Israeliten und der Hinausführung aus Ägypten wird in Ex 3,1–15 die Verbindung von Exodusereignis und kultischer Verehrung JHWHs betont. Mose erfährt, dass JHWH ein Gott ist, der mit „heiligem Boden“ (V. 5) und mit einem „Berg“ (V. 12) verbunden ist. Auch wenn Mose die Details noch nicht kennt, kann er von Gottes Aussage in V. 12 vielleicht bereits erahnen, dass er nach dem Exodus auch eine Rolle im „Gottesdienst“ bzw. Kult spielen wird. Ex 3,1–15 stellt so eine Verbindung vom regulären Opferkult für JHWH im Tempel (in Jerusalem und vielleicht an anderen Kultorten) mit dem Exodusereignis her.
5. Theologische Perspektivierung
Aus theologischer Perspektive ist an Ex 3,1–15 besonders interessant, wie die göttliche und menschliche Initiative in der Geschichte Israels zusammenwirken. Der Passus legt nahe, dass Gottes Eingreifen zugunsten der Befreiung seines Volkes Hand in Hand mit der menschlichen Führung durch Mose geht. Denkbar wäre, dass Gott Mose sagt, er würde den Pharao vom Himmel aus – und damit ohne menschliches Zutun – schlagen und das Volk befreien. Doch ist dies nicht der Weg, den Gott wählt. Er schickt den noch unvorbereiteten und unsicheren Mose zu den Israeliten und zum Pharao. In dieser Hinsicht ist der Text ein Plädoyer für die Notwendigkeit menschlicher Handlungsbereitschaft in der Verwirklichung göttlicher Heilstaten (in diesem Fall konkret: die Rettung von Menschen aus der Ausbeutung und Unterdrückung).
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Die Exegese macht deutlich, dass der Predigttext gleich mehrere gewichtige Themen aufgreift und narrativ bearbeitet: Die Berufung Moses; die Selbstoffenbarung Gottes, der sich zugleich entzieht und rätselhaft bleibt; die liturgische Gottesbegegnung; die ambivalente Erfahrung des Heiligen. Wer alle Motive in einer einzigen Predigt gleichermaßen aufgreifen und aktualisieren will, wird scheitern. Auswahl und Fokussierung sind nötig.
Am anregendsten ist für mich das Motiv der Berufung. Ich frage mich, welche Berufungserfahrung dieser Text narrativ darstellt und reflektiert und wie sie uns heute anregen und öffnen kann für eigene Erfahrungen des Hörens und Angesprochenwerdens, des Beim-Namen-Genannt- und Berufenwerdens. Was könnte „Berufung“ heute bedeuten? Sollten wir uns nicht hüten vor Menschen, die sich als Berufene verstehen, in Szene setzen und Gefolgsleute suchen?
Ebenso aufregend scheint mir die Weise der Selbstoffenbarung Gottes, die zugleich ein Sich-Verbergen darstellt. Mehrere Gottesnamen und Selbstbezeichnungen werden nebeneinandergestellt, ohne in einem zweiten Schritt systematisiert, harmonisiert oder verbunden zu werden. Die berufende Stimme bleibt rätselhaft und schillernd bis zum Schluss. Gott kommt in diesem Text erschreckend nahe und entzieht sich zugleich.
Auch die weiteren Aspekte – die heilige Adama und der sich abzeichnende Kult – haben Gewicht und lassen sich in der Predigt vielleicht streifen.
2. Thematische Fokussierung
Mose wundert sich. Am Anfang seiner Berufung steht die Verwunderung über eine „große Erscheinung“, die ihn anzieht, in ihren Bann schlägt und aus der er seinen Namen hört. Er hört ihn gleich zweimal: „Mose, Mose!“, drängend und dramatisch. Er hört die Stimme und scheint unmittelbar zu verstehen, dass er gemeint ist, dass es um ihn geht, und er antwortet ohne Zögern: „Hier bin ich!“ Es ist die Ur-Szene der Berufung, die wir hier vor uns haben und die sich auch anderenorts findet, in der Bibel und darüber hinaus. Zu ihr gehören ein großes Erschrecken, Furcht und Zittern, und Diskretion. Die göttliche Stimme gebietet Mose, stehen zu bleiben, Abstand zu halten, die Schuhe auszuziehen. Damit gibt Mose seine Handlungsmacht auf. Er verbirgt sein Gesicht und verzichtet damit auf die Souveränität des objektivierenden Blicks, der Identifizierung, der Lokalisierung und Theologisierung des:der Berufenden. Als mysterium tremendum und mysterium fascinans, als zugleich erschreckendes und anziehendes Geheimnis hat Rudolf Otto die Ambivalenz dieser Szene, die Macht des Heiligen, 1917 wirkungsvoll entfaltet und analysiert.
Wie Stephen Germany betont, folgt auf den dramatischen Anfang die Selbstvorstellung des Berufenden, die Mose Neues offenbart: Der Berufende ist die noch namenlose Gottheit seiner Vorfahren Abraham, Isaak und Jakob. Mose erhält mit seiner Berufung eine Geschichte des göttlichen Beistands und Segens, die weit zurück reicht, mit der Gegenwart verbunden ist und kräftig in die Zukunft weist. Und zwar dadurch, dass der Gott der Erzeltern das Elend seines Volkes sieht, hört und kennt (V. 7), herabsteigt und Mose beruft, um mit ihm oder durch ihn sein Volk zu retten und hinaufzuführen in ein „gutes und breites Land“, in ein Land der Freiheit (V. 8). Die theologische Pointe der Berufung besteht, wie die Exegese zeigt, darin, dass der Berufende nicht ohne den Berufenen handelt, sondern mit ihm oder durch ihn. Er geht ins Risiko und liefert sein Befreiungsprojekt einem Nobody aus, einem Kleinviehhirten und Lohnarbeiter, einem Totschläger mit begrenzter Affektkontrolle (Ex 2,12). Das scheint Mose auch so zu sehen: „Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe?“. Es handelt sich hier um eine echte Identitätsfrage, nicht um eine rhetorische Wendung. Warum sich Mose gleichwohl darauf einlässt, obwohl sich das von Gott in Aussicht gestellte Zeichen erst in der Zukunft und jedenfalls nach dem Auszug manifestieren wird, bleibt rätselhaft.
Rätselhaft bleibt für Mose auch der Berufende. Er stellt sich als Gott der Vorfahren vor, der seinem Volk schon über viele Generationen beisteht. Das scheint Mose aber nicht zu reichen, um seine Mission erfüllen zu können. Er braucht einen Namen, mit dem er den Auftraggeber identifizieren und vorstellen kann. Aber einen solchen erhält er nicht. Der Berufende offenbart sich vielfältig: erst durch seinen Engel oder Boten (ohne dass dessen Erscheindung Kontur gewinnt); als Elohim, „der im irdischen Raum agiert“ (Stephen Germany); als JHWH, der im Himmel wohnt als „der ich bin“ oder „der ich sein werde“ – als Schöpfer, Beschützer und Retter in Gegenwart und Zukunft; und als Gott der Erzeltern mit langer Geschichte und vielen Geschichten. Der Name, den Mose fordert und der ihm gegeben wird, ist kein theologisches Konzept, sondern eine Stimme, die Menschen, die den an sie gerichteten Ruf hören, anzieht, sie beim Namen nennt, in die Pflicht nimmt, sieht und rettet und in die Freiheit führt; und zwar nicht nur einzeln, sondern auch und wesentlich im sozialen Verbund.
3. Theologische Aktualisierung
Glücklich die Person, die das, was sie tut – ihren Beruf, ihre Care-Arbeit, ihr Ehrenamt –, als Berufung erfährt: als „ihr Ding“, ihre Leidenschaft, ihre Lebensaufgabe und Verantwortung, ihre Lust und Freude. Glücklich sind jene, die erfahren haben, dass sie gemeint sind, dass sie angerufen und bei ihrem Namen genannt werden, unüberhörbar und unausweichlich; und die sich daran erinnern und davon erzählen können, auch wenn das Erlebte vielfältig schillert: Woher kam und kommt die Stimme, die mich anruft und herausfordert, anzieht und erschreckt? Wer ist der oder die Berufende? Sie entzieht sich kategorisch theologischer Objektivierung und Verfügung mittels eines Namens oder eines Konzepts. Das theologische Bilderverbot hat hier einen narrativen Anker. Der:die Berufende lässt sich hören und sehen – und verbirgt sich zugleich. Und der: die Berufene hört seinen:ihren Namen und kann nicht anders, als zu antworten: Hier bin ich! Aber den Blick muss sie senken.
Deutlich ist der Auftrag: der Auszug aus der Unfreiheit, die lange Wüstenwanderung und das verheißene Land. Wobei das verheißene Land kein Paradiesgarten ist, weder die verklärte Kindheit noch ein Luftschloss, gebaut aus regressiven Wunschphantasien, sondern ein Ort der Freiheit und Verantwortung, wo die Grundbedürfnisse ausreichend befriedigt sind (Milch und Honig als Erträge eigener Arbeit), der aber umstritten bleibt, Befriedung und Kooperation erfordert, weil da noch andere sind: „Kanaaniter und Hethiter und Amoriter und Perissiter und Hiwwiter und Jebusiter“ (V.8b). Es scheint mir darum wichtig, dass dieser Versteil bei der Lesung nicht eingeklammert und dass er in der Predigt angesprochen wird.
Berufungen sind Erfahrungen von einschneidenden Widerfahrnissen. Und als Erfahrungen sind sie Deutungen, die sich nachträglich mit Erlebnissen verbinden oder das jeweilige Erleben in bestimmter Weise prägen, indem sie es prädisponieren. In Ex 3 liegt eine narrative religiöse Deutung vor, die für die jüdische Identität und für den christlichen Glauben von eminenter Bedeutung ist und die die Kultur- und Geistesgeschichte des Judentums und des christlichen Abendlandes stark geprägt hat. Aber neben religiösen gibt es auch säkulare Konzepte von Berufung. Der Begriff hat sich auch in der säkularen Alltagssprache eingenistet und ist etwa im Englischen präsenter als im Deutschen. Mir scheint es angemessen, in der Predigt auf die unterschiedlichen Verwendungsweisen hinzuweisen und den theologischen und anthropologischen Gehalt des Textes vor dem Hintergrund anderer Deutungen zu entfalten und zum Leuchten zu bringen.
Anregend wäre darüber hinaus, das „Hier bin ich!“ oder „Hier hast du mich!“ in unsere Lebenswelt zu übersetzen und zu fragen, in welchen Situationen, in welcher Tonalität und Lautstärke und mit welcher Intention und Funktion es gesprochen wird. Wer bin ich und zu wem werde ich, wenn ich in einer bestimmten Situation „Hier bin ich!“ sage?
4. Bezug zum Kirchenjahr
Es ist der letzte Sonntag nach Epiphanias, der letzte Sonntag des Weihnachtsfestkreises. Im Wochenspruch aus Jes 60,2 – „Über dir geht auf der HERR, und seine Herrlichkeit erscheint über dir“ – und im Evangelium aus Mt 17,1–9 über das die Jünger erschreckende und begeisternde Erlebnis der Verklärung Jesu ist von Gottesoffenbarungen die Rede. Sie setzen leicht andere Akzente als der Predigttext – ästhetische statt akustische, Licht statt Stimme –, lassen sich aber sehr gut darauf beziehen.
5. Anregungen
Einige Schreibimpulse habe ich in die vorangehenden Abschnitte eingebaut. Ich rate dazu, mit lebensweltlichen und säkularen Verwendungsweisen von Berufung einzusteigen – etwa der Verwendungen in der Arbeitspsychologie (vgl. Wrzesniewski u.a., 21–33) –, dann auf den Bibeltext, seine Auffälligkeiten, Lücken und Stolpersteine zu fokussieren – insbesondere auf die erstaunliche Interaktion zwischen der Stimme aus dem Dornbusch und Mose –, um davon ausgehend danach zu fragen, welchen Erfahrungen des Angerufen-, des Beim-Namen-genannt- und des Beauftragtwerdens der Text neue Lichter aufsetzt und wie sie als Gotteserfahrungen in einer sowohl individuellen als auch kollektiven Befreiungsgeschichte lesbar gemacht werden können.
Alternativ zu einer Reflexion auf der Metaebene wäre es reizvoll, die Predigt als Bericht Moses‘ unmittelbar oder ein paar Jahre nach der Begebenheit zu gestalten.
Literatur
- Wrzesniewski, A., McCauley, C., Rozin, P., & Schwartz, B. (1997). Jobs, Careers, and Callings: People’s Relations to Their Work. Journal of Research in Personality 33, 21—33. doi:10.1006/jrpe.1997.2162.
Autoren
- Prof. Dr. Stephen Germany (Einführung und Exegese)
- Prof. Dr. David Plüss (Praktisch-theologische Resonanzen)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500094
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