Deutsche Bibelgesellschaft

Markus 4,35-41 | 4. Sonntag vor der Passionszeit | 09.02.2025

Einführung in das Markusevangelium

Das Markusevangelium (MkEv) wird – mit und seit Aufkommen der sog. Markuspriorität in der Evangelienforschung im ersten Drittel des 19. Jhs. – für die Grundform der Evangelienerzählung, also deren Prototyp gehalten. Ob Matthäus und Lukas die uns vorliegende kanonische Fassung des MkEv, eine Vorform oder eine spätere Form, also einen sog. Proto- oder Deuteromarkus, kannten, ist im Rahmen der Erforschung der Zwei-Quellen-Theorie weiterhin umstritten. Unabhängig von Fragen der Quellenforschung schärft der Blick auf die Seitenreferenten Matthäus und Lukas das Augenmerk für die Erzählinteressen des Markus: Der früheste Evangelist macht die „Anfänge des Evangeliums“ beim Wirken des Täufers fest (Mk 1,4-11) und konzentriert sich ganz auf die Verkündigung Jesu (Mk 1,14ff.).

1. Verfasser

Im Unterschied zum „Erfinder“ der frühchristlichen Briefform, Paulus, bleibt der Verfasser des ältesten Evangeliums anonym und im Dunkeln – er ist uns weder namentlich noch biographisch näher bekannt. Vier Spuren führen zu seinem Autorenprofil und so zu seiner möglichen Identität.

  • Der Autor im Spiegel altkirchlicher Traditionen und Zeugnisse: Die frühesten Papyrushandschriften, die Teile des MkEv bezeugen (P 137 [2./3. Jh.] und P 45 [3. Jh.] (vgl. ECM I,2,2), enthalten keine Autorkennzeichnung. Erst in den ältesten Vollbibelhandschriften (Sinaiticus, Vaticanus) aus dem 4. Jh. (s.: https://ntvmr.uni-muenster.de/ecm ) wird das MkEv mit ΚΑΤΑ ΜΑΡΚΟΝ überschrieben – damit ist zwar kein Autorenname gesetzt, aber eine Zuschreibung zu einem gewissen „Markus“ vorgenommen. Nach Papias von Hierapolis (erstes Drittel des 2. Jhs.) war „Markus“ der Dolmetscher des Petrus in Rom (s. auch 1 Petr 5,13). Diese Zuordnung rückt den Verfasser in eine Nähe zu Petrus (s. Mk 8,27-33; 9,2-10; 1,29-31) und verortet sein Werk in Rom.
  • Der Autor und seine Werkkonzeption: Markus entwickelt die Evangelienform als Erzählung über die „Anfänge des Evangeliums“ (Mk 1,1) und stellt das öffentliche Wirken Jesu unter diese Überschrift. Er knüpft damit an den zentralen paulinischen Begriff des „Evangeliums“ an (z.B. 1 Kor 15,1; Röm 1,1.15).
  • Der Autor und sein Schreibstil: Markus schreibt Koine-Griechisch und neigt zu einem parataktischen Stil, der in der früheren Forschung als volkstümlich galt. Typische Stilmerkmale sind ein kaum variierender Wortschatz und ein lebhafter Wechsel der Zeitformen mit einer Vorliebe für erzählende Präsensformen (Alkier/Paulsen 2021). Markus zeigt aber durchaus Kenntnis der Progymnasmata (Mortensen 2023), also der literarischen Einübung in rhetorische Grundformen.
  • Der Autor und seine religionsgeschichtliche Prägung: Markus ist mit Orten und Landschaften in Galiläa, besonders Kapernaum, vertraut und weitet den Blick auf Syrophönizien (Mk 7,24ff.) und „alle Welt“ (Mk 14,9). Beim Jerusalem-Aufenthalt Jesu fokussiert Markus auf dessen (kritische) Haltung zum Tempel (Mk 11-15). Bei der Diskussion über „rein und unrein“ setzt Markus trennende Speisevorschriften außer Kraft (Mk 7,19). Markus hält an der Erwartung einer baldigen Wiederkunft Jesu (im Anschluss an die Tempelzerstörung) fest (Mk 13,24-27).

Aus der Spurensuche, die einer Indizienkette gleicht, ergibt sich das Bild eines nicht-ungebildeten Autors, der breite Kenntnis frühchristlicher Traditionen und eine Vorliebe für Galiläa hat, aber zugleich eine universale Perspektive für die Verkündigung Jesu und die Ausbreitung des Evangeliums entwickelt. Er denkt und schreibt im Schatten der Ereignisse des Jahres 70 (Tempelzerstörung).

2. Adressaten

Die Evangelien bieten – mit Ausnahme von Lk 1,3 (s. auch Apg 1,1) – keine deutlichen Hinweise auf ihre Adressaten(gruppen). Markus hat offenbar ein Adressatenkollektiv (Mk 13,5bff.) im Blick, das lesen kann (Mk 13,14), aber Erklärungen zur aramäischen/hebräischen Begriffen (z.B. Mk 7,11), Bräuchen (Mk 7,3) und Ortsangaben (Mk 15,22) benötigt. Anders als für Paulus oder Matthäus stehen für Markus der νόμος und dessen Auslegung nicht im Zentrum von Theologie oder Ethik. Wichtig dagegen ist das Thema der Nachfolge (schon Mk 1,16-20), das Markus als Kreuzesnachfolge (Mk 8,34-9,1) im Horizont einer universalen Evangeliumsverkündigung (Mk 13,9-13; 14,9) versteht. Markus scheint primär mit einem Lesepublikum zu rechnen, das seine Wurzeln in der hellenistischen, vielleicht sogar hellenistisch-römischen Welt (Mk 15,39), d.h. jedenfalls außerhalb Palästinas hat, also eher „heidenchristlich“ geprägt ist.

3. Entstehungsort

Markus zeigt eine gute (z. B. Mk 1,21), aber nicht fehlerfreie (z. B. Mk 5,1) Kenntnis der Orte und Landschaften Galiläas. Dies könnte auf eine Komposition seiner Evangelienschrift im benachbarten syrischen Raum hinweisen, vielleicht sogar auf Pella, wohin die Jerusalemer Gemeinde nach 70 floh (Eusebius h e 3,5). Die Rom-Hypothese kann sich u.a. auf die patristische Tradition über Petrus und Markus stützen (s.o.), lässt aber offen, warum Markus z.B. bei römischen numismatischen Daten (Mk 12,42) ungenau ist (G. Theißen).

4. Wichtige Themen

In der synoptischen Forschung der letzten Jahre wurden besonders

  • Gattungsfragen (Mythos, aitiologische Erzählung, Biographie, personenzentrierte Historiographie: s. ZNT [2021]) diskutiert. In diesem Zusammenhang wurden der sprachliche und literarische Gestaltungswille des Markus herausgestellt sowie
  • Fragen zu seiner Erzähltechnik („episodischer Erzählstil“: G. Guttenberger; C. Breytenbach) erörtert.
  • Bei der theologischen Erschließung der frühesten Evangelienschrift stehen die Themen Nachfolge bzw. Jüngerschaft, Eschatologie und christologische Identitätsdiskurse im Vordergrund.
  • Umstritten bleibt die Frage, ob Markus ein „‚Antievangelium‘ zum Aufstieg der Flavier“ konzipierte (z.B. G. Theißen, S. 69; ZNT) oder einen von der Weltpolitik weitgehend unabhängigen Entwurf einer Zeitgeschichtsschreibung bietet (E.-M. Becker).

5. Besonderheiten

Markus erzählt eilig (Καὶ εὐθὺς: Mk 1,10.12 etc.). Er schafft eine Ereignisgeschichte (ἐγένετο: Mk 1,4 etc.), die nur wenige Wochen an erzählter Zeit umfasst (Mk 2,23; 14,1) und immer wieder Züge eines proklamatorischen Textes trägt, also nicht nur über die Verkündigung Jesu berichtet, sondern selbst auch verkündigt (Mk 1,1.14f.; 4,3ff.; 13,5bff.). Die Erzählung reicht vom erfolgreichen Wirken Jesu in Galiläa in Worten und Taten (bes. Exorzismen und Wundergeschichten) bis zu dessen augenscheinlichem Scheitern als Gekreuzigtem in Jerusalem. Obwohl Markus die Ostererscheinungen im Modus einer Ankündigung belässt – Jesus wird erst noch Petrus und den anderen Jüngern in Galiläa erscheinen (Mk 16,7) –, ist seine Evangelienerzählung von Anfang an eine Jesus-Christus-Geschichte (Mk 1,1; 8,29). Die Jesus-Christus-Erzählung wird in einer andauernden Spannung von Offenbarmachung und Verborgenheit Jesu (z.B. Mk 4,10-12), Verstehen und Missverstehen, Nachfolge und Verrat vorangetrieben, in die alle Erzählfiguren einbezogen sind (Jünger, Kranke, Dämonen, König Herodes, Kenturio etc.). Fand die ältere Forschung im MkEv eine „Messiasgeheimnistheorie“ (W. Wrede), führt die gegenwärtige Exegese die Spannung, in der die Identität Jesu enthüllt oder verhüllt wird, auf unterschiedliche christologische Vorstellungen und Titel zurück, die Markus der Tradition entnimmt und miteinander verknüpft. So liegt im christologischen Diskurs („Wer ist dieser?“ z.B. Mk 4,41) das Gravitationszentrum markinischer Theologie.

Literatur

  • Alkier, S./Paulsen, T. (2021), Die Evangelien nach Markus und Matthäus. Neu übersetzt. Frankfurter Neues Testament Bd. 2. Paderborn: Brill/Schöningh. (Zur Sprache und zum Stil des MkEv).
  • Becker, E.-M. (2017), Der früheste Evangelist. Studien zum Markusevangelium. WUNT 380. Tübingen: Mohr Siebeck. (Zu Fragen von Gattung und Geschichtskonstruktion).
  • Guttenberger, G. (2017), Das Evangelium nach Markus. ZBK.NT 2. Zürich: Theologischer Verlag. (Neuerer Kommentar)
  • Mortensen, J.P.B., ed. (2023), Genres of Mark. Reading Mark’s Gospel from Micro and Macro Perspectives. SANt 9. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. (Beiträge zu Markus im Rahmen der antiken Progymnasmata).
  • Strutwolf, H. et al. 2021. Editio Critica Maior (ECM) I. The Synoptic Gospels. 2 The Gospel According to Mark. Vol. 1–3. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft. (Große Ausgabe zur Texterforschung).
  • Theißen, G. (2002), Das Neue Testament. München: C.H. Beck. (Knappe Einführung in die Entstehung der Evangelien).
  • Themenheft Markusevangelium, in: ZNT 24, Heft 47 (2021). (Fragen zur gegenwärtigen Markusforschung).

A) Exegese kompakt: Markus 4,35-41

35Καὶ λέγει αὐτοῖς ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ ὀψίας γενομένης· διέλθωμεν εἰς τὸ πέραν. 36καὶ ἀφέντες τὸν ὄχλον παραλαμβάνουσιν αὐτὸν ὡς ἦν ἐν τῷ πλοίῳ, καὶ ἄλλα πλοῖα ἦν μετ’ αὐτοῦ. 37καὶ γίνεται λαῖλαψ μεγάλη ἀνέμου καὶ τὰ κύματα ἐπέβαλλεν εἰς τὸ πλοῖον, ὥστε ἤδη γεμίζεσθαι τὸ πλοῖον. 38καὶ αὐτὸς ἦν ἐν τῇ πρύμνῃ ἐπὶ τὸ προσκεφάλαιον καθεύδων. καὶ ἐγείρουσιν αὐτὸν καὶ λέγουσιν αὐτῷ· διδάσκαλε, οὐ μέλει σοι ὅτι ἀπολλύμεθα; 39καὶ διεγερθεὶς ἐπετίμησεν τῷ ἀνέμῳ καὶ εἶπεν τῇ θαλάσσῃ· σιώπα, πεφίμωσο. καὶ ἐκόπασεν ὁ ἄνεμος καὶ ἐγένετο γαλήνη μεγάλη. 40καὶ εἶπεν αὐτοῖς· τί δειλοί ἐστε; οὔπω ἔχετε πίστιν; 41καὶ ἐφοβήθησαν φόβον μέγαν καὶ ἔλεγον πρὸς ἀλλήλους· τίς ἄρα οὗτός ἐστιν ὅτι καὶ ὁ ἄνεμος καὶ ἡ θάλασσα ὑπακούει αὐτῷ;

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Übersetzung

35 Und er sagt zu ihnen an jenem Tag, als es dunkel wurde: „Lasst uns zum anderen Ufer hinkommen!“ 36 Und nachdem sie das Volk weggeschickt haben, nehmen sie ihn, wie er war, im Boot auf, und andere Boote waren bei ihm. 37 Und es kommt ein großer Sturmwind auf, und die Wellen schlugen ins Boot, so dass das Boot vollzulaufen drohte. 38 Und er selbst war auf dem Hinterdeck auf dem Kopfkissen und schlief. Und sie wecken ihn auf und sagen zu ihm: „Lehrer, kümmert es dich nicht, dass wir untergehen?“ 39 Und nachdem er aufgewacht war, bedrohte er den Wind und sagte zu dem Meer: „Sei still und bleibe stumm!“ Und der Sturm wurde müde, und es trat große Stille ein. 40 Und er sagte zu ihnen: „Was seid ihr verzagt? Habt ihr noch nicht Glauben?“ 41 Und es befiel sie große Furcht, und sie sagten zu einander: „Wer ist denn dieser, dass ihm sowohl der Wind als auch das Meer gehorchen?“

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V. 35 λέγει, V. 37 γίνεται, V. 38 ἐγείρουσιν, λέγουσιν: historisches Präsens wörtlich wiedergegeben.

V. 35: ὀψίας γενομένης – als Zeitangabe schon in Mk 1,32.

V. 38: τὸ προσκεφάλαιον – hapax legomenon im NT und auch in der Septuaginta kaum belegt (nur: Ez 13,18.20; 1 Esdr 3,8).

V. 39: γαλήνη μεγάλη – lautmalende (onomapoetische) Beschreibung für die eingetretene Stille: nur hier im NT und in den Paralleltexten (Mt 8,26; Lk 8,24).

V. 41: ἐφοβήθησαν φόβον μέγαν – figura etymologica.

2. Literarische Gestaltung

In Mk 4,35-41 endet ein langer Tag (4,1.35) im Leben Jesu: Am Seeufer des Galiläischen Meeres hatte Jesus teils zu seinem engsten Jüngerkreis (4,10-12; 4,34), teils zu einer größeren Volksmenge (4,1.35) in vielen Gleichnissen über die βασιλεία τοῦ θεοῦ („Königsherrschaft Gottes“) gesprochen (4,33). Nun bricht der Abend ein. Markus deutet die körperliche Erschöpfung Jesu an, wenn er ihn – anders als bei Matthäus und Lukas in den Paralleltexten dargestellt (Mt 8,24; Lk 8,23) – auf einem „Kopfkissen schlafend“ auf dem Hinterdeck des Bootes zeichnet (4,38). Offenbar kennt Markus das in der Logienquelle Q überlieferte Jesuswort nicht, dass der „Menschensohn nichts hat, wo er sein Haupt hinlege“ (Mt 8,20; Lk 9,58; vgl. auch das Thomasevangelium Logion 86). Markus gibt einen realistischen Einblick in einen Lebenstag des Jesus, der als viel umringter, teils bedrängter (z.B. 3,9) Lehrer und Wundertäter in Galiläa tätig ist. Doch dieser Tag ist noch nicht zu Ende: Die von Jesus selbst gewünschte Überfahrt zur anderen Seite des Sees führt die Jünger (und ihn) in eine lebensbedrohliche Situation, die ein Rettungswunder (G. Theißen/A. Merz) in Gestalt einer Sturmstillung nötig macht.

3. Kontext und historische Einordnung

Wo Jesus sich aufhielt und warum er zur anderen Seite des Sees aufbrechen wollte (4,35), wird nicht erklärt. Aus Mk 5,1 („Gebiet der Gerasener“) ergibt sich, dass die Gleichnisrede in Mk 4 am nordwestlichen Teil des Sees Genezareth/des Galiläischen Meeres – vielleicht in der Umgebung Kapernaums – gehalten wurde. Wer genau mit Jesus auf dem Boot ist, wird nicht gesagt: Es handelt sich wohl um den engsten Jüngerkreis (4,34), den Jesus gleich zu Beginn seines Wirkens sukzessive berufen (1,16-20) und dann als Zwölferkreis eingesetzt hatte (3,13-19). Weitere Boote begleiten das Boot, auf dem Jesus ist (4,36). Ob auch diese Boote in Seenot geraten, wird nicht geschildert. Markus erzählt auch diesmal knapp. Er knüpft dabei an die Bedeutung des Sees für den Lebensraum Galiläa an (G. Faßbeck u.a.). So präsentiert er den See Genezareth als wichtigen Schauplatz im Wirken Jesu (z.B. 5,21; 6,32.45): Am See hat Jesus alles getan, was sein Wirken im Anbruch der Königsherrschaft Gottes (1,14f.) ausmacht, nämlich: Jünger rekrutiert (1,16), gelehrt (2,13; 4,1ff.), Mahlgemeinschaft gehalten (6,32ff.), geheilt (3,9f.) und als Exorzist gewirkt (5,1ff.). In Mk 4,35ff. tritt nun die erste Naturwundererzählung hinzu, deren Vokabular in Teilen „dem einer Exorzismusgeschichte“ entspricht (J. Gnilka, 194 – vgl. 4,39 mit 1,25). War die Vollmacht Jesu (ἐξουσία) zuvor mit Lehre oder exorzistischem Handeln verbunden (z.B. Mk 1,27), wird sie nun auf die Beherrschung der Naturgewalten ausgeweitet. Auch wenn die Sturmstillung nicht im faktischen Sinne dem historischen Jesus zugeschrieben werden kann und zudem – wenn auch vergleichsweise sparsam (vgl. Apg 27,13ff.) – die Topik antiker Seenotgeschichten aufnimmt und bedient, ist die Erzählung geschichtlich plausibel, denn sie bildet die Lebenswirklichkeit Galiläas ab: Auf dem See Genezareth kommt es wegen großer Temperaturunterschiede zwischen Wasser und umgebendem Landgebiet vorzugsweise gegen Abend oder auch nachts zu teils heftigen Wirbelstürmen (vgl. W. Zwickel) mit Unwetterpotential. In diesem Lebensumfeld ist Sturmstillung zugleich Lebensrettung. Bei Platon (Leg. 791a) u.a. griechischen Autoren umschreibt γαλήνη („Meeresstille“) als meteorologisches Phänomen zugleich die innere Ruhe des Menschen („Seelenruhe“: s. P. Probst).

4. Schwerpunkte der Interpretation

Zu Jesu Ansage der Königsherrschaft Gottes gehören Wundertaten, mit denen der Gottessohn (1,9-11) Kranke heilt, Sünden vergibt, Dämonen austreibt und – nun erstmals – auch Macht über die Naturgewalten ausübt. Intertextuell erinnert Mk 4,35-41 an die Jonageschichte: Wie Jona schläft auch Jesus und wird im Sturm geweckt. Von einer Deutung des Schicksals Jesu im „Zeichen des Jona“ jedoch weiß Markus nichts (vgl. aber Lk 11,29ff.; Mt 12,39ff.). In Hinsicht auf Form und Funktion lässt sich die Erzählung als Naturwunder oder als Rettungswunder deuten: Bei einer Deutung als Naturwunder steht die Vollmacht Jesu über die Naturgewalten, ja sogar die kosmischen Gewalten (vgl. auch Mk 6,45-52; 13,24-27; 15,33) im Vordergrund; bei einer Deutung als Rettungswunder (G. Theißen/A. Merz) steht das rettungshandelnde Eingreifen Jesu im Zentrum der Interpretation. Motivisch gesehen veranschaulicht die Sturmstillung einerseits die ἐξουσία Jesu (4,41), andererseits den in Spannung zu Furcht, Verzagtheit oder Feigheit stehenden „Glauben“ (δειλός und φόβος versus πίστις: 4,40f.), den Markus als Zutrauen zu Jesus und seiner Evangeliumsbotschaft versteht (1,14f.; 2,5).

5. Von der Exegese zur Predigt

Theologisch betrachtet liegt in Mk 4,25ff. einerseits eine Jüngererzählung, andererseits eine Christuserzählung vor. Zwar können die Jünger Jesus nun als „Lehrer“ begreifen (G. Guttenberger), der sie in die „Geheimnisse der Königsherrschaft Gottes“ einführte (4,11.38). Doch selbst angesichts der Sturmstillung bleibt ihre „Furcht“ – ja, sie wird vom Erzähler sogar erst nach der lautmalerisch beschriebenen „Stille“ des Meeres aufgedeckt (4,41). So stehen „Angst, Verzagteit oder Furcht“ dem „Glauben“ der Jünger durchweg im Weg. Bis zum Ostermorgen wird die Furcht der Jünger und Jüngerinnen Jesu ihren Glauben lähmen und die Nachfolge gefährden (16,8). Als Christuserzählung verstanden läuft das Natur- bzw. Rettungswunder, das Jesu ἐξουσία im Höchstmaß zeigt, auf die Frage zu: „Wer ist denn dieser?“ Jesu Wirken stößt in der gesamten Evangelienerzählung auf Dauerzweifel. Was in 4,41 als furchtgeleitete Reaktion der Jünger zum Ausdruck kommt, macht das christologische Grundthema des Markusevangeliums schlechthin aus. Mit Fragen wie „Was ist das?“ (1,27) oder „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ (8,29) artikuliert der erste Evangelist den frühchristlichen Meinungsstreit über die Identität Jesu: Ist Jesus der auferstandene Täufer, der wiedergekommene Elia, der Sohn Davids, der König der Juden oder doch der Gottessohn – „Christus, der Sohn des Hochgelobten“ (14,61)? Nicht einmal unter dem Kreuz ließ sich dieser Streit entscheiden (15,20b-39). Markus zeigt schonungslos, wie besonders der engste Jüngerkreis aus Furcht, Hilflosigkeit und Schwäche andauernd im Miss- und Unverständnis verfangen ist. Die Jünger bleiben im Schrecken: Nicht einmal das Naturwunder führt sie zum Glauben.

Literatur

  • G. Faßbeck u.a. (Hgg), Leben am See Gennesaret: Kulturgeschichtliche Entdeckungen in einer biblischen Region (Mainz: Zabern, 2003).
  • J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 1-8,26) (EKK II/1. Zürich/Düsseldorf: Benziger, 19985).
  • G. Guttenberger, Das Evangelium nach Markus (ZBK.NT 2; Zürich: Theologischer Verlag, 2017).
  • P. Probst, „Seelenruhe. Antike“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 9 (1995), Sp. 94f.
  • G. Theißen/A. Merz, Wer war Jesus? Der erinnerte Jesus in historischer Sicht. Ein Lehrbuch (UTB 6108; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2023), § 11.
  • W. Zwickel, „See Genezareth”, in: WiBiLex.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Sturmstillung bietet schon rein erzählerisch viel Stoff – für den generationenüber­greifenden Gottesdienst genauso wie für gelehrte Reflexionen über das Wesen des Glaubens. ‚Stoff‘ im wahrsten Sinne des Wortes: Boote sind im Spiel, See, Wellen und, wie die Exegese betont und motivisch erklärt, selbst ein Kissen. Mit ihrer Bandbreite und ihren Details handelt es sich um eine der eindrücklichsten Erzählungen von Jesus, die auch Hörenden im Jahre 2025 bekannt sein dürfte. Samt der – Hand aufs Herz – eingespielten Art, das Drama auf Hoher See zu verstehen: als existenzielle Parabel darüber, wie man es selbst mit der Panik und der Seelenruhe hält, mit Angst und dem Glauben (=Vertrauen), angesichts des dann doch noch immer rechtzeitigen Wunders und Rettungseinsatzes Jesu. Die plastisch-drastische Ausmalung ‚unserer Lebensstürme‘ gibt es dann meist gratis dazu, die ganze Palette von Streit bis Krankheit.

Mir gefällt, dass die Exegese diesen ausgetretenen Rezeptionspfad fast schulterzuckend nüchtern in Frage stellt. Weil sie die gar nicht so triviale Formfrage (Rettungs- und/oder Naturwunder und/oder Exorzismus?) konsequent auf eine theologische Funktion zurückführt: Die Wunder-Rettungs-Tat steht im Dienst des Gravitationszentrums markinischer Theologie. Sie bereitet der Frage die Bühne: „Wer ist denn dieser, dass ihm sowohl der Wind als auch das Meer gehorchen?“ Diese Zuspitzung verheißt religiöse Spannkraft für die Predigt. Samt der Chance, etwas zu sagen, was noch nicht alle mit dieser Geschichte verbinden.

Dazu passt der exegetische Hinweis auf die parallele Seenot-Sequenz in der Jona-Novelle (Jona 1,3-16). Sie führt auf die Spur einer kleinen, aber potenziell gravierenden Variation im Verständnis der Sturmgeschichte. Im Kontext des Jonabuchs wäre der Sturm als „Naturkatastrophe“ völlig falsch klassifiziert (Jona 1,4.12). Jonas Verhalten, seine Flucht vor, seine Verbindung zu Gott stürzt die Schiffspassage in Seenot und Gefahr.

„Lehrer, kümmert es dich nicht, dass wir untergehen?“ Von der Parallele her schwingt in diesem Ausruf der Jünger neben Hoffen und Bangen auch Wut mit. Getrieben von der Ahnung, Elementargeschick und Retter seien miteinander verbunden, der Retter habe das Unwetter möglicherweise selbst in Kauf genommen – oder am Ende gar verursacht. Paradox: Je mehr ἐξουσία, je mehr Vollmacht man Jesus zuzuschreiben bereit ist, je näher man also dem Christus-Bekenntnis kommt, desto plausibler wird diese Ahnung. Desto schwerer fällt wohl auch die Antwort aufs: „Wer ist denn dieser?“

2. Thematische Fokussierung

Die Exegese charakterisiert Markus als ‚schonungslosen‘ Aufklärer, der das Unverständnis des Jüngerkreises auf „Furcht, Hilflosigkeit und Schwäche“ zurückführt. Für die Predigt kommt es darauf an, dieses scheinbare Unvermögen nicht als „Problem anderer“ abzutun oder per Einordnung in den frühchristlichen Meinungsstreit ruhigzustellen. Offensichtlich treibt Markus schließlich die Beobachtung um, dass gerade die überwältigende Erfahrung der Nähe und der Begegnung mit Christus, gerade die sich anbahnende christologische Einsicht tiefe Verunsicherung und Furcht zur Folge hat. Das ganze packende Erlebnis der Sturmstillung mündet in die Frage, „wer der denn sei“. Wind und Meer mögen wieder ruhig daliegen – die Frage bleibt, aufgepeitscht. Darum sollte es auch Dreh- und Angelpunkt der Predigt sein.

3. Theologische Aktualisierung

Mk 4,35-41 geizt nicht mit literarisch-narrativer Prägnanz: Der Kontrast von ‚großem Sturmwind‘ und ‚großer Stille‘, die theatralische Qualität wörtlicher Rede, die Verwendung der Präsensformen, die Personifikation von Meer und Sturm, die filmreife Bildfolge. Andererseits legt Markus eine erstaunliche dramaturgische Lässigkeit an den Tag, wenn er die Ereignisse der Kap. 3 bis 5 locker verbunden hintereinander wegerzählt, die Sturmstillung nach der Reihe der Gleichnisse. Und dabei erzählerische Lücken lässt: Wohin soll die Überfahrt gehen? Warum ist anfangs von mehreren Booten die Rede?

Mir kommt Ernest Hemingways Bonmot über das Schreiben von Kurzgeschichten in den Sinn: „Lässt du wichtige Dinge oder Ereignisse aus, die du genau kennst, wird die Geschichte stärker. Lässt du etwas aus oder überspringst es, weil du es nicht kennst, wird die Geschichte wertlos.“ Erzählungen profitieren von taktischer Lässigkeit. Wohl deshalb, weil das die Lesenden auf einem Mittelweg zwischen Luft und Lenkung hält, der ihre eigene Weltkompetenz aktiviert.

Auf Markus und die Predigt übertragen: Dem theologischen Ziel, das eigene Christusbekenntnis zu befragen, dienen Predigten, die den Lebensumständen der Hörenden Raum schaffen. Die mit ihnen gemeinsam eine Art wunder-bereiten Tunnelblick einnehmen, dem sich mehr zeigt als eine hübsche Beispielerzählung aus dem Motivkabinett der Antike. Die vielleicht wortwörtlich mutig weglassen, kurz bleiben, das Wesentliche den Hörenden überantworten.

Die exegetischen Indizien sprechen dagegen, zu diesem Zweck wahllos Not- oder Mangellagen aufzurufen und Glauben, wie ihn Markus meint, auf die Hoffung zu reduzieren, göttliche Errettung sei doch irgendwie möglich. Die Bildwelt von Sturm, Wogen und Rettung bleibt wegweisend: Wenige Lebenserfahrungen sind so zeitlos elektrisierend wie das Unbehagen darüber, ‚den Elementen‘ ausgesetzt zu sein, ob in einer realen Notsituation, als Landratte in stürmischer Fährfahrt oder als Passagier mit Flugangst. Nicht das statistische Risiko, sondern der (vermeintliche) Kontrollverlust schürt Panik. Als konkrete Erfahrung und als Menschheitsfrage: In wessen Gewalt befinde ich mich?

Mit Blick aufs Predigen weitergedacht: Wohl nirgends kollidiert das moderne Weltbild, alles sei letztlich berechenbar, so direkt mit biblischen Vorstellungen wie bei der Beschreibung „der Natur“. Gleichzeitig konfrontiert die ökologische Krise das menschliche Weltbeherrschungsparadigma eindrücklich mit der Erfahrung des Kontrollverlusts. Von der freilich auf etlichen Feldern gesprochen wird, „sicherheits“-politisch, ökonomisch etc., teils manifest, teils herbeigeredet, oft politisch ausgeschlachtet.

Die Predigt zur Sturmstillung kann genuin theologische Beiträge dazu ausloten. Zum Beispiel: Als die ersehnte große Stille eintritt, ja, als buchstäblich ein Wunder eingetreten ist, hat sich die Krise für die Jüngerschaft noch nicht erledigt. Eine grundlegende, gewissermaßen vielversprechende Unsicherheit tritt hervor. Die Frage danach, wer das Sagen hat. In der sich wiederum Fragen nach Mächten, nach Anerkennung, nach der Nähe Gottes/Christi auftun. Ich bin überzeugt, dass mit der Tiefe dieser Fragen auch etwas von dem Vertrauen aufblitzt, das trägt, wenn alles verhallt. Wenn die Predigt das antippt, hat sie ihr Ziel aus meiner Sicht voll erreicht.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Kirchenjahreszeitlich herrscht am „4. Sonntag vor der Passion“ Zwischensaison. Darauf weist schon der etwas unglückliche buchhalterische Name des Sonntags hin, der nur bei spätem Ostertermin in die Lücke zwischen die verglimmte (Epiphanias‑)Zeit und die (Vor-)Passionssonntage tritt. Je nach Ausgang mag die Präsidentschafts-Inauguration in den USA in diesen frühen Februartagen das mit Abstand gemütsprägendere Moment sein.

Eine klare inhaltliche Kontur verdankt der Sonntag vor allem seinen bemerkenswerten (Lese-)Texten (Gen 8,1-12; Ps 107; Jes 51,9-16; Mt 14,22-33; Mk 5,24b-34; 2. Kor 1,8-11). Sie thematisieren Spielarten des Verhältnisses zwischen Gottes Macht und Elementargewalten. Letztere spielen je nach Akzent ihre Rolle als Werkzeug, Spielball oder Gegenüber Gottes. Das ist interessant für die Auswahl des/der Lesungstexte/s und möglicherweise auch ein zusätzlicher Referenzpunkt für die Predigt.

Der leider nicht ins EG aufgenommene Wochenpsalm 107 ist – ganz auf dieser Linie – eine Wucht. Die Auswahlverse 1–2.23–32 liefern eine spannende, anspruchsvolle Seefahrts-Reportage, die auf ihre Weise mit Mk 4 in den Dialog tritt. Zum Lesen im versweisen Wechsel eignet sich der Psalm kaum, umso besser als liturgische Lesung, vielleicht mit gesungenem oder gesprochenem Leitvers. Dass Mk 4 auf unser Fragen und Bekennen ausgeht, könnte auch liturgisch Spuren hinterlassen. Vielleicht findet das Bekenntnis an diesem Sonntag seinen Ort nach der Predigt? Vielleicht sagen/lesen zwei, drei Menschen aus der Mitte der Gemeinde heraus ihre Antwortversuche auf die Frage, wer dieser (Christus) sei?

5. Anregungen

Predigten gehen am Ende oft glatt auf. Mit einer Zusage, Ermutigung, wohltemperierten Schlussthese. Egal wie verbreitet die Einsicht ist, dass die Predigt sinnvoll erst in den Hörenden zum Schluss kommt, dass die wirksamsten Texte offene Texte sind und von Gott niemals abschließend gepredigt wird: Offene Enden sind für Predigende schwer auszuhalten. Markus traut sich das: lose Enden. Seine Erzählung von der Sturmstillung endet mit einer offenen, ja, mit einer Furcht-geprüften Frage. Mit der das Evangelium nach Markus, auch darauf weist die Exegese hin, bis zum eigentlich letzten Vers (Mk 16,8) nicht zu Ende kommt.

Davon inspiriert diese Schreibübung. Sie folgt dem Jeopardy!-Prinzip, also: dem Prinzip des umgekehrten Quizzes.

Schreibe zunächst eigene Bekenntnis-Sätze dazu auf: Wer Jesus ist. Was Jesus auszeichnet. Was Jesus bedeutet. Formuliere dann Fragen der Predigt-Hörenden, Fragen aus gegenwärtigen Diskursen, Fragen aus der Kirche etc., für die diese Sätze Antworten sein könnten. Mit oder ohne diese Übung: Gut, wenn die Predigt zu Mk 4,35-41 das (Un‑)Verständnis Christi zu einer Sache macht, die wirklich auf dem Spiel steht.

Autoren

  • Prof. Dr. Eve-Marie Becker (Einführung und Exegese)
  • Dr. Peter Meyer (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500096

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