Johannes 18,28-19,5 | Judika | 06.04.2025
Einführung in das Johannesevangelium
Das Johannesevangelium ist wie ein Fluss, in dem ein Kind waten und ein Elefant schwimmen kann.
Robert Kysar
Das Evangelium „nach Johannes"
Joh ist wie Mk eine kerygmatische Erzählung vom Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu, d.h. ein Evangelium
Joh enthält eigentümliche Stoffe (Prolog, Abschiedsreden, ausgedehnte Reden und Dialoge Jesu mit Nikodemus, der Samaritanerin oder Pilatus), Erzählungen wie das Weinwunder (Joh 2), Lazarus (Joh 11), die Fußwaschung (Joh 13). Wichtige synoptische Stoffe (z.B. Geburtsgeschichten, Gleichnisse, Bergpredigt, Endzeitrede) fehlen. Die Tempelreinigung (Joh 2,13-22) ist aus dem Passionskontext an den Anfang umgestellt, der Todesbeschluss des Hohen Rates (Joh 11,45-54) erfolgt ebenfalls schon vor der Passion als Antwort auf die Lazarus-Erweckung. Dies weist auf eine bewusste Umgestaltung der älteren Jesusüberlieferung hin, die auch geschichtliche Sachverhalte in großer Freiheit anders erzählt. Dies zeigt sich auch in der anderen Sprache Jesu, die im Grunde die Sprache aller anderen Figuren und des Autors ist. D.h., auch in Jesu Worten und Reden spricht faktisch der joh Autor.
1. Verfasser
Das „Evangelium nach Johannes“ ist wie alle kanonischen Evangelien anonym überliefert. Die Überschrift ist im 2. Jh. nachgetragen. Traditionell wurde es ab dem späten 2. Jh. dem Apostel und Zebedaiden Johannes zugeschrieben, der mit der Figur des „Jüngers, den Jesus liebte“ (Joh 13,23) identifiziert wurde. Diese Zuschreibung ist erklärlich, weil man diesen ‚Lieblingsjünger‘ (LJ) mit dem ‚unbekannten‘ zweiten Jünger aus Joh 1,35-40 identifiziert hat und (aufgrund von Mk 1,16-20 oder Apg 3-5
Aufgrund von Stoff, Sprache und erzählerischer Gestalt ist allerdings höchst unwahrscheinlich, dass der galiläische Fischer im hohen Alter das Werk verfasst hat. Und selbst wenn er der Autor wäre, wäre schwer erklärlich, warum es sich von der älteren Tradition so unterscheidet.
Nur das wohl als ‚Nachtrag‘ angefügte Kapitel 21 führt die Abfassung auf den LJ zurück, in Joh 1-20
Schriftzitate und Anspielungen belegen eine gute Kenntnis des AT, das aber höchst selektiv benutzt wird. Analog ist auch für die übrigen Traditionen eine sehr eigenständige Verwendung anzunehmen. Nichts ist nur ‚abgeschrieben‘, Joh 20,30f bezeugt eine bewusste Auswahl des Autors aus den ihm verfügbaren Stoffen. Daraus folgt aber: Die Eigenständigkeit in Stoff und literarischer Ausgestaltung belegt keine ‚Unabhängigkeit‘ von der synoptischen Tradition. Jede Rekonstruktion schriftlicher Quellen (z.B. einer ‚Semeia‘-Quelle mit Wundergeschichten oder eines eigenen Passionsberichtes) ist m.E. unmöglich, doch sind neben den Synoptikern (v.a. Mk) mündliche und schriftliche Gemeindetraditionen anzunehmen, die aber alle eigenständig umgestaltet sind. Der Autor kennt das Mk (wie z.B. die Anspielungen auf die Gethsemane-Episode in 12,27f; 14,31 und 18,11 zeigen) und setzt die Kenntnis auch bei seinen Lesern voraus (s. 3,24), evtl. kennt er auch Lk oder Stoffe daraus, eine Kenntnis des Mt ist nicht zu belegen. Er ist gleichfalls vertraut mit jüdischen Bräuchen und wohl auch mit Gegebenheiten in Jerusalem. Vielleicht ist er ursprünglich ein Palästiner, der dann im Zuge des jüdischen Krieges nach Kleinasien kam.
2. Adressaten
Das Joh ist wohl in Gemeindekreisen entstanden, die auch in 1-3Joh
Nach den Abschiedsreden erscheinen die Adressaten selbst verunsichert ‚in der Welt‘, so dass Jesu Wort und das ganze Joh im Durchgang durch die Geschichte Jesu eine Antwort darauf bietet. Zugleich ist das Joh nicht nur als konkretes Wort an einen begrenzten, gar ‚sektiererisch‘ abgeschlossenen Gemeindekreis zu lesen, vielmehr zielt es auch auf Lesende in einem weiteren Rahmen, ja auf die Welt der Bücher, wenn es in 1,1 die Genesis überbietend aufnimmt und in 21,25 mit einem Hinweis auf viele Bücher endet.
3. Entstehungsort
Die Herausgabe des Evangeliums wird seit der altkirchlichen Tradition in Ephesus
4. Wichtige Themen
Wichtige Themen der exegetischen Interpretation sind die hohe Christologie: Jesus ist der eine Offenbarer Gottes, ja er ist ‚Gott‘. Er gibt Leben, gibt den Geist. Sein Tod ist ‚Vollendung‘ der Schrift und des Willens Gottes (19,30), seine Sendung (ans Kreuz) der Erweis der ‚Liebe‘ Gottes zur Welt (3,16). Auffällig ist die ‚Vergegenwärtigung‘ der Eschatologie
5. Besonderheiten
Das Joh will, dass seine Leser:innen besser und tiefer verstehen. Diesem Ziel dient die literarische Ausgestaltung durch ein eine Vielzahl literarischer Gestaltungsmittel: die Vor-Information durch den Prolog lässt die Leserschaft stets ‚wissender‘ sein als die textlichen Figuren, deren ‚dumme‘ Fragen oft Verwunderung auslösen. Die Wundergeschichten sind durch textliche Verweise so ausgestaltet, dass sie nie nur als Bericht eines vergangenen Ereignisses gelesen werden können, sondern stets auf das Ganze des Heilsgeschehens bezogen sind. Explizite und implizite Erzählerkommentare und Erläuterungen lenken den Blick auf textliche und theologische Bezüge. Narrative Figuren bieten Identifikationsangebote und provozieren durch ihre Ambivalenz zur Stellungnahme. Miteinander vernetzte, z.T. breit symbolisch ausgestaltete Metaphern (wie Wasser, Brot, Hirte, Weinstock, aber auch Geburt, Familie, Tempel, Garten) verstärken das Wirkungspotential des Textes und laden die Lesenden ein, ihn „zu bewohnen“ (Ricœur). Als subtiler literarischer Text spiegelt das Joh nicht nur die hohe Kunst seines Autors, sondern wurde selbst zur Weltliteratur.
Literatur:
- Meyers KEK: Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, Göttingen 2016; C.K:Barrett, Das Evangelium nach Johannes, Üs. H. Balz (KEK Sonderband), Göttingen 1991.
- Martin Hengel, Die johanneische Frage, WUNT 67, Tübingen 1993.
- Jörg Frey, Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den johanneischen Schriften 1, WUNT 307, Tübingen 2013: https://www.mohrsiebeck.com/buch/die-herrlichkeit-des-gekreuzigten-9783161527968?no_cache=1
- Francis Moloney, The Gospel According to John, Sacra Pagina 4, Collegeville MN 1998; Marianne Meye Thompson, John: A Commentary, NTL, Louisville KN 2015.
A) Exegese kompakt: Johannes 18,28 – 19,5
Der Prozess um Jesus findet statt: einst vor Pontius Pilatus, und weiter im ‚Welttheater‘. Was ist Wahrheit? Wer redet Wahrheit? Wo begegnet sie uns? Johannes weist auf das geschundene Angesicht Jesu, das freimütige Zeugnis des Gefangenen, die Liebe des wahren Königs.
Übersetzung
28 Sie führten (nun) Jesus von Kaiaphas zum Prätorium. Es war aber früh [am Morgen], und sie gingen nicht in das Prätorium hinein, damit sie nicht verunreinigt würden, sondern das Passa essen könnten.
29 Da kam Pilatus heraus zu ihnen und sagte: „Welche Anklage bringt ihr gegen diesen Menschen vor?“ 30 Sie antworteten und sagten zu ihm: „Wenn dieser nicht ein Übeltäter wäre, hätten wir ihn dir nicht ausgeliefert.“ 31 Da sagte Pilatus zu ihnen: „Nehmt ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz.“ Die Juden sagten zu ihm: „Wir dürfen niemand töten.“ 32 So sollte das Wort Jesu erfüllt werden, das er gesprochen hatte, um anzuzeigen, durch welche Todesart er sterben sollte.
33 Da ging Pilatus wieder in das Prätorium und rief Jesus und sagte zu ihm: „Bist du der König der Juden?“ 34 Jesus antwortete: „Sagst du das von dir selbst aus, oder haben andere dir [dies] über mich gesagt?“ 35 Pilatus antwortete: „Bin ich etwa ein Jude? Dein Volk und die Hohepriester haben dich mir ausgeliefert. Was hast du getan?“ 36 Jesus antwortete: „Meine Königsherrschaft ist nicht von dieser Welt. Wenn meine Königsherrschaft von dieser Welt wäre, würden meine Diener dafür kämpfen, dass ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Doch nun ist meine Königsherrschaft nicht von hier.“ Pilatus sagte zu ihm: „So bist du also doch ein König?“ Jesus antwortete: „Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme.“ 38 Pilatus sagt zu ihm: „Was ist (schon) Wahrheit?“
Und als er das gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus und sagte zu ihnen: „Ich finde keinen Grund (zur Verurteilung) an ihm.“ 39 Es ist aber ein Brauch bei euch, dass ich euch einen (Gefangenen) freilasse am Passafest. Wollt ihr nun, dass ich euch den König der Juden freilasse?“ Da schrien die Juden wieder und sagten: „Nicht diesen, sondern Barabbas“. Barabbas aber war ein ‚Räuber‘. 19,1 Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. 2 Und die Soldaten flochten einen Kranz von Dornen und setzten ihn ihm auf den Kopf und warfen ihm einen purpurroten Mantel über und kamen zu ihm und sagten, „Zum Gruß, Judenkönig!“, und gaben ihm Ohrfeigen. 4 Und Pilatus kam wieder heraus und sagte zu ihnen: „Seht, ich führe ihn euch heraus, damit ihr seht, dass ich keinen Grund (zur Verurteilung) an ihm finde“. 5 Da kam Jesus heraus und trug den Dornenkranz und den purpurroten Mantel. Und er sagt zu ihnen: „Sieh, der Mensch!“
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
28 Ἄγουσιν Subjekt sind die Hohepriester
28 πραιτώριον Prätorium: der Sitz des Statthalters
31 οἱ Ἰουδαῖοι „die Juden“ hier im Sinne der Oberen, der Vertreter der hohepriesterlichen Aristokratie
31 ἀποκτεῖναι töten, hier das Todesurteil fällen und vollstrecken
40 λῃστής Räuber: der auch nach Josephus von den Römern gebrauchte Begriff für (zelotische) Freiheitskämpfer; heute etwa „Terrorist“.
19,5b καὶ λέγει Wer hier spricht, ist sprachlich unklar. Zuvor ist Jesus Subjekt. Spricht hier Pilatus (wie meist konjiziert wird; vgl. V. 11), oder spricht evtl. sogar Jesus?
19,5b ὁ ἄνθρωπος „der Mensch“ – die Wiedergabe „welch ein Mensch“ (Luther-Übers.) ist unbegründet. Es ist kein Akzent auf die Qualität des Menschseins Jesu gelegt.
2. Literarische Gestaltung
Der Prozess vor Pilatus (Joh 18,28–19,16a
Die ganze Darstellung ist doppelbödig gestaltet. Vordergründig geht es um die Schuld Jesu im Sinne der Anklage. Die Ankläger wollen von Pilatus ein Todesurteil erwirken. In diesem Sinn ist Jesus für Pilatus klar unschuldig: Er ist kein Freiheitskämpfer, kein politisch ernst zu nehmender Königsanwärter. Hintergründig geht es um die Wahrheit der Identität Jesu und seines ganz anderen Königtums, die Pilatus nicht verstehen kann, die die Leserschaft aber verstehen soll. Diesem Ziel dient auch die ironische ‚Königsparodie‘: Jesus wird verkleidet mit Dornenkranz und rotem Mantel, empfängt spöttische Huldigung und zugleich – damit die Ironie klar ist – Ohrfeigen. In dieser ironischen Verkehrung soll den Lesenden die hinter dem augenfälligen Geschehen liegende tiefe Wahrheit des Königtums Jesu aufleuchten.
3. Kontext und historische Einordnung
In 18,28b und 19,21 zeigt sich die joh Passionschronologie, die sich von der synoptischen unterscheidet. Jesus feiert hier kein Passamahl
Die Ankläger Jesu sind die hohepriesterlichen Volksführer, die z.T. mit dem generalisierenden Terminus οἱ Ἰουδαῖοι (die Juden) bezeichnet werden.Die Volksmenge ist von ihnen beeinflusst. Sie – bzw. der Hohe Rat (Synhedrium) – haben schon Joh 11,46–54 aus Macht-Erwägungen das Urteil über Jesus gefällt, das sie nun mit einer politisch brisanten Anklage von der römischen Macht bestätigt und ausgeführt haben wollen. In Judäa unter der Herrschaft der Römer hatte allein der Präfekt die Kapitalgerichtsbarkeit, nicht jüdische Instanzen. Todesurteile konnte nur Pilatus fällen bzw. bestätigen (V. 31). V. 32 erläutert eigens, dass mit der Überstellung an Pilatus die römische Form der Todesstrafe, die Kreuzigung, entschieden ist, die zuvor in Jesu Worten angekündigt worden war (Joh 12,32f.), darauf wird zurückverwiesen.
Ob der historische Pilatus der causa Jesu wirklich persönliche Aufmerksamkeit gewidmet hat, ist offen. Im Joh wird er einerseits entlastet, da er wider seine Überzeugung Jesu Hinrichtung bewilligt, doch liegt die juristische Verantwortung doch bei ihm. Auf der theologischen Ebene wichtig ist, dass er als der oberste Richter eine quasi-offizielle Bestätigung der Unschuld Jesu bietet (wie in 11,50-52 der Hohepriester ex officio die Gültigkeit des Selbstopfers Jesu bekräftigt). Joh legt beiden Amtsträgern die entscheidenden Worte in den Mund.
Was ist der Sinn der Geißelung in 15,1? Diese ist – völlig unüblich – in der Mitte des Prozesses erzählt. Körperliche Misshandlungen gab es sonst a) als Folter, um Geständnisse zu erpressen, oder b) als Misshandlung des Verurteilten nach dem Urteil, vor der Exekution. Beides trifft hier nicht zu. Will Pilatus das Mitleid der Ankläger erregen, sie zum Einlenken bringen? Der Sinn der Szene ist nur literarisch zu verstehen – die Mitte der Komposition bietet den inhaltlichen Schlüssel: Es geht für Joh um die Wahrheit des Königtums Jesu.
4. Schwerpunkte der Interpretation
Die Figur des Pilatus ist schillernd gezeichnet. Einerseits ist er ein Mann der Macht und der politischen Realität. Die religiösen Argumente der Juden interessieren ihn nicht: Sollen sie ihre Probleme doch selbst lösen! (V. 35). Ein „König“ wie Jesus ist für ihn ungefährlich, allenfalls ein Narrenkönig – also unschuldig. Wahrheit
In 18,36f geht es zentral um Jesu Königsherrschaft. Kann ein so einfacher, armseliger Mensch ein König
„Was ist Wahrheit?“ Pilatus fragt nicht in philosophischem Interesse, sondern in skeptischer Ablehnung: „Was ist schon ‚Wahrheit‘?!“ Geschwätz, von allen zu ihren Gunsten verdreht, nichts Handfestes. Er will und kann diese Wahrheit nicht hören. Er „ist nicht aus der Wahrheit“ (18,37). Für Joh geht es bei dieser Wahrheit aber nicht um Richtigkeiten, nicht um zuverlässige Information, sondern um die Wahrheit Gottes, die in Jesus, seiner Inkarnation und seinem Kreuzesweg manifest geworden ist. Für diese Wahrheit steht Jesus ein, er „ist“ die Wahrheit. Hier ist es eine Wahrheit, die nicht ‚bezwingt‘, sondern frei macht (Joh 8,35), die Menschen zu sich selbst, zum Grund ihrer Existenz führt, existentielle Wahrheit. Diese leuchtet auf, auch wo sie von Mächten der Welt niedergehalten wird, paradox gerade in Niedrigkeit und Leiden
Die kleine Barabbas-Szene ist ein Miniaturbild zur „Stellvertretung“. Der Unschuldige ist und bleibt unter falscher Anklage gefangen, der ‚Terrorist‘ wird freigelassen. Schon zuvor hatte Jesus bei seiner Gefangennahme den freien Abzug für seine Jünger erwirkt (Joh 18,8f.). „Ecce homo“: Auch dieser Satz ist Ausgangspunkt vieler Spekulationen. Wenn Pilatus Jesus so proklamiert, was will er sagen: Meint er: „nur ein Mensch“, also ungefährlich, unschuldig? Will er Mitleid erwecken? Für Joh ist eine tiefere Dimension impliziert: Jesus ist (auch) wahrer Mensch, der real litt und real starb. Jede (pseudo-spirituelle) Spekulation, die dies negiert, vom Überleben der Kreuzigung oder einem ‚zweiten Leben‘ Jesu schwadroniert, ist historisch und theologisch Unfug. Jesus ist aber auch exemplarischer Mensch, wie Gott ihn gemeint hat, dessen Weg und Liebe zur Imitation einlädt (Joh 13,34f.). Sein Menschsein zeigt sich in seinem Abgelehntsein, seinem Verspottetwerden, seinem geschändeten Angesicht. Lieder der Passionsmeditation haben das formuliert: „Du edles Angesichte…, wie bist du so bespeit…“ (EG 85)
5. Von der Exegese zur Predigt
Eine Predigt über diesen Teil der Pilatusperikope kann an der Figur des Pilatus ansetzen, seinem Schwanken, Getriebensein, seiner Angst, seiner Ungerechtigkeit als Richter – und dies dann gegenüber Jesus kontrastieren. Ein anderer Ansatzpunkt beim Zuschnitt der Predigtperikope wäre von dem „Siehe, der Mensch!“ auszugehen. Dabei geht es nicht um das Staunen, was für ein großartiger, eindrücklicher, in „steter Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins“ subsistierender Übermensch Jesus war. Die Hochglanz-Ästhetik wird auf den Kopf gestellt. Der Mensch ist im Angesicht des Geschundenen, Verhöhnten, Geschlagenen zu sehen. Eben darin ist das Zeugnis einer Wahrheit, die anders, tiefer und Resilienz fördernder ist als die Wahrheiten der Welt, einer Kraft, die stärker ist als die Macht der Mächtigen. Hier ist Kreuzestheologie vor Augen geführt: Im Kreuz sind die Maßstäbe der Welt umgekehrt. Und doch ist dieser Glaube in der Tiefe wahr.
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Christus – ein König?
Christus als König zu betrachten, fällt mir nicht leicht. Bei Königen denke ich an vergangene Epochen und auch an solche Gestalten, die nicht in erster Linie meinem Jesusbild entsprechen. Ich wüsste nicht, wann ich je in meinen Gebeten Christus als „König“ angeredet habe.
Hinzu kommt, dass viele von uns – und zu Recht! – in den vergangenen Jahren in Blick auf das Thema „Macht“ und „Machtmissbrauch“ bereits in einer Weise sensibilisiert sind, dass wir bei Herrschaftsansprüchen mehr als vorsichtig sind. Das gilt für mich auch im Blick auf heutige Könige: Auch wenn die medial gehypten Königshäuser der Nachbarländer harmlos sind und sich mitunter großer Beliebtheit erfreuen – ich selbst schaue keine Königshochzeiten und Krönungszeremonien im Fernsehen an, da sie für mich mit einer Überhöhung einer bestimmten Tradition einhergehen.
Doch will ich auch nicht leugnen, dass mich die fiktiven Könige – und Königinnen – durchaus reizen. Da gab es bereits einige gute Serien in den letzten Jahren, die Könige und Reiche und Macht und Machtmissbrauch spannungserzeugend umgesetzt haben. Das führt sogar dazu, dass diese joh Passionsszene, wenn ich sie mir vor Augen führe, stark davon beeinflusst ist: Ich kann mir genau vorstellen, wie Jesus zu Pilatus – kein König, aber ein ziemlich mächtiger Mann – geführt wird bzw. wie Jesus diesen langen Gang – für mich ist er lang – in einem dunklen – so stelle ich ihn mir vor – Palast abschreitet (obwohl es ja eigentlich ein Prätorium ist, das aber vielleicht auch einen langen dunklen Gang haben könnte…), hin zu dem, der über sein Leben oder seinen Tod entscheidet. Der Dialog erinnert mich an die gut geschriebenen Dialoge meiner Serien über berechtigte oder unberechtigte Machtansprüche der Könige und analog Mächtigen. Spricht diese Lust an den – auch überaus gewaltvoll-inszenierten – Kämpfen um die Herrschaft in den Serien aber nicht auch umso mehr dafür, dass ich Jesus nicht mit dem Königtum in Verbindung bringen will?
Mächtiger Machthaber oder ohnmächtiger Vollstrecker?
Und wenn es uns schon reizt, uns mit den Mächtigen zu beschäftigen, einige von uns gar eine gewisse Faszination für sie haben – was machen wir dann mit Pilatus? Seine Rolle war, ist und bleibt unklar. Was wir sagen können: Er hat Macht inne und will diese auch behalten und riskiert bestimmt nicht, dass er andere verärgert. Er fragt noch einmal – halbherzig? – nach, nur ein einziges Mal. Ein bisschen mehr Rückgrat zeigen – das würde man sich von diesem Beamten wünschen, der dann doch viel politische Entscheidungsgewalt hat. Vielleicht erinnert er mich daher am meisten an die Mächtigen meiner Serien, bei denen ich mich frage, ob sie einfach nur grausam sind oder doch noch Menschlichkeit erkennen lassen und auch zulassen. Stand er, der „Böse“ meiner Serie, womöglich nur kurz davor, seine Entscheidung zu revidieren? Gibt es etwas, das ihn doch angeht, gar berührt? Das Drehbuch ist geschrieben, der Autor hat sich etwas bei den Figuren gedacht, aber gute Serien und Filme, so meine ich, zeigen die Ambivalenzen eines Charakters auf, beziehen Entwicklungen ein und lassen den Zuschauenden ganz genau hinschauen, was es mit ihm auf sich hat.
2. Thematische Fokussierung
Könige gibt es noch und mächtige Herrscher*innen sind gewollt. Vom kindlichen Spiel, gerne König:in zu sein, bis hin zu der politischen Wahl der (vermeintlich) Mächtigen, die den (vermeintlich) schwachen Strukturen etwas entgegensetzen will.
Mit Blick auf die Perikope ist Jesus Christus nun als der ganz andere König zu thematisieren – aber dennoch als König, denn das wird bei Joh laut der Exegese besonders deutlich und entsprechend gestaltet. Daher wird es darum gehen, was für ein König er ist. Welche „klassischen“ Königsprädikate finden sich – oder anders ausgedrückt: In welcher Weise zeichnet er sich als ein König aus, den wir mit unseren Bildern von Königen verbinden?
3. Theologische Aktualisierung
Wer will schon schwache Herrscher?
Herrscher sind beliebt und Herrscher sollen herrschen, Führungspersönlichkeiten sollen sich als solche erweisen, auch gegenüber denen, die sie in Frage stellen, und gegenüber denen, die sie als solche akzeptieren. Die Mächtigen müssen kritisch auf ihren Machtgebrauch hin befragt werden, aber wenn sie gerecht handeln, müssen ihnen die entsprechenden Machtmittel auch zur Verfügung stehen.
Keiner will einen „schwachen“ Herrscher, wie z. B. Pilatus einer ist, der sich – womöglich entgegen seiner eigenen Einschätzung – dem Willen der anderen unterordnet. Oder – mit einem Blick für die Ambivalenzen, die seine Rolle und Funktion prägen und womöglich auch ihn selbst, als Menschen – zumindest nicht stark genug ist, weiter zu fragen.
Ein starker König
Ich weiß mich in einer Tradition beheimatet, die Gottes Sohn auch als ohnmächtigen Menschen in den Fokus der theologischen Reflexion und auch des individuellen Glaubens stellen kann. Wie nah er uns sein kann, wird schließlich hierin deutlich: in Leid und Schmerz, in Kraftlosigkeit oder in der Verachtung durch andere, wenn wir Schwäche zeigen. Wenn wir letztere spüren, verletzt es zusätzlich. Hier aber, gerade bei Johannes, wird mir auch die Stärke, die Macht dieses Königs bewusst. Wiederum kann ich es mir genau vorstellen: Selbstbewusst, mit klaren Worten und starker Stimme proklamiert Jesus das Königsein für sich. Souverän stellt er sich dem Machthaber. Ja, er ist der König. Als Zuschauer der Szene bin ich überzeugt: Dieser dort, er sollte König werden! Ich spüre, dass dieser Anspruch gerechtfertigt ist, bin damit sicherer als der Zuschauer einer fiktiven Serie über Königreiche, der nicht weiß, wie lange die Sympathie für denjenigen, der den Machtanspruch erhebt, aufrecht zu halten ist (und ob er die Staffel überlebt…). Das machtvolle Auftreten Jesu könnte heute, mit Johannes, in einer Predigt in den Vordergrund gerückt werden. Als Leserin oder Hörerin der johanneischen Passionsgeschichte bzw. als Zuschauerin der literarisch ausgestalteten Szene will ich ihn als König sehen – doch als Glaubende sehe und erkenne ich noch etwas anderes. Jesus wählt starke Worte. Er weiß, was er ist. In dieser Hinsicht ist er noch vergleichbar mit den Mächtigen der echten oder fiktiven Welt, die wir für ihre Souveränität bewundern. Der Vergleich kommt dann an seine Grenzen, wenn im Glauben erkannt wird, dass Jesus nicht nur starke Worte wählt, sondern, dass er das Wort ist. Gesagt zu uns, um uns in unserer Schwäche anzunehmen und stark zu machen. Der Vergleich kommt auch deshalb an die Grenzen, da Jesus nicht nur Wahres ausspricht, sondern die Wahrheit ist, und den erkennenden Glaubenden gerade hierin leitet. Der eigene Einsatz und d. h. Worte weiterzutragen, die von der „Liebe des wahren Königs“ (s. o.) handeln, und Wahrheit auszusprechen – z. B. gegen falsche Machtansprüche –, sind Konsequenzen des Glaubens an diesen König. Die bewundernde Aussage „Der sollte König werden!“, die ich auch schon anderen zugesprochen habe (z. B. vor dem Fernseher), will ich noch einmal umformulieren: „Er sollte mein König werden!“ Vielleicht spreche ich ihn nun doch einmal so an.
4. Bezug zum Kirchenjahr
„Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben als Lösegeld für viele.“ (Mt 20,28)
Der Wochenspruch rückt noch einmal auf eine andere Weise in den Blick, was wir von dem einen, dem wahren und zugleich anderen König erwarten: Er nutzt seine Macht, um zu dienen. Er hat zudem die Macht inne, die ein anderes Reich in unserem irdischen aufbauen lässt und das von Frieden bestimmt ist. Anders als andere Machthaber zieht er dafür die radikale Konsequenz, die ihn jede irdische Macht verlieren lässt.
5. Anregungen
Diese Gottesdienstfeier kann eine Vielzahl an pracht- und machtvollen Königsbildern inszenieren, um den wahren König zu betrachten. Ermutigt werden kann zu Liedern, die den machtvollen Gott loben. Das schließt machtkritische und machtdiskurssensible Dimensionen – und ihre Thematisierung im Gottesdienst – nicht aus. Mit der Gemeinde den wahren König zu entdecken, lässt nicht nur den Blick auf Machtmissbrauch zu, es offenbart vielmehr auch Möglichkeiten, die eigene Macht zunächst einmal wahrzunehmen. Die selbst entdeckten vermeintlichen oder wahren Schwächen und die, die einem zugeschrieben werden, können dieser Macht nichts anhaben. Das Motto eines solchen Gottesdienstes heißt vermutlich Empowerment.
Autoren
- Prof. Dr. Jörg Frey (Einführung und Exegese)
- Dr. Sabine Joy Ihben-Bahl (Praktisch-theologische Resonanzen)
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