Judasbrief
Andere Schreibweise: Brief des Judas; engl.: Letter of Jude; Epistle of Jude
(erstellt: März 2016)
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1. Ein Brief scheinbarer Widersprüche: Hohe literarische Sprachgewalt und scharfe Gegnerpolemik
1.1. Gattung „Brief“
Mit seinen 25 Versen ist der Judasbrief (Jud) nach dem → 3. Johannesbrief
1.2. Zwei stilistisch-inhaltliche Merkmale dieses Briefes
Bereits bei einer ersten Lektüre dieses makrostrukturell klar gegliederten Briefes bekommt man einen Eindruck von zwei Merkmalen, die sein inhaltlich-literarisches Profil maßgeblich bestimmen.
(1) Einerseits stellt man unschwer einen massiven Einsatz von Gegnerpolemik im Briefkorpus fest (siehe nur Jud 8.10.12), wodurch das Schreiben insgesamt als „harsh“ (Brosend, 303) empfunden werden kann. Gerade dieser polemisch-schroffe Ton scheint auch einer liturgischen Verwendung dieses Briefes konfessionsübergreifend im Weg zu stehen: In der Leseordnung der Evangelisch-lutherischen Kirche in Deutschland kommt er gar nicht vor und auf katholischer Seite taucht er reduziert auf die Verse Jud 17.20b-25
(2) Andererseits ist die hohe Sprachkompetenz des Briefschreibers bereits von → Origenes
2. Kommunikationsrichtung und Zielsetzung: Alles auf Grenzziehung ausgerichtet
Wenn man die in Tab. 1 zusammengestellten Leitworte durchsieht und diese Beobachtungen mit Erwägungen zum Anlass für die Abfassung des Briefes verknüpft, werden Grundzüge der vom Briefschreiber intendierten Zielsetzung sichtbar: Auslöser für die Abfassung des Briefes ist nach Jud 4.12
Im Unterschied zur weitgehend unproblematischen makrostrukturellen Gliederung des Textes anhand brieflicher Gliederungselemente (siehe 1.1.) bereiten detailliertere Überlegungen zur strukturellen Gesamtkonzeption des Schreibens und der Zuordnung seiner Hauptbestandteile Schwierigkeiten. Immer wieder ist der Versuch unternommen worden, eine konzentrische Anlage des Schreibens im Hinblick auf die Zuordnung der Hauptteile (so etwa Bauckham, 5-6) oder sämtlicher Einzelverse (so etwa Wendland, 207-210; Blumenthal, 141-145) aufzuweisen (Tabelle 2).
3. Detaillierte Gliederung des Briefes
4. Überlieferung und Textkritik, kanonische Bezeugung und kanonische Relevanz
Der älteste Textzeuge für den Gesamttext ist Papyrus 72 (3.-4. Jahrhundert), der eine freie Textform bietet, während man einer dem → Sinaiticus
Als Indiz für eine weitgehende Anerkennung des Judasbriefes als kanonische Schrift kann seine entsprechende Nennung im Osterfestbrief des → Athanasius von Alexandrien
Trotz dieser frühen weitgehenden Akzeptanz ist die Tatsache, dass er überhaupt Bestandteil des Neuen Testaments geworden ist, „eines der historisch erstaunlichsten Phänomene“ (Frey, 45) der gesamten neutestamentlichen Kanongeschichte. Im Kanon selbst bildet er zusammen mit dem → Jakobusbrief
5. Wer schreibt wem wann und wo? – Verfasser, Adressaten, Zeit und Ort
5.1. Welcher Judas? Und welcher Jakobus?
In der superscriptio stellt sich der Briefschreiber namentlich als Judas vor und weist sich als Knecht Jesu Christi und Bruder des Jakobus aus. Zu den insgesamt fünf Personen im NT mit Namen Jakobus gehören neben dem → Sohn des Zebedäus
5.2. „Echt“ oder pseudepigraph?
Da über den Herrenbruder Judas nur wenig bekannt ist, bleibt weiter Raum für die Diskussion der Frage, ob der Brief tatsächlich von diesem Judas geschrieben und in diesem Sinne echt / authentisch ist oder ob es sich um ein pseudepigraphes Schreiben handelt, d.h. ein Schreiben, das unter Verwendung der Autorität des Herrenbruders von einem anderen verfasst wurde (dies ist nicht mit einer Fälschung im heutigen Sinne zu verwechseln; → Pseudepigraphie
Entgegen aller umfassend von Bauckham (Bauckham, 1988, 14-16; ausführlicher: Bauckham, 1990) zusammengetragenen Anhaltspunkte, die sich für die Annahme der Echtheit des Judasbriefes ins Feld führen lassen – überhaupt die Nennung Judas als Autor –, sprechen doch gewichtige Argumente für seine Einstufung als Pseudepigraphon: (1) Der Rekurs auf das „ein für alle Mal überlieferte Glaubensgut“ in Jud 3
Dadurch dass sich der Verfasser dieses pseudepigraphen Schreibens auf den Herrenbruder Judas und damit das palästinische → Judenchristentum
5.3. Und wann?
Der judenchristliche Verfasser war sowohl mit den biblischen Traditionen als auch mit der griechischen Sprache vertraut und hat seinen Brief an der Wende vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert, vielleicht zwischen 100 und 120 n. Chr., geschrieben. Für diese Datierung, welche aufgrund des damit markierten Abstandes zur Zeit Jesu und Judas – der Herrenbruder lebte wohl zur Zeit der Verfolgung des → Domitian
5.4. Und der Abfassungsort?
Vollends im Bereich der Spekulation ist man bei Aufnahme der Frage nach dem Abfassungsort angekommen, da dem Brief diesbezüglich keine konkreten Daten zu entnehmen sind. Vielleicht darf mit Blick auf die Anlage des Schreibens und auf dem Hintergrund der Annahme, dass der Judasbrief sich mit einer konkreten (inhaltlich wie auch immer zu bestimmenden) Gegnerschaft auseinandersetzt (mehr dazu 6.1. und 6.2.), trotz der lokal unspezifischen Adressierung des Schreibens in der adscriptio an „alle Berufenen“ (Jud 1
6. Das heiße Eisen – Die Frage nach den Gegnern
6.1. Die Herausforderung und drei Vorschläge zur Gegneridentifikation
Die vermutlich größte Herausforderung für das Verstehen des Judasbriefes stellt die Beantwortung der Frage nach der theologischen Position der Gegner dar, die zunächst einmal schon allein dadurch erschwert ist, dass dem gegenwärtigen Rezipienten mit dem Judasbrief nur jener Ausschnitt des Kommunikationsgeschehens zwischen dem Verfasser, seinen Adressaten und den von ihm besprochenen Gegnern bekannt ist, in welchem der Verfasser aus seiner eigenen ideologisch-theologischen Perspektive auf das Geschehen schaut und seine Situationsbewertung präsentiert. Darüber hinaus steht jeder Versuch der Beschreibung des gegnerischen Profils in der konkreten Situation des Judasbriefs vor dem Problem, dass die ohnehin einseitige Blickfreigabe auf den Konflikt überaus stark vom Einsatz (stereotyper) Gegnerpolemik durchzogen ist. Folglich ist unter Zugrundelegung der Annahme, dass der Judasbrief es mit konkret existierenden Gegnern zu tun hat (anders Wisse), zu erwägen, welche Aussagen über die Gegner einerseits situationsgebunden-konkret sind bzw. etwaige Spuren enthalten und von daher einen Einblick in deren theologische Position freigeben und wo es sich andererseits um situationsunabhängige-stereotype Vorwürfe handelt.
Diskutiert werden gegenwärtig vornehmlich drei Positionsbestimmungen, während die forschungsgeschichtlich lange Zeit bedeutsame Identifikation der Gegner als → Gnostiker
(1) Die Gegner sind Libertinisten und Antinomisten (siehe nur die Kommentare von Bauckham, 11, oder Schreiner, 413-414). Dabei steht die Vorstellung im Hintergrund, dass die gegnerische Position auf einem elitären Anspruch auf Geistbesitz und einer falsch verstandenen paulinischen Freiheitslehre gründet, die sich in einer liberalen Lebensführung manifestiert.
(2) Dafür dass die Gegner im Wesentlichen Leugner der → Parusie
(3) Den entscheidenden Streitpunkt sehen Ausleger wie Paulsen, Heiligenthal oder jüngst Frey in einem Streit um die → Engellehre
6.2. Ausblick – Was bleibt?
Die drei genannten Positionen versucht Gielen in der Weise miteinander zu verbinden, dass sie die Leugnung der → Engel
7. Vielleicht ein Prophet am Werk – Alles steht auf dem Spiel
7.1. Der Judasbrief als Zeugnis urchristlicher Prophetie
Der Brief gibt sich als leidenschaftliches Plädoyer für das Festhalten am überlieferten Glaubensgut zu erkennen, sei dieses nun im Bereich der Engellehre und / oder der Parusie von den Gegnern infrage gestellt worden. Unter der „Polemik“-Oberfläche ist die Theologie des Judasbriefs von der Grundgewissheit getragen, dass die Briefempfänger durch Gottes Berufung in den Bereich des Heils versetzt sind. Sie dürfen in der Erwartung auf den Empfang des eschatologischen Heils (→ Eschatologie
Mit seinem Brief erhebt Judas den Anspruch (siehe vor allem die „diese“-Sätze), die Gottlosigkeit der Gegner in Gegenwart seiner Adressaten aufdecken zu können und damit den eigentlich dem Parusiekyrios vorbehaltenen Vorgang der endgerichtlichen Überführung rechtswirksam vorwegzunehmen (Blumenthal, 337-341). In diesem Anspruch schlägt sich die prophetische Dimension von Judas’ Brief nieder, da das Überführen einzelner Menschen und das Offenlegen ihres Wesen nach 1Kor 14,24-25
Judas belässt es aber nicht bei der Überführung seiner Gegner als Gottlose, sondern spricht über sie in Vorwegnahme der endgerichtlichen Entscheidung des → Kyrios
7.2. Alles steht auf dem Spiel
Dass Judas sich mit dieser prophetischen Unheilsankündigung über seine Gegner an seine Adressaten wendet, um sie auf diesem Weg über das gottlose Wesen (= ἀσεβεῖς asebeís) und zukünftige Ergehen (= Unheil) der an den gemeindlichen Agapefeiern teilnehmenden Gegnern in Kenntnis zu setzen, ist durch die Tatsache bedingt, dass in seiner theologischen Konzeption mit Jesu Parusie ein universal ausgerichtetes → Gericht
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2005
- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i. Br. 1993-2001
2. Kommentare
- Bauckham, R.J., 1983, Jude, 2 Peter (WBC 50), Waco / Texas
- Frey, J., 2015, Der Brief des Judas und der zweite Brief des Petrus (ThHK 15 / II), Leipzig
- Grundmann, W., 1974, Der Brief des Judas und der zweite Brief des Petrus (ThHK 15), Berlin
- Mazzeo, M., 2002, Lettere di Pietro. Lettera di Giuda. Nuova versione, introduzione e commento (I libri biblici. Nuovo Testamento 18), Mailand
- Paulsen, H., 1992, Der Zweite Petrusbrief und der Judasbrief (KEK XII / 2), Göttingen
- Schelkle, K.H., 1961, Die Petrusbriefe. Der Judasbrief (HThK XIII / 2), Freiburg i. Br.
- Schrage, W., 1973, Der Zweite Petrusbrief. Der Judasbrief, in: Balz, H. / Schrage, W., Die „Katholischen“ Briefe. Die Briefe des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas (NTD 10), Göttingen, 217-232
- Schreiner, T.R., 2003, 1,2 Peter, Jude (NAC 37), Nashville
3. Weitere Literatur
- Bauckham, R.J., 1990, Jude and the Relatives of Jesus in the Early Church, Edinburgh
- Blumenthal, C., 2008, Prophetie und Gericht. Der Judasbrief als Zeugnis urchristlicher Prophetie (BBB 156), Göttingen
- Brosend, W., 2006, The Letter of Jude. A Rhetoric of Excess or an Excess of Rhetoric?, Interp. 60, 292-305
- Callan, T., 2004, Use of the Letter of Jude by the Second Letter of Peter, Bib. 85, 42-64
- Charles, J.D., 1991, Literary Artifice in the Epistle of Jude, ZNW 82, 106-124
- Gielen, M., 2008, Der Judasbrief, in: M. Ebner / S. Schreiber (Hgg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart, 552-558
- Heiligenthal, R., 1992, Zwischen Henoch und Paulus. Studien zum theologiegeschichtlichen Ort des Judasbriefes (TANZ 6), Tübingen
- Hoppe, R., 2010, Evangelium im Widerstreit. Zum Problem innerkirchlicher Toleranz am Beispiel des Parusieglaubens, in: Ders., Apostel – Gemeinde – Kirche. Beiträge zu Paulus und den Spuren seiner Verkündigung (SBAB 47), Stuttgart, 285-305
- Watson, D.F., 1988, Invention, Arrangement and Style. Rhetorical Criticism of Jude and 2 Peter (SBLDS 104) Atlanta
- Wendland, E.R., 1994, A Comparative Study of ‚Rhetorical Criticsm‘, Ancient and Modern – with Special Reference to the Larger Structure and Function of the Epistle of Jude, Neotest. 28, 193-228
- Wisse, F., 1972, The Epistle of Jude in the History of Heresiology, in: Krause, M. (Hg.), Essays on the Nag Hammadi Texts (FS A. Böhlig; NHS 3), Leiden, 133-143
Abbildungsverzeichnis
- Kommunikationsstruktur des Judasbriefes. Schaubild aus: Christian Blumenthal, Prophetie und Gericht. Der Judasbrief als Zeugnis urchristlicher Prophetie (BBB 156), Göttingen 2008, S. 101.
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