Messiasgeheimnis
(erstellt: Januar 2011)
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Das Markusevangelium will eigentlich Heidenchristen Jesus als → Messias
1. Die Komponenten des Messiasgeheimnisses
1.1. Die Geheimnismotive in den Wunder- und Epiphaniegeschichten
Das erste → Wunder
Zugleich verbreitet sich der Ruf des Wundertäters (z.B. Mk 1,28
Es ist auch nicht so, dass Jesus sich scheute, seine Macht durch Wunder zu demonstrieren. Zwar verweigert er dieser Generation gegenüber ein Zeichen vom Himmel (Mk 8,11f
1.2. Die Geheimnismotive in der Verkündigung und Lehre Jesu
Den Wundern deutlich vorgeordnet ist seine Aufgabe, die Frohe Botschaft vom nahen → Reich Gottes
Letzteres bezieht sich auf das Wort vom Gottesreich. Da aber das Nicht-Sehen und Nicht-Hören Mk 8,18
Den ausgewählten Jüngern aber gelten die Aufrufe zum Hören und Verstehen. Ihnen ist „das Geheimnis des Reiches Gottes“ – ein apokalyptisches Konzept – geschenkt (Mk 4,11f
Von Mk 8,31
2. Herkunft und Sinn des Messiasgeheimnisses
2.1. Historisch-psychologische Erklärung
Bis ins 19. Jahrhundert hinein, aber manchmal auch noch heute, versucht man diesen Motivkomplex von der Persönlichkeit Jesu, etwa seiner Bescheidenheit, und ihren geschichtlichen Bedingungen her zu verstehen. Wenn Jesus der verheißene Messias sein wollte, das überkommene Bild von einem militanten, nationalen Messias ihm aber nicht entsprach, musste er Zurückhaltung beim Gebrauch des Titels üben und durfte sich nur gegenüber Juden als Messias äußern, bei denen kein Missverständnis möglich war. Aber die Bekenntnisse der Dämonen etwa sind christologisch durchaus korrekt. Warum werden sie unterdrückt? Überhaupt dürfte ein so zweideutiges und wankendes Verhalten, wie es Jesus bei Markus an den Tag legt, historisch unwahrscheinlich sein. Ein Einblick in seine Psyche ist uns unmöglich.
2.2. Ursprung in der vormarkinischen Gemeinde
Nach W. Wrede sind solche psychologischen und historischen Überlegungen verfehlt. Das Messiasgeheimnis sei aber auch nicht einfach die Erfindung des Markus. Es stamme aus der Zeit, als man zwar wusste, dass die Messianität Jesu erst in der → Auferstehung
Dagegen betonen Räisänen und Pesch, dass die meisten genannten Einzelzüge traditionell sind und dass sie nichts miteinander zu tun haben. Aber Mk 3,12
2.3. Redaktioneller Umgang des Evangelisten mit dem Stoff
Diese redaktionskritische Erklärung gewann nach dem ersten Weltkrieg immer mehr Einfluss. Der Sprachgebrauch des Markus wurde genauer untersucht. Man fand bei den Einzelmotiven des Messiasgeheimnisses sein typisches Vokabular. Freilich sind die Forscher sich nicht einig darüber, weshalb der Evangelist Jesus diese Strategie zugeschrieben hat.
Eine in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts populäre These geht vom unterschiedlichen religionsgeschichtlichen Charakter des verarbeiteten Stoffes aus. Danach vertreten die Wundererzählungen eine hellenistische Christologie vom „göttlichen Menschen“, die Markus nur widerstrebend aufnehme und durch das Messiasgeheimnis mit der ihm vorliegenden Passionstradition zu vereinbaren suche (Weeden, Schenke 1974, der seine Meinung aber inzwischen geändert hat). Aber der Evangelist hat nichts gegen Wunder, er vermehrt sie noch in seinen Summarien, er schildert mit Genugtuung den Eindruck, den sie auf das Volk machten. Das Unverständnis der Jünger besteht in der ersten Hälfte des Evangeliums darin, dass sie Jesus keine Wunder zutrauen (Mk 4,40
2.4. Die Erklärung vom literarischen Effekt her
Die dauernde Durchbrechung des Geheimnisses bringt auf den Gedanken, dass es nur den Wert der Offenbarung steigern soll. Wie Mysterienkulte durch Geheimhaltung und erschwerten Zugang zu religiösen Gütern diese erst attraktiv machen, so hätte Markus das Schweigegebot als „schriftstellerisches Motiv“ eingesetzt, um das nachösterliche „sieghafte Hinausrufen“ des Evangeliums in alle Welt herauszustellen (Ebeling 145). Nun ist nach Mk 4,22
2.5. Am ehesten zureichend: die apologetische Erklärung
Genau auf diese Fragen antwortet aber das Messiasgeheimnis. Es ist befristet: Die Jünger sollen von der Schau des Gottessohnes niemand etwas sagen, „es sei denn, wenn der Menschensohn von den Toten auferstanden ist“ (Mk 9,9
Das Ärgernis des Unglaubens in Jesu eigenem Volk wird zweifach bewältigt: Einmal zeigt die ungeheure Wirkung Jesu auf die Volksmassen, die Verbreitung der Kunde von seinen Wundern trotz Verbot, zuletzt die Selbstoffenbarung Jesu vor dem Hohen Rat (Mk 14,61f
Wenn man eine solche ähnliche Funktion annehmen darf (s. auch oben unter 1.2), erledigt sich ein Haupteinwand gegen die apologetische Deutung, dass sie sich nämlich allein auf die Parabeltheorie stützen kann (vgl. z.B. Räisänen 56f). Auch die Durchlöcherung der Redeverbote hat eine Entsprechung bei den Gleichnissen: Mk 12,12
Als verstockt erweisen sich auch weithin die Jünger (Mk 6,52
2.6. Ergänzend: der paränetische Zweck
Die Auseinandersetzung Jesu mit Petrus über das Leidenmüssen des Messias als Menschensohn wird abgelöst von einer Unterweisung, zu der Jesus außer den Jüngern ausdrücklich noch die Menge herbeiruft (Mk 8,34-38
2.7. Fazit
Das Messiasgeheimnis ist als Komplex ein Konstrukt des Evangelisten Markus. Um den Leser zur rechten Erkenntnis anzuleiten, wer Jesus im Ganzen seines irdischen Weges, der am Kreuz endet, war, zeichnet er nicht nur seine eigentlich allen einsichtige messianische Laufbahn nach, sondern führt auch restriktive Momente ein. Diese sollen verständlich machen, warum Israel – lange Zeit auch die Jünger – nicht zu dieser Erkenntnis kam. Die Verstockung Israels und das Unverständnis der Jünger bewirken zusammen mit dem Sich-Entziehen Jesu gegenüber seinen Zeitgenossen beim Leser aus der Völkerwelt den Eindruck, dass ihm diese Erkenntnis vorbehalten ist. Weil er die Geschichte Jesu von ihrem glorreichen Ende her lesen kann, kommt bei ihm die Selbstoffenbarung Jesu, die durch das Geheimnis geschützt ist, erst an. Zugleicht warnt ihn aber auch das negative Beispiel der Israeliten und der Jünger, dass auch ihm diese Offenbarung durch Unglaube verschlossen bleiben könnte. Deshalb ist es einseitig, wenn Watson den Sinn des Geheimnisthemas darin sieht, dem Leser seine „Prädestination“ zum Bewusstsein zu bringen.
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