Deutsche Bibelgesellschaft

Rechtfertigung (NT)

(erstellt: April 2011)

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1. Begrifflichkeit

Rechtfertigungsaussagen sind im Neuen Testament mit der Verwendung des Wortstamms δίκαιο- (dikaio…) verknüpft: δίκαιος (dikaios) / gerecht, δικαιοσύνη (dikaiosyne) / Gerechtigkeit, δικαιόω (dikaioο) / rechtfertigen, δικαίωμα (dikaiōma) / Rechtssatzung, δικαίωσις (dikaiōsis) / Rechtfertigung, δικαιοκρισία (dikaiokrisia) / gerechtes Gericht (dazu Kertelge, 1997, 286-287). Diese Begrifflichkeit, die sowohl im Blick auf Gerechtigkeit (s.u.) als auch auf Rechtfertigung verwendet wird, begegnet im Neues Testament überwiegend bei Paulus und in geringem Umfang in der von ihm abhängigen Literatur, sodass von einer Konzentration der Rechtfertigungsthematik bei Paulus gesprochen werden muss. Eine explizite Rechtfertigungslehre hingegen findet sich nur bei Paulus (Theobald, 1999, 885). Deren Voraussetzungen, Gestalt und Zielsetzungen sind im Folgenden vornehmlich darzustellen. Daneben begegnen im Neues Testament auch etliche Gerechtigkeitsaussagen, die in keinem Bezug zu spezifisch christlichen Inhalten (Evangelium, Christologie, → Sakrament) stehen und keinen Beitrag zur Vorstellung einer Rechtfertigung leisten, sondern in traditioneller Weise ‚gerecht' als Relationsbegriff gegenüber Gott (Lk 1,6; 1Petr 3,12; 2Petr 2,7 u.ö.) oder Mitmensch (Mt 5,45; Tit 1,8; 1Joh 3,7 u.ö.) gebrauchen.

2. Forschungsgeschichte

Die Forschungsgeschichte des 20. Jh.s hat mit William Wredes These, die Rechtfertigungslehre sei eine aus dem Kampf mit dem Judentum und dem Judenchristentum erwachsene und ausschließlich für diese Auseinandersetzung gedachte „Kampfeslehre“ (Wrede, 1907, 72), einen wuchtigen Auftakt. Seine These wurde von Albert Schweitzer bekräftigt (1954, 220), insofern dieser in der Rechtfertigungslehre einen „Nebenkrater“ gegenüber dem Hauptkrater der Erlösungslehre sah. Aufgenommen wurden diese Ansätze von Georg Strecker (1979), noch unbeeinflusst von der sog. „New Perspective on Paul“, und sodann durch deren exegetischen Hauptvertreter James D. G. Dunn, der (wie auch Krister Stendahl und Ed P. Sanders, die gleichfalls der „New Perspective“ zugerechnet werden können) die Individualisierung, die Fokussierung auf die Sündenthematik und den Anti-Judaismus älterer Positionen zur Rechtfertigungslehre in Frage stellt. Der ursprüngliche Sitz im Leben der paulinischen Rechtfertigungslehre sei die Begründung der Legitimität der Heidenmission und die Ablehnung zusätzlicher Forderungen an die Glaubenden über den Christusglauben hinaus (Dunn, 2005, 87f.). In der Mitte des 20. Jh.s bestimmte die Theologie Rudolf Bultmanns und seiner Schüler, genauer die Auslegung der Rechtfertigungslehre als Christologie, die Diskussion (ausführlich dazu und zur weiteren Forschung Kertelge, 1997, 299-304). Im Kreuz werde die Gnade offenbar, so sei die → Gerechtigkeit Gottes die die Sünde nicht anrechnende Gnade. Demgegenüber betonte Ernst Käsemann (1964), nicht die Gabe der Gerechtigkeit stehe für Paulus im Mittelpunkt, sondern die Macht Gottes, der nach seiner Schöpfung greift.

3. Voraussetzungen

Begrifflichkeit und Vorgang der Rechtfertigung, bezogen auf Gerechtigkeit und Recht, sind Grundbestand jeder religiösen und politischen Weltdeutung. Die Autoren der neutestamentlichen Schriften sind kulturell geprägt von einem jüdischen und griechisch-hellenistischen Umfeld (→ Rechtertigung [AT]), das klare Rechtfertigungskonzeptionen entwickelt hat, die zwischen Gerechterklärung, Gerechtsprechung und Gerechtmachung unterscheiden und mit einer korrespondierenden Vorstellung von Gott und seiner Gerechtigkeit verbunden sind (Seifrid, 2004). Gleichwohl soll im Folgenden zur Interpretation zunächst nicht konstruktiv eine Anbindung an Vorgegebenes gesucht, sondern bei den neutestamentlichen Schriften selbst angesetzt werden. Daraufhin ist zu fragen, ob sie bestimmte Linien der Tradition bewusst aufgreifen, um diese fortzuschreiben oder zu modifizieren. Einem biblisch-theologischen Ansatz, der die Linienführung zum Prinzip der Interpretation erhebt, wird damit widersprochen.

Der Einstieg mit Paulus legt sich nicht nur deshalb nahe, weil seine Briefe die ältesten Dokumente im Neues Testament darstellen, sondern auch, weil in ihnen die rechtfertigungstheologische Thematik einen klaren Schwerpunkt hat. Damit verbindet sich ein diachrones literarisches Modell, das die urchristliche Rechtfertigungstheologie in ihrem Werden in der Zuordnung von literarischen Äußerungen und geschichtlichen Erfahrungen zu rekonstruieren sucht. Überdies spielen Rechtfertigungsaussagen im Neues Testament überhaupt nur bei Paulus eine integrale Rolle in seiner Theologie. Die wenigen, eher peripheren Rechtfertigungsaussagen in den Evangelien raten davon ab, bereits Jesus mit rechtfertigungstheologischen Themen in Verbindung zu bringen. Gleichwohl wird der Versuch, den Gehalt der Rechtfertigungstheologie bereits in der Verkündigung und in der Wirksamkeit Jesu zu finden, immer wieder vorgetragen. Richard Hays hingegen (1992, 1130) leitet die gesamte Rechtfertigungsthematik aus dem urchristlichen Bekenntnis zu Jesus als dem Gerechten ab (Apg 3,14; Apg 7,52; 1Petr 3,18; 1Tim 3,16), hat sich mit diesem Vorschlag aber nicht durchsetzen können. Erst in der Verbindung von Rechtfertigungstheologie, Gesetzeslehre und Christusglaube arbeitet Paulus einen Gedankenkomplex aus, der als Rechtfertigungslehre angesprochen werden kann (Hübner, 1999, 86; Zeller, 2011, 179).

4. Paulus

Während die ältere Paulusforschung mit wenigen Ausnahmen (Albert Schweitzer, William Wrede) die Theologie des Paulus von der Rechtfertigungslehre her rekonstruierte und oftmals das Damaskusgeschehen als den Sitz im Leben dieser Lehre ansah, geht die jüngere Forschung und mit ihr u.a. auch die „New Perspective on Paul“ dazu über, das Werden der Rechtfertigungslehre eher entwicklungsgeschichtlich nachzuzeichnen und hierbei insbesondere auf situative Veränderungen und Vertiefungen zu achten. Michael Theobald spricht von einer kontextuellen Rechtfertigungslehre des Paulus (2001, 225), ja von der „Geburt der paulinischen Rechtfertigungslehre in Galater und Römer“ (Theobald, 2001, 235). Etwas vereinfacht gesagt: Stand die Rechtfertigungslehre in ihrer vollen Gestalt für die ältere Forschung eher am Beginn des paulinischen Wirkens, so steht sie heute eher am Ende. Es ist durchaus umstritten, ob in der Rekonstruktion der Rechtfertigungslehre der adäquate Zugang zum Zentrum der Theologie des Paulus gefunden wird (so allerdings jetzt wieder Klaiber, 2004, 102). Ferdinand Hahn behandelt sie ausgesprochen knapp im Kontext der Evangeliumsverkündigung (Hahn II, 2011, 430f.). Bei Georg Strecker (1995, 147-166), Michael Theobald (1999, 889) („angewandte Christologie“) und Udo Schnelle (2003, 516-537) begegnet die Rechtfertigungslehre als ein Unterpunkt der Christologie, in der im Übrigen in neueren Interpretationen wieder partizipatorische Strukturen (in Christus sein) dominieren. Damit wird die Rechtfertigungslehre aus der Umklammerung einer existentialen Interpretation gelöst. Die von William Wrede und Albert Schweitzer vorgetragenen, im Kern durchaus zutreffenden Einsichten, die von der Rechtfertigungslehre als einer „Kampfeslehre“ bzw. von einem „Nebenkrater“ sprechen, dürfen allerdings auch nicht dazu verleiten, ihr hermeneutisches Potenzial zu missachten. Die „New Perspective on Paul“ bleibt überwiegend bei den sozialen Bedingungen der Rechtfertigungslehre im Kontext der Mission stehen und missachtet deren theologische Ausgestaltung (Horn, 2005). „Die ‚Rechtfertigung aus Glauben’ hat zweifellos eine trans-situative, fundamental-theol. Bedeutung als wesentlichen Ausdruck des Evangeliums, die sich auch in anderen Situationen als kritisch-reflexive Erinnerung an den Kern der von Jesus verkündeten Heilsbotschaft bewährt“ (Kertelge, 1992, 803f.). In der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ aus dem Jahr 1999 sind die neueren exegetischen Einsichten in keiner Weise aufgegriffen worden (Söding, 2010, 169-171).

4.1. Frühe Rechtfertigungsaussagen

Von Rechtfertigung als umfassender Annahme des Menschen durch Gott reden erstmals wenige Texte in den Paulusbriefen, die wegen ihres Inhalts (‚ihr seid rein gewaschen‘) und ihrer Form (Einst-Jetzt-Schema) als Tauftraditionen anzusprechen sind (vor allem 1Kor 6,11; 1Kor 1,30; im weiteren Sinn auch Röm 3,25f.; Röm 6,3f.). Die Interpretation der paulinischen Rechtfertigungsaussagen hat von diesen Traditionen auszugehen (Schnelle, 1986; Söding, 1999, 291; Hahn I, 2011, 252). Rechtfertigung, Abwaschung und → Heiligung sind Gaben an den Täufling und beschreiben gleichzeitig die Wirkung der Taufe. Dem Täufling wird ein neuer Status, derjenige des Gerechten und Heiligen in einem ontologischen Sinn, übereignet und diese sakramental vermittelte Gerechtigkeit und Heiligkeit ermöglichen in naher Zukunft die Begegnung mit dem Kyrios (→ Herr) in der Parusie (dazu Schmidt, 2010). Da Ungerechte prinzipiell von einem Eintritt in die Herrschaft Gottes ausgeschlossen sind (1Kor 6,9), hat sich in der Taufe ein Statuswechsel vom Ungerechten zum Gerechten vollzogen. Diese Traditionen stehen noch nicht wirklich in einer Verbindung mit dem Tod Christi und zeigen ebenfalls noch keine Hinweise auf die Bedeutung des Christusglaubens an.

Gleichzeitig ist zu erkennen, dass die Rechtfertigungsthematik in dem ältesten Paulusbrief, dem 1. Thessalonicherbrief, noch gar keine und in den in der Chronologie der Paulusbriefe nächst jüngeren Briefen an die Korinther allenfalls eine randständige Bedeutung hat (Söding, 1999, 292). Von daher ist denjenigen Autoren Recht zu geben, die in der Rechtfertigungsthematik und zumal in der Rechtfertigungslehre weder das Urgestein noch das Zentrum der paulinischen Theologie sehen (Strecker, 1979). Vielmehr deutet der sprachliche Befund darauf hin, dass Paulus immer nur dann rechtfertigungstheologische Aussagen macht, wenn er gleichzeitig über das Gesetz spricht (Schnelle, 2003, 528f.).

In diesen frühen Rechtfertigungsaussagen spielen Christusglaube und Gesetz als Alternative noch keine erkennbare Rolle. Vielmehr scheint das Gesetz für Paulus geradezu gleichgültig betrachtet worden zu sein (1Kor 7,17-20). „Wird man hier v. einer Art R.-Botschaft sprechen, so hat die Stunde der R.-Lehre da geschlagen, wo aufgrund kontroverser Optionen ausdrücklich über die Zulassungsbedingungen z. Taufe nachgedacht u. eine theologisch begründete Antwort gesucht werden musste“ (Theobald, 1999, 886).

Als sog. Basissatz aller späteren Rechtfertigungsaussagen gilt Gal 2,16a / Röm 3,20 / Röm 3,28 (Theobald, 2001, 164-225). Paulus folgt hier einer mündlichen Überlieferung (Gal 2,16: „[…] wir wissen, dass der Mensch nicht gerecht wird durch Werke des Gesetzes, sondern durch den Glauben an Jesus Christus […]“), die möglicherweise über die Diskussion auf dem Apostelkonvent (Apg 15,1; Gal 2,1-10) zurückreicht bis in die frühe antiochenische Gemeinde, konkret in ihr Gemeindeverständnis und ihre Missionspraxis (Theobald, 2001, 189; kritisch zur These einer weitreichenden Abhängigkeit des Paulus von Antiochia jetzt aber Schnelle, 2003, 110-113). In diesem Basissatz wird die Rechtfertigung exklusiv mit dem Christusglauben verbunden und nicht mit den Werken des Gesetzes. Die intensive Diskussion über die angemessene Interpretation dieses Ausdrucks hat deutlich werden lassen, dass Paulus hier keinesfalls eigene und verdienstliche Werke im Blick hat, sondern das, was James D. G. Dunn Identitäts- und Abgrenzungsmerkmale („identity markers“ und „boundary markers“) des Judentums zur nichtjüdischen Umwelt genannt hat, oder was Michael Bachmann in einer der letzten Publikationen zur Sache als ‚Torah-Praktiken‘ bezeichnet hat (Bachmann, 2009). Jedenfalls gehe es bei diesem Ausdruck überhaupt nicht um menschliche Handlungen, sondern um Rechtsbestimmungen. Rechtfertigung wird einem Menschen ausschließlich durch den Christusglauben übereignet; hingegen werden Torah-Praktiken als Bedingung ausgeschlossen. Bei diesen Werken des Gesetzes wird vornehmlich an solche Handlungen zu denken sein, die in besonderer Weise die Sonderstellung jüdischer Existenz gegenüber der heidnischen Welt markieren (Beschneidung, Reinheitsgesetze, Speisefragen, Festkalender). Mit diesem Basissatz wie auch mit dem Beschluss des Apostelkonvents, auf die Beschneidung als notwendiges Zeichen des Übertritts zum Judentum auch für Christusgläubige aus der heidnischen Welt zu verzichten (Apg 15,1-11; Gal 2,1-10), ist die Sonderstellung des Judentums als ausschließlichem Volk Gottes gegenüber den Heiden aufgegeben, da der Christusglaube als eine universale Möglichkeit für Juden und Heiden anerkannt ist. Im Hintergrund stehen Diskussionen um die Lebensweise gemischter frühchristlicher Gemeinden (vgl. etwa Apg, 10,1-43; Gal 2,11-14) und um die Bedingungen zur Aufnahme in die christliche Gemeinde. Der Basissatz schließt Toratreue unter den Judenchristen nicht aus, sie bleibt für diese auch als Christusgläubige ein Zeichen der Zugehörigkeit zum Volk Israel. Wohl aber stellt weder für Judenchristen noch für Heidenchristen die Beachtung der Tora ein Kriterium der Rechtfertigung dar.

In der Rezeption des Basissatzes (dazu Theobald, 1999, 192-195) und seiner Ausarbeitung in den zeitnah verfassten Briefen an die Galater, Philipper und Römer gewinnt die Rechtfertigungslehre des Paulus ihre abschließende Gestalt. Hierbei sind als Rahmenbedingungen sowohl die persönliche Reflexion des Paulus über das Verhältnis von jüdischer Existenz und Christusglaube als auch das Gegenüber zu judenchristlichen Missionaren und ihr Einwirken auf seine Gemeindegründungen zu bedenken.

4.2. Philipperbrief

In Phil 3,4b-9 stellt Paulus im Rückblick auf seine Lebensgeschichte eine vergangene, aus dem Gesetz kommende, eigene Gerechtigkeit einer gegenwärtigen Gerechtigkeit im Glauben an Jesus Christus gegenüber, um sich scharf und polemisch von dieser Vergangenheit zu distanzieren. Solch rückblickende Bewertung (vgl. auch Gal 1,14) kann nicht als authentische rechtfertigungstheologische Wiedergabe des Gehaltes der Damaskuserfahrung angesehen werden, da gerade wegen Phil 3,1-4a (ebenso Gal 3,1-4) das Gegenüber zu den judaisierenden Gegnern zu bedenken ist. Die Argumentation bedient sich aus aktuellen Beweggründen des Rückblicks. Außerdem fällt auf, dass Paulus in Phil 3,4b-11 über seine Berufung in Formeln der Christusgemeinschaft spricht (Christus gewinnen, in ihm gefunden werden, die Kraft seiner Auferstehung erkennen), sodass die Rechtfertigungsterminologie hier wohl eher sekundär und situativ bedingt hinzugekommen ist.

4.3. Galaterbrief

Gegenüber einer die galatischen Gemeinden verwirrenden Beeinflussung durch antipaulinisch gesonnene judenchristliche Missionare bekräftigt Paulus vehement und polemisch den Grundsatz, dass die Rechtfertigung exklusiv im Christusglauben (Gal 2,16; Gal 3,8; Gal 3,24; Gal 5,5) erlangt wird und keiner weiteren Handlungen, auch nicht der Übernahme der Beschneidung als eines Eintritts in den Abrahambund bedarf (Gal 2,3; Gal 5,2f.; Gal 5,6; Gal 5,11; Gal 6,12f.; Gal 6,15). Scharf weist Paulus den Weg des Gesetzesgehorsams ab (Gal 3,10-14) und konstruiert die für ihn denkerisch unmögliche Überlegung: Käme die Gerechtigkeit aus dem Gesetz, dann wäre Christus umsonst gestorben (Gal 2,21). Die Kraftlosigkeit des Gesetzes und seine Bedeutungslosigkeit im Rechtfertigungsvorgang werden im Galaterbrief in verschiedenen Argumentationsgängen aufgezeigt. Dazu gehören die niedere Stellung des Gesetzes (Gal 3,19), seine zeitliche Limitierung (Gal 3,24) und sein Unvermögen, Leben zu vermitteln (Gal 3,21). Grundlegend aber ist der Freikauf aus dem Fluch des Gesetzes, den Christus im Kreuzestod vollzogen hat (Gal 3,10; Gal 3,13), da er damit dem Gesetz die Möglichkeit genommen hat, anklagend wirksam zu sein (dazu Sänger, 1994, 265-275). Konstitutiv zur Rechtfertigungsbotschaft des Galaterbriefs gehört die universale Ausrichtung des Evangeliums (Gal 3,8; Gal 3,26-28).

4.4. Römerbrief

Die Rechtfertigungsthematik durchzieht nahezu den ganzen Brief und hat somit zur abschließenden Gestalt der Rechtfertigungslehre im Denken des Paulus geführt. Hierbei ist zu beobachten, dass einerseits etliche Aussagen des zuvor verfassten Galaterbriefs aufgenommen, aber auch gerade im Blick auf die Heidenchristen modifiziert werden und dass die prekäre Abfassungssituation des → Römerbriefs (Röm 15,22-33) auf die Argumentation Einfluss nimmt. Paulus steht vor der Übergabe der Kollekte an die Jerusalemer Gemeinde, weiß um die ihn in Judäa erwartende Feindschaft und unternimmt nun im Römerbrief eine umfassendere Klärung seines persönlichen Verhältnisses zu Israel, aber auch eine Beantwortung der ausstehenden theologischen Frage nach dem Wert der an Israel gegebenen Verheißungen (Röm 9,1-5). Ausgehend von der Propositio (Themavers) (Röm 1,16f.), dass im Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart wird, führt Röm 1,18-3,20 zunächst eine Klage über Heiden und Juden, die zu der Anklage und dem Urteil führt, dass beide Gruppen ausnahmslos den Willen und die Rechtsordnung Gottes missachtet haben, also ungerecht (Röm 3,10) und des Todes würdig sind (Röm 1,32). Ab Röm 3,21 spricht Paulus demgegenüber von der jetzt offenbar gewordenen Gerechtigkeit, die im Glauben an Jesus Christus empfangen wird (vgl. auch Röm 3,26; Röm 5,1; Röm 9,30; Röm 10,4; Röm 10,6) bzw. von der umsonst gewährten Gerechtmachung aus Gnade durch die Erlösung in Jesus Christus (Röm 3,25).

Als Exemplum solchen Glaubens ohne Werke und solcher Gerechtmachung verweist Röm 4 in erneuter Beanspruchung des Abrahambeispiels (Gal 3,6-18) auf den jüdischen Stammvater und entfalte ausgehend von dem Schriftzitat Gen 15,6, eine Zuordnung von Glaube und Gesetzesgehorsam. Da → Abraham zum Zeitpunkt dieses Glaubens unbeschnitten war, ist er den Gottlosen gleichgestellt und gilt als Stammvater der Glaubenden aus den Heiden und aus den Juden. Die an Abraham erst später vollzogene Beschneidung (Gen 17) wird dabei als Zeichen der Glaubensgerechtigkeit bewertet (Röm 4,11). Diese Verknüpfung der Rechtfertigung mit Schriftbezügen aus dem Alten Testament vollzieht Paulus neben Röm 4,2 (Gen 15,6; auch Gal 3,6) auch in Röm 1,17 (Hab 2,4); Röm 3,20 (Ps 143,2; auch Gal 3,11) u.ö.

Wurden in dem sog. Basissatz die Werke des Gesetzes als irrelevant für die Rechtfertigung angesehen, so geht Röm 8,3 nach Gal 3,21 noch einen weiteren deutlichen Schritt darüber hinaus, insofern Paulus von der absoluten Ohnmacht der Tora zur Rechtfertigung gegenüber der fleischlichen Verfasstheit des Menschen spricht. Röm 7 hat zuvor aufgezeigt, dass der Mensch beherrscht wird von der Sünde und dass das Gebot keine Hilfe aus dieser Verstrickung ist, sondern in verhängnisvoller Weise darin behaftet. Das Heilswerk Christi befreit aus diesem Zusammenhang von Sünde, Fleisch, Gesetz und Tod (Röm 8,2-4). Christus ist daher das Ende des Gesetzes und der möglichen Intention des Menschen, eine eigene Gerechtigkeit aufzurichten, insofern Gerechtigkeit exklusiv im Glauben gewonnen wird (Röm 10,4). Gleichzeitig impliziert die Rechtfertigung ein Nicht-Verhältnis zur Sünde, da der Glaubende in der Taufe gegenüber der Sünde gestorben ist und seitdem mit Christus lebt.

4.5. Rechtfertigungstheologie und Rechtfertigungslehre

Die Strukturelemente des sog. Basissatzes der Rechtfertigungslehre bleiben grundlegend, werden im Galaterbrief und im Römerbrief jedoch vertieft:

a) Die Rechtfertigung fußt in der Christologie, insofern Gott im Tod Christi seine Gerechtigkeit erweist, indem er Sündenvergebung und Rechtfertigung schenkt, die im Glauben angenommen werden (Röm 3,24f.; Röm 5,9) oder aber insofern Christi Tod auf die Sündenvergebung und Christi Auferstehung auf die Gerechtmachung der Glaubenden zielen (Röm 4,25). In dieser Aussage wird die Auferweckung Christi mit einer Rechtfertigung seiner Person gleichgesetzt (vgl. 1Tim 3,16), die jetzt aber in einer Übertragung den Glaubenden zugute kommt. Die Verschränkung von Glaube und Christologie geht so weit, dass „gerechtfertigt aus Glauben“ (Röm 3,28; Röm 3,30; Röm 4,3; Röm 4,5; Röm 5,1; Gal 2,16; Gal 3,6; Röm 3,8; Röm 3,24; Gal 5,5; Phil 3,9) und „gerechtfertigt aus dem Blut“ (Röm 5,9), „durch Gnade“ (Röm 3,24), „im Namen Christi“ (1Kor 6,11), „in Christus“ (Gal 2,17) oftmals synonym stehen. Voraussetzung dieser in vielfacher Weise zum Ausdruck gebrachten christologischen Fundierung ist in jedem Fall die Einsicht, dass Gott in Christus offenbar geworden ist und gehandelt hat (2Kor 5,19).

b) Die Ablehnung des Wegs, über Gesetzesgehorsam → Gerechtigkeit vor Gott zu erlangen, gründet nach Röm 5,12-21; Röm 7,1-25 darin, dass der Mensch unter der Macht der Sünde steht und dass die Begegnung mit der Forderung der Tora ihn in der Sünde belässt, insofern das Gesetz wohl die Erkenntnis der Sünde vermittelt (Röm 3,19f.; Röm 5,13), nicht aber einen Weg aus der Sünde eröffnet. Das Streben nach der eigenen Gerechtigkeit ist als menschlicher Versuch nicht deswegen problematisch, weil eigenes Heil zu erwirken intendiert wäre (Phil 3,9; Röm 10,3), sondern weil es der von Gott gesetzten Heilsordnung der geschenkten Gerechtigkeit in Jesus Christus widerspricht. Die Freiheit vom Gesetz bezieht Gal 3,13; Gal 4,5 nun nicht mehr auf dessen Einzelforderungen; vielmehr wird der Kreuzestod Jesu grundsätzlich als Befreiung oder Loskauf vom Fluch des Gesetzes verstanden. Für Karl Kertelge (1997, 293) liegt in dieser Aussage der ‚Schlüssel’ zur Rechtfertigungsbotschaft des Paulus. In ähnlicher Weise beschreibt 2Kor 5,21 eine Umkehrung: Gott identifiziert „Christus mit den Folgen der Sünde, damit die, die zu Christus gehören, zu Repräsentanten seiner G. (= Gerechtigkeit) werden“ (Klaiber, 2000, 720).

Die Rechtfertigung schenkt mehr als die Beseitigung oder Vergebung der Einzelverfehlung. Die im Kern vorpaulinische Tradition Röm 3,24f spricht von der Vergebung der zuvor begangenen Sünden und blickt hierbei evtl. auf die zurückliegenden einzelnen Verfehlungen des Täuflings. Paulus weitet die Perspektive über diese Einzelverfehlungen hin aus und spricht nun von einer grundsätzlichen Befreiung oder sogar von einem Tod gegenüber der Sünde (Röm 6,2; Röm 6,7; Röm 6,10-11; Röm 8,2-3), in der die vorgängige absolute Verhaftung in der Sünde (Gal 3,22; Röm 3,9) überwunden wird. Hierin kommt ein ontischer Zeit- und Ortswechsel zum Ausdruck, da der Glaubende und Getaufte vom Einst zum Jetzt übergegangen ist (Röm 13,11-14) und daher jetzt ‚in Christus’ (Gal 3,26-28) ist, Christus angezogen hat (Röm 13,14; Gal 3,27) und ‚neue Schöpfung’ (2Kor 5,17; Gal 6,15) ist. Insofern ist die Rechtfertigung mehr als eine imputative Zuschreibung, sie hat ontischen und effektiven Charakter. Der Ort dieses Wechsels aus der Macht der Sünde in die Christusgemeinschaft ist die Taufe als Nachvollzug des Todes und der Auferweckung Jesu (Röm 6,1-11). Diese sakramentale Basis steht der Betonung der Rechtfertigung aufgrund des Christusglaubens nicht entgegen, vielmehr sind beide miteinander verknüpft. „Es ist deutlich, dass diese Rechtfertigungslehre im Kontext der Taufe sich organisch mit den tragenden Grundanschauungen der paulinischen Christologie verbindet: Transformation und Partizipation“ (Schnelle, 2007, 237).

Die Rechtfertigung wird vor allem im Römerbrief als universales Geschehen begriffen und präzise auf den Grundsatz ‚dem Juden zuerst und auch dem Heiden’ (Röm 1,16) hin ausgelotet. Stand die Ablehnung der Werke des Gesetzes ursprünglich dem Versuch entgegen, den Christusglauben ausschließlich als eine Möglichkeit im Rahmen des Judentums zu begreifen, so begründen die Argumentationen des Galaterbriefs und Römerbriefs die Unterschiedslosigkeit von Juden und Heiden vor dem Evangelium. Da beide Gruppen in gleicher Weise unter der Sünde stehen und jeglicher Vorteil auf jüdischer Seite hinfällig ist (Röm 3,9f.), wird auch die Rechtfertigung unterschiedslos und umsonst geschenkt, und zwar allen, die glauben (Röm 3,23-25; Röm 11,32; Gal 3,22).

Die Gerechtfertigten leben im Geist und orientieren sich am Geist (Gal 5,25; Röm 8,9; Röm 8,13). Erst unter dieser Bedingung ist die Erfüllung der Rechtsforderung des Gesetzes möglich geworden (Röm 8,4). Gleichwohl ist Paulus weit davon entfernt, die Erfüllung der gesamten Tora unter den Gerechtfertigten zu lehren. Faktisch reduziert er deren Forderung auf das Liebesgebot (Röm 13,8-10; Gal 5,14) und entfaltet daneben eine → Ethik, deren Normen und Zielsetzungen sich unterschiedlicher Begründungen verdanken. Dem Tun der Gerechtigkeit kommt im Leben der Gerechtfertigten eine besondere Rolle zu (Röm 6,13; Röm 13,16; Röm 13,18-20).

Zur Rechtfertigungslehre des Paulus gehört die Rede von der Gerechtigkeit Gottes (2Kor 5,21; Röm 1,17; Röm 3,5; Röm 3,21-22; Röm 10,3; Phil 3,9) bzw. von seiner Gerechtigkeit (Röm 3,25f.). Bisweilen wurde die Entschlüsselung dieses Begriffs als wesentlicher, vielleicht sogar einziger Zugang zur Rechtfertigungslehre oder gar zur Theologie des Paulus erachtet, auch wenn ein deutliches Missverhältnis zwischen seiner behaupteten Stellung in der Theologie einerseits und den wenigen Belegen in den Briefen andererseits, zumal fast ausschließlich im Römerbrief, besteht. Auch ist das reduktionistische Verfahren, ausschließlich diesen Ausdruck zu analysieren und nicht den gesamten δίκαιο(dikaio)-Wortstamm einzubeziehen, ausgesprochen problematisch. Da nach Rudolf Bultmann die theologische Grundposition des Paulus im Römerbrief „einigermaßen vollständig expliziert“ ist (Bultmann, 1968, 191), kann die Aufwertung dieses Begriffs forschungsgeschichtlich wohl nachvollzogen werden (ausführlich Seifrid, 1992, 1-75; Stuhlmacher, 1966, 11-73; Hahn I, 2011, 253-256). In etlichen Beiträgen standen sich zwei unterschiedliche Auslegungen gegenüber, die mit der Frage der angemessenen Übersetzung des Genitivs in Gerechtigkeit Gottes zusammenhingen. Rudolf Bultmann u.a. verwiesen auf den Gabe-Charakter (Bultmann, 1968, 285), also die übereignete Gerechtigkeit, die im Glauben empfangen wird. Ernst Käsemann und ihm folgend Peter Stuhlmacher verwiesen auf den Macht-Charakter, waren in solcher Auslegung allerdings stark von einer durchaus problematischen religionsgeschichtlichen Ableitung des Motivbereichs von jüdischer Apokalyptik abhängig. Erkennt man einen „genitivus subiectivus“, wird man an Gottes eigene Gerechtigkeit denken (so auf jeden Fall in Röm 3,5; Röm 3,25f.). Liest man jedoch einen „genitivus obiectivus“ oder „relationis“, blickt man auf die Geltung der Gerechtigkeit vor Gott (Röm 3,22) oder im Sinne eines „genitivus auctoris“ (2Kor 5,21; Röm 1,17) auf deren Macht und Herkunft von Gott (dazu Wilckens 1978, 203; Flebbe, 2008, 71-77, der sich wieder dezidiert für den „genitivus subiectivus“ und gegen den „genitivus auctoris“ ausspricht, da stets Gott Subjekt des rechtfertigenden Handelns sei). In dem Streit um die Auslegung des Begriffs wurde gelegentlich fälschlicherweise angenommen, eine einzige und wohl auch bereits geprägte Lesart dieses Begriffs für Paulus voraussetzen zu müssen. Der Nachweis einer Anbindung an eine geprägte apokalyptische Begrifflichkeit konnte nicht erbracht werden, da dieser Terminus technicus innerhalb der apokalyptischen Literatur fehlt. Vielmehr ist deutlich zu sehen, dass dieser Begriff in gewisser Breite nur im Römerbrief Verwendung findet und hier durchaus unterschiedlich eingesetzt wird. Schon im engeren Kontext von Röm 3,21-25 wechselt der Gebrauch von Gerechtigkeit Gottes von einem Offenbarungsbegriff (Röm 3,21; so auch Röm 1,17) über die anthropologische Zueignung (Röm 3,22; auch Phil 3,9) zur Gerechtigkeit als Eigenschaft Gottes (Röm 3,25; auch Röm 3,5). Zu dieser Gerechtigkeit Gottes gehört auch der Aspekt der Bundestreue gegenüber Israel (Röm 3,29f.).

5. Paulusschule

Die Rechtfertigungsthematik wird innerhalb der Paulusschule ausschließlich vom → Epheserbrief und den → Pastoralbriefen (1. und 2. Timotheusbrief, Titusbrief), nicht aber vom → Kolosserbrief und dem → 2. Thessalonicherbrief rezipiert. Die für Paulus bestimmende Antithetik gegen das Gesetz ist in Epheser, 1. Timotheus, 2. Timotheus und Titus entfallen, die Rechtfertigungsterminologie über δίκαιο(dikaio) wird nur noch in den Pastoralbriefen verwendet. Dieser Befund zeigt auch an, dass die Rechtfertigungsthematik ihren historischen Ort primär in der Situation hatte, als eine Klärung der Verbindlichkeit der Tora für → Heidenchristen anstand. Diese Thematik spielt für die Paulusschule keine Rolle mehr, insofern tritt die Rechtfertigungsthematik zurück bzw. es werden nur noch verkürzt Teile ihrer sprachlichen Gestalt verwendet, ohne damit aber dem ursprünglichen Gesamtzusammenhang der Rechtfertigungslehre verpflichtet zu sein. Die zu besprechenden Texte (dazu Luz, 1976) befinden sich in stark von der Tradition geprägten Abschnitten. Gemeinsamkeit besteht mit der vorpaulinischen Tradition und etlichen Abschnitten der Paulusbriefe darin, dass rechtfertigungstheologische und sakramentale Aussagen verknüpft sind. Die Reduktion auf den Gegensatz von eigenen / unseren Werken und Gnade Gottes hat die Rezeption der Rechtfertigungslehre maßgeblich bestimmt und ihr hermeneutisches Potenzial über die für Paulus bestimmende Situation hinaus offengehalten.

Eph 2,5-10 verwendet etliche Begriffe, die auch Paulus im Kontext der Rechtfertigungslehre einsetzt (Gnade, tot – lebendig, gerettet werden, in Christus, durch Glauben, aus euch, aus Werken, rühmen, Übertretung), meidet aber Gerechtigkeit und rechtfertigen. Im Zentrum der Argumentation steht die Rettung (σῴτηρία; sōteria) durch Gnade und durch Glauben, vollzogen in der Taufe, und sie wird im Rahmen der präsentischen → Eschatologie des Epheserbriefs als Auferweckung interpretiert. Diese Rettung wird in eine an Paulus erinnernde und Teile seiner Sprache reproduzierende Antithetik eingespannt: Nicht von euch, nicht aus Werken – Gottes Gabe. Das von Paulus im Basissatz seiner Rechtfertigungslehre begegnende Syntagma ‚Werke des Gesetzes’ ist auf ‚(eigene) Werke‘, aufgrund derer jeglicher Ruhm ausgeschlossen ist, verkürzt worden, ohne die Antithese zum Gesetz weiter zu bemühen. Diese Rettung schließt folglich vergangene Werke als Grund des Heilsgeschehens aus, fordert allerdings ab jetzt von den Christen ‚gute Werke’, die Gott zuvor bereitet hat.

2Tim 1,9 spricht ebenfalls von der Rettung (σωτηρία; sōteria), die in einem Ruf ergangen ist, der nicht Bezug nahm auf ‚unsere Werke’, sondern auf Gottes ‚Vorsatz und Gnade’. Tit 3,3-5 verwendet neben der Terminologie retten / Retter (σᾠζω, sōzο / σωτήρ, sōtēr) einmal die Vokabel rechtfertigen (δικαιόω, dikaioο). Der Ort des Heilsgeschehens ist das ‚Bad der Wiedergeburt’, in dem zurückliegende Werke keinen Wert darstellen. Der vom Verfasser entworfene Gegensatz von ‚aus Werken in Gerechtigkeit, die wir getan haben’ und ‚seiner Gnade’ zeigt ebenfalls den Abstand zum Syntagma ‚Werke des Gesetzes’. Die Reduktion auf (eigene, verdienstliche) Werke der Gerechtigkeit ist allerdings nicht dazu angetan, gute Werke grundsätzlich in Frage zu stellen. Diese werden vielmehr in Eph 2,10 und Tit 3,8 explizit von den Getauften gefordert (zu Tit 3,3-5: Oberlinner, 1996, 171).

Zwar kann auch Paulus in rechtfertigungstheologischen Aussagen einfach von Werken reden, ohne das Attribut des Gesetzes zu bemühen. Von einer Synonymität beide Ausdrücke sollte aber nicht gesprochen werden (so Avemarie, 2001, 302). Freilich verschiebt sich mit dem Wegfall des Attributs des Gesetzes die Zielsetzung. Es geht nicht mehr um die Frage der Grenze zum Judentum, sondern um das Können und Vermögen des Menschen im Blick auf seine Begegnung mit Gott.

6. Jakobusbrief

Der → Jakobusbrief wird hier als pseudepigraphes Schreiben verstanden, dessen Abfassung den Tod des Herrenbruders Jakobus im Jahr 62 n. Chr. voraussetzt. Es ist damit ausgeschlossen, dass die rechtfertigungstheologischen Aussagen dieses Briefes älter als die des Paulus oder zeitgleich mit ihm sind. Als soteriologischer Basissatz der theologischen Konzeption des Briefes gilt Jak 1,18: Gott hat die Christen durch das Wort der Wahrheit geboren und hat ihnen dieses Wort nach Jak 1,21 als Grundlage und Kraft eines christlichen Lebenswandels eingestiftet (Konradt, 2008, 505f.). Dies bedeutet, „dass ‚Rechtfertigung’ für Jak kein Interpretament des Konversionsgeschehens ist, sondern etwas Zweites danach, nämlich die Anerkennung, dass sich ein Christ dem von Gott eröffneten Lebensverhältnis gemäß verhält“ (Konradt, 2008, 507). Um dies zu verdeutlichen, stellt Jak 2,14-26 einen Glauben ohne Werke, der genauso nutzlos und tot ist wie rein vertröstende Worte an Hungernde (Jak 2,15f.), einem zur Vollkommenheit durch Werke reifenden Glauben gegenüber. Der Glaube wird nicht ergänzt durch Werke, sondern Werke sind integraler Bestand des Glaubens. Sünde kann in einer Orientierung an dem Gesetz und den Anforderungen an das christliche Leben überwunden werden (Jak 2,9; Jak 4,17; Jak 5,15-16; Röm 5,20).

Die Rechtfertigungsthematik steht keinesfalls im Zentrum des Briefes, sie erscheint vielmehr in Jak 2,14-26 wie ein Nebengespräch mit Paulus oder einem Paulinismus. Offenkundig sind in diesem Abschnitt sprachliche und sachliche Überschneidungen mit paulinischen oder paulinisch geprägten Aussagen. Sie betreffen den Gegensatz von Glauben und Werken (des Gesetzes), die Verwendung der Präposition ἐκ (ek, aus / durch), die Einbeziehung des Abrahambeispiels und des Zitates aus Gen 15,6 in Jak 2,23 / Röm 4,3 in einer vergleichbaren, von der → LXX abweichenden Zitation, den Gebrauch der Wendung ‚das ganze Gesetz’ (Jak 2,10; Gal 5,3). Zur Erklärung dieses Befundes werden unterschiedliche Thesen vorgetragen:

a) Jakobus wendet sich an dieser Stelle gegen Paulus und stellt dessen Rechtfertigungslehre sowie Gesetzesverständnis in Frage (Avemarie, 2001). Martin Hengel spricht dezidiert von einer antipaulinischen Polemik (Hengel, 1987). Friedrich Avemarie wertet den Jakobusbrief überdies wirkungsgeschichtlich auf. Er zeige, dass die Rechtfertigungslehre des Paulus, anders als die „New Perspective“-Lehre, nicht auf die Frage der sozialen Identität zu reduzieren sei. Jakobus habe Paulus vollkommen richtig verstanden.

b) Eine einleitungswissenschaftlich verbreitete Sicht erkennt eine Auseinandersetzung mit einem überzogenen Paulinismus oder auch einem vom Verfasser missverstandenen Paulinismus, dessen Profil in Gesetzlosigkeit und Werkkritik bestanden habe (Tsuji, 1997).

c) Eine direkte Bezugnahme auf Paulus wird bestritten, da die Gemeinsamkeiten über eine Paulus und Jakobus vorausgehende jüdische bzw. frühchristliche Tradition erklärt werden (Konradt, 2004; ders., 1998, 241-246).

7. Weitere Einzeltexte

Wer die Rechtfertigungslehre als Zentrum der paulinischen Theologie ausgibt, ist oftmals bemüht, weitere Entsprechungen, vor allem im Bereich der Jesustradition und der Evangelien zu suchen (Klaiber, 2004, 102). Bleibt man jedoch bei der engeren Begrifflichkeit, sind nur wenige Texte im lukanischen Doppelwerk dazu angetan zu fragen, ob hier rechtfertigungstheologische Aussagen vorliegen.

In Lk 10,29 beschreibt Lukas das Verhalten des Schriftgelehrten mit den gleichen Worten wie Jesus die Verteidigung eines Pharisäers in Lk 16,15 als „sich als gerecht hinstellen“ (dazu Wolter, 2008, 394). In Lk 18,14 wird über den Zöllner gesagt, er gehe gerechtfertigt nach Hause. Eine Relation zum Glauben und zur Kritik an Werken fehlt in Lk 10,29; Lk 16,15. In Lk 18,9-14 kann man allenfalls im Verhalten des Pharisäers einen Spiegel jüdischer Torafrömmigkeit erkennen. Daher gilt Lk 18,14 oftmals als Aussage mit paulinisierender Tendenz.

Dies gilt auch für die Missionspredigt des Paulus in Apg 13,38f., in der paulinische Sprache und Thematik aufgenommen worden sind (Pesch, 1986, 40); die Unfähigkeit des Gesetzes zur Rechtfertigung erinnert an Röm 8,3. Für Lukas scheint diese Unfähigkeit aber nicht durch die Bemächtigung des Gesetzes durch die Sünde gegeben zu sein, sondern einfach darin, dass es schwer zu befolgen ist (Apg 15,10). Die Rechtfertigung wird in Apg 13,39 an den Glauben gebunden, und zwar wie bei Paulus mittels einer Formulierung durch δικαιόω ἐν (dikaioο ev) (Gal 2,17; Röm 5,9; 1Kor 6,11). Darin und in dem Gegensatz von Glaube und Gesetz besteht Nähe zu Paulus, auch wenn der Blick auf die Werke fehlt.

Der Gerechtigkeitsbegriff in Mt 3,5; Mt 5,6; Mt 5,10; Mt 5,20; Mt 6,1; Mt 6,33; Mt 21,32 wurde von Peter Stuhlmacher (1966, 188-191) gegen Georg Strecker (1971) auf die Durchsetzung des göttlichen Rechts bezogen und nicht auf die von Menschen zu verwirklichende Gerechtigkeit. Roland Deines (2004, 647) hat einen umfassenden, aber doch auch konstruierten Nachweis für die Sachgemäßheit dieser These gesucht, indem er die Gerechtigkeit der Jünger von einer „Jesusgerechtigkeit“ ableitet.

8. Schluss

Die Rechtfertigungslehre ist von ihrer polemischen Basisformulierung in Gal 2,16; Röm 3,28 her zu verstehen: Ein Mensch wird nicht gerechtfertigt aus Werken des Gesetzes, sondern durch Glauben an Jesus Christus. Die Rechtfertigungslehre öffnet damit den Nichtjuden den Zugang zum Gottesvolk, was gleichzeitig anzeigt, dass nicht der Einzelne als Sünder, sondern die Gemeinschaft von Juden und Heiden in der Kirche primär im Blick der Rechtfertigungslehre ist. Sie hat eine kritische Zielsetzung, insofern sie sich gegen Werke bzw. Werke des Gesetzes oder gegen die eigene Gerechtigkeit wendet. Diese Kritik dient dem Verweis auf Gottes rechtfertigendes Handeln in Jesus Christus, das aus Gnade umsonst geschenkt wird, und sie schließt gleichzeitig andere Wege zur Gerechtigkeit vor Gott, etwa den Weg des Gesetzes, kategorisch aus. Im Glauben an Christus akzeptiert der Mensch diese Gerechtigkeit und empfängt damit seine Rechtfertigung.

Literaturverzeichnis

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