Stoa
(erstellt: März 2012; letzte Änderung: Dezember 2015)
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1. Hauptvertreter und Quellenproblematik
Die Bezeichnung „Stoa“ geht auf die „bunte“ (da mit einem Gemälde von Polygnot geschmückte) „Säulenhalle“ (στοὰ ποικιλή – stoa poikilē) an der Agora in Athen zurück, wo der Gründer der stoischen Schule, Zenon von Kition (Citium) auf Zypern ab ca. 300 v. Chr. lehrte.
Zenon (geboren 333 / 332 v. Chr.) war um 311 v. Chr. nach Athen gekommen, wo er u.a. bei dem Kyniker Krates (Crates) hörte. Nach Zenons Tod (262 / 261 v. Chr.) übernahm dessen Schüler Kleanthes (Cleanthes) von Assos in Troas (geboren um 310 v. Chr.) die Leitung der Schule. Er hatte sich einst als Wasserschöpfer und Teigkneter das Studium bei Zenon verdient. Auf Kleanthes geht der berühmte Zeushymnus zurück (SVF I,537).
Chrysippos (Chrysipp) von Soloi in Kilikien (281 / 277-208 / 04 v. Chr.), der zunächst Zenons und nach dessen Tod Kleanthes (durchaus eigenständiger) Schüler war, wurde nach Kleanthes Tod (232 / 231 v. Chr.) dessen Nachfolger. Chrysipp systematisierte das stoische Wissen und wurde so gleichsam zum zweiten Begründer der stoischen Schule (Praechter, 413): „Denn wenn nicht Chrysipp gewesen wäre, gäbe es wohl die Stoa nicht“ (SVF II,6 = Diogenes Laertius VII,183 = Nickel § 95).
Zenon, Kleanthes und Chrysipp werden der alten Stoa zugerechnet. Die jüngere Stoa (bisweilen auch als „mittlere Stoa“ bezeichnet) beginnt mit Panaitios von Rhodos (185 / 180-110 / 09 v. Chr.). Ein wichtiger Vertreter dieser Phase ist Poseidonios aus Apameia in Syrien (135-50 v. Chr.), der schließlich auf Rhodos seine Schule gründete. Sowohl Panaitios als auch Poseidonios und andere Stoiker dieser Phase entfalteten eine große Wirkung auch unter Römern (Cicero, Scipio d. Jüngere, Octavian, etc.) und beförderten so die Entstehung eines römischen Stoizismus.
Gleichwohl sind uns vollständige Schriften stoischer Philosophen der alten und jüngeren („mittleren“) Stoa nicht erhalten, sehr wohl aber zahlreiche Testimonien („Zitate“ und Referate, zusammengestellt in: Nickel, Stoa; zur Problematik der Testimonien vgl. Ders., Bd. II, 997f) – vor allem die alte Stoa betreffend.
Die Quellenlage verbessert sich für die späte Stoa in der Kaiserzeit (ca. 1. Jh. n. Chr. bis Ende des 2. Jh.s n. Chr.), wo sich die Stoa immer größerer Verbreitung erfreute und immer stärker zur Allgemeinphilosophie wurde: Für diesen Zeitabschnitt verfügen wir über authentische und zusammenhängende Quellen u.a. von Epiktet aus Hierapolis in Phrygien (ca. 55-135 n. Chr., zunächst Sklave, dann Freigelassener, Niederschrift seiner Vorträge durch seinen Schüler Arrianos aus Nikomedeia in Bithynien), Lucius Annaeus Seneca (ca. 4 v. Chr. - 65 n. Chr., u.a. Erzieher Neros und zeitweise neben Sextus Afranius Burrus de facto mächtigster Mann im Imperium Romanum) und Marc Aurel (Marcus Aurelius, römischer Kaiser 161-180 n. Chr.).
2. Die Lehre
Zenon von Kition hat von →
Platons
2.1. Logik
Die stoische Logik wurde unter Chrysipp, nach Diogenes Laertius (VII,180) dem größten Logiker der Antike, als Aussagenlogik (im Unterschied zur aristotelischen Syllogistik, einer, wie wir heute sagen, Prädikatenlogik) ausgestaltet. Sie umfasst Erkenntnistheorie (die Wissenschaft von der Erkenntnis), Rhetorik (die Wissenschaft vom guten Sprechen in fortlaufender Rede) und Dialektik (die Wissenschaft der richtigen dialogischen Rede im Wechselspiel von Frage und Antwort). Letztere hatte schon Zenon unterschieden (SVF I,75).
Die stoische Erkenntnistheorie
Die Dialektik ist unterteilt in die Lehre vom sprachlichen →
Zeichen
Die stoische Dialektik zielt auf den logischen Schluss (syllogismos). Dabei ist im Unterschied zur aristotelischen Syllogistik für die Stoiker das Kriterium der Verbindung, des Zusammenhangs (συνάρτησις – synartēsis) zwischen einfachen (ἁπλᾶ – hapla) Axiomen („es ist Tag“, „es ist Licht“, vgl. Diogenes Laertius VII,68) in verbundenen Axiomen (οὐχ ἁπλὰ ἀξιώματα – ouch hapla axiōmata) für den Wahrheitsgehalt des Schlusses von Bedeutung, z.B. in der Konditionalaussage (συνημμένον – synēmmenon): „Wenn es Tag ist, [so] ist Licht“.
Neben der Konditionalaussage (wenn … dann)
(1) kennen die Stoiker (Chrysipp, Krinis) nach Diogenes Laertius VII,71f-73 noch weitere Verbindungen in verbundenen Axiomen (οὐχ ἁπλὰ ἀξιώματα – ouch hapla axiōmata):
(2) die assertorische: „Da (ἐπεί – epei) es Tag ist, ist Licht“,
(3) die konjunktive (miteinander verflochtene): „Es ist sowohl Tag, als auch Licht“.
(4) die disjunktive: „Es ist entweder Tag oder Nacht“
(5) die kausale: „ Weil es Tag ist, ist Licht“.
(6) die ein Mehr oder ein Weniger anzeigende: „Es ist mehr Tag als es Nacht ist“ bzw.: „Es ist weniger Nacht als es Tag ist“.
Chrysipp kennt nach Diogenes Laertius VII,79-81 (vgl. auch Sextus Empiricus, Adversus mathematicos VII,242 = Nickel § 206; VII,257 = Nickel §§ 208.914; VII,403; u.ö.) fünf evidente und deshalb „beweisunbedürftige“ Argumente (ἀναπόδεικτοι λόγοι – anapodeiktio logoi), die in der Abbildung 4 "der logische Schluss" aufgeführt sind.
2.2. Physik
Die stoische Physik stellt uns eine Welt vor Augen, die ganz und gar von der Vernunft (dem λόγος – logos) bestimmt ist. Sie geht von zwei Prinzipien aus: dem Leidenden (der ὕλη – hyle – Materie, Stoff) einerseits und dem Tätigen / Wirkenden (dem λόγος – logos – dem Logos, der Vernunft) andrerseits (SVF I,85 = Diogenes Laertius VII,134). Materie und Logos sind körperlich vorgestellt, da nach Auffassung der Stoiker nur Körpern die Fähigkeit zukommt, passiv zu leiden und tätig zu wirken (SVF I,90; II,525; vgl. 359). Folglich wirkt ein aktiver Körper (der niemals leidet, d.h. auf den niemals eingewirkt wird) auf einen passiven, unbestimmten Körper (der niemals agiert) und formt diesen: „… die Ursache (causa), d.h. die Vernunft (ratio) gestaltet die Materie (materiam format)“ (Seneca, ep. 65,2). Dabei durchdringt der die Materie (ὕλη - hyle) formende und qualifizierende Logos (λόγος – die Vernunft) diese ganz und gar. Vorausgesetzt ist hierbei die Vorstellung, dass Körper sich so vermischen können, dass sie ineinander fließen: Jeder einzelne Körper behält dabei sein eigenes Wesen (wie z.B. der Duft des sich beim Räuchern verteilenden Weihrauchs) und doch durchdringen sie sich gegenseitig so, „dass kein einziger Teil darin übrig bleibt, der nicht mit allem zusammen hängt“ (Chrysipp nach SVF II,473= Nickel § 274). So durchströmt die Seele den ganzen Körper, behält aber in der Durchmischung gleichwohl ihre eigene Existenz (Chrysipp nach SVF II,473 = Nickel § 274) wie auch die Vernunft (Logos) die Materie durchdringt.
Aus der Synthese von Materie (ὕλη –
hyle) und Vernunft (λόγος – logos) entsteht und vergeht in periodischen Zyklen die Welt: Die Materie, die durch die Vernunft eine ursprüngliche Qualifizierung erhalten hat, bildet den unvergänglichen Urkörper: das reine, künstlerische Feuer, die Physis (φύσις – physis): die schaffende Natur (Diogenes Laertius VII,156; Pohlenz, I,78; Hossenfelder, Stoa, 82). Aus einem Teil des Feuers entsteht die Luft, aus einem Teil der Luft das Wasser, aus einem Teil des Wassers die Erde. Aus den vier Elementen entstehen sodann „durch Mischung … Pflanzen, Tiere und andere Arten von Dingen“ (Diogenes Laertius VII,142). Nach Diogenes Laertius VII,136 verwandelt Gott die gesamte Substanz mittels der Luft in Wasser. Als erzeugende Weltvernunft (λόγος σπερματικός – logos spermatikos) macht er – analog zum Keim, der im Samen enthalten ist – die Materie (das Wasser) fähig „zu den weiteren schöpferischen Leistungen“ (Diogenes Laertius VII,136). Die Welt, die nur eine ist (Diogenes Laertius VII,143), wird zusammen gehalten durch eine einigende Kraft der körperlichen Substanz (Bréhier, 276). Der Logos, bzw. das Pneuma (der warme „Hauch“) durchdringt die Welt und ihre Teile, die interdependent sind, sich gegenseitig beeinflussen und durch Harmonie (συμπάθεια – sympatheia) bestimmt sind (SVF II,441; SVF II,473 = Nickel § 274; SVF II,475.534; Proclus Diadochus, In Platonis rem publicam commentarii II, S. 258, ed. Kroll; SVF II,1013; Pohlenz, 71992,101f). Die innere Spannung (τόνος – tonos) der die Teile der Welt zusammen haltenden Kraft lässt jedoch mit der Zeit nach und das stärkste Element – das Feuer – bekommt das Übergewicht. Die Welt kehrt zurück in den feurigen Urzustand. Auf den Weltbrand (ἐκπύρωσις – ekpyrōsis) folgt gesetzmäßig in ewiger Wiederkehr die Wiedererneuerung (Palingenesie) (Diogenes Laertius VII,134.137; SVF II,299.526.604; L.-S. § 46G; anders später Panaitios, vgl. Philo, Aet 76f = L.-S. § 46P) und Weltentfaltung – ohne irgendwelche Änderungen (vgl. bes. SVF II,624 = Nickel § 288). Die Vernunft (der Logos) ist eine gesetzmäßig wirkende Kraft, die auf ewig an unveränderliche Gesetzmäßigkeiten gebunden ist (Hossenfelder 1985, 86). So kann Zenon die Vernunft (den Logos), den „Ordner der Natur aller Dinge und den Baumeister des Universums“ nicht nur mit dem „Geist des Zeus“ und „Gott“, sondern auch mit der „Notwendigkeit der Dinge“ und dem „Schicksal (fatum)“ gleichsetzen (SVF I,160 = Nickel § 475). Das Schicksal (εἱμαρμένη – heimarmene) ist also bei den Stoikern – abweichend von einst verbreitetem griechischem Denken – keine irrationelle Kraft, die den Menschen ihr Schicksal zuteilt, sondern wird (im Gefolge von Heraklit) mit der Vernunft (dem Logos) identifiziert: „Die Heimarmene ist das Vernunftgesetz der Welt (εἱμαρμένη ἐστὶν ὁ τοῦ κόσμου λόγος – heimarmenē estin ho tou kosmou logos)“ (SVF II,913 = Nickel § 486; Bréhier, 278) und mit dem Kausalitätsbegriff verknüpft (SVF II,917 = Nickel § 481; SVF II,921 = Nickel § 482). Die deterministische Vorstellung, dass sich alles „nach fester Schicksalsordnung (εἱμαρμένη – heimarmenē)“ vollzieht (Diogenes Laertius VII,149) stützt einerseits den für die stoische Ethik wichtigen Grundsatz, dass die äußerlichen Dinge unverfügbar seien, andererseits stellt sich so – schon innerhalb des stoischen Systems – das gravierende Problem der → Freiheit
Die Stoa kann die die Welt gestaltende „Vernunft (Logos)“, „Schicksal (εἱμαρμένη –
heimarmenē)“, „Geist des Zeus“ und „Gott“ gleichsetzen (SVF I,160 = Nickel § 475, vgl. Diogenes Laertius VII,135f). Gott ist das aktive, vernünftige Prinzip, das die Welt und seine Teile gestaltet und durchdringt (Diogenes Laertius VII,134; SVF II,1027 = L.-S. § 46A = z.T. Nickel § 307), er ist „die Welt selbst und die zentrale Durchdringung ihres Geistes“ (Cicero, De nat. deor. I,39 = L.-S. § 54B = Nickel § 433). Er ist einer und doch werden die vielen Götter des griechischen Pantheons und die Mythen über sie nicht negiert, sondern etymologisch bzw. allegorisch interpretiert: „… entsprechend seinen verschiedenen Kräften [wird Gott, der Schöpfer des Alls] mit vielen Appellativen bezeichnet … Denn Dia [= Akkusativ von Zeus] nennt man ihn, weil durch (διά – dia) ihn alles besteht; von Zen [Zeus] spricht man insofern, als er der Urheber des Lebens (zen) ist oder weil er alles Leben (ζῆν – zen) durchdringt; Athena heißt er, weil sein leitender Teil sich bis in den Äther erstreckt, Hera wegen dessen Ausdehnung in die Luft (ἀέρα – aera)…“ (Diogenes Laertius VII,147 Übers. nach L.-S. § 54). So kann die Stoa die Volksfrömmigkeit durch vertiefende Interpretation in ihr philosophisches System integrieren (Pohlenz 71992, 97) und trotz Vielheit der Götter am → Monotheismus
Die Existenz Gottes ist nach stoischer Auffassung wissenschaftlich beweisbar: Unter allen Lebewesen zeichnet sich der Mensch nach den Stoikern in allen Völkern dadurch aus, dass er – aufgrund seiner göttlichen Herkunft – „irgendeine Kenntnis von Gott hat“: „Derjenige [erkennt] Gott, der sich sozusagen erinnert und erkennt, woher er kommt“ (Cicero, paradoxa Stoic. I,24, Übers. Nickel). Die Vorstellung, dass Gott existiert, wird also für den Menschen, der „allein das ranghöchste Unterscheidungsmerkmal der Vernunft (ratio) besitzt“ (Cicero, De nat. deor. II,16 = L.-S. § 54E = Nickel § 417) als selbstverständlich erachtet und kann auch logisch erschlossen werden. So argumentiert Chrysipp: „Wenn es nämlich … in der Natur etwas gibt, was der Geist des Menschen, was sein Verstand, was seine Kraft, was das menschliche Können nicht zu bewirken vermag, dann ist das, was es bewirkt, mit Sicherheit besser als der Mensch … Wie aber könnte man das passender als mit dem Wort ‚Gott‘ bezeichnen?“ (Cicero, De nat. deor. II,16 = L.-S. § 54E). Von Kleanthes sind vier Gottesbeweise überliefert (Cicero, De nat. deor. II; mit Abweichungen bei Sextus Empiricus, Adv. math. IX,88ff. = z.T. Nickel § 413, vgl. dazu: Boyancé 1962, 45–71). Der wichtigste ist: die Schönheit der Gestirne und die Ordnung und Gesetzmäßigkeit ihrer Bewegungen.
Da Gott mit dem Logos als Prinzip der Weltgestaltung identifiziert wird, das den Kosmos ganz und gar durchdringt, ist Gott immanent vorgestellt (Pohlenz, 71992, 95; kritisch dazu: Dienstbeck, 274-310). Deshalb wird in Bezug auf die Stoa gern von einem Pantheismus gesprochen. Gleichwohl lassen sich einige Ansätze zur Transzendenz beobachten (Bréhier, 280f): Beim Weltenbrand, wenn die Natur sich auflöst und „die Natur ein wenig stehen bleibt“, kommt „Juppiter … zur Ruhe …, seinen Gedanken hingegeben“ (Seneca, ep. I,9,16). Im Zeushymnus des Kleanthes drückt sich – charakteristisch für die Stoa im Unterschied zu Aristoteles und Platon (Bréhier, 281) – eine persönliche Frömmigkeit aus: Gott wird hier u.a. als Vater angesprochen (SVF I,537 = Nickel § 519).
2.3. Ethik
Die Stoiker versuchen eine Ethik zu entwerfen, die in der Natur des Menschen gründet und im Kosmos verankert ist.
2.3.1. Antrieb zur Selbsterhaltung und Oikeiosis
Die Stoa geht aus vom Antrieb (ὁρμή – hormē, impetus, Drang, Diogenes Laertius VII,84 = SVF III,1 = L.-S. § 56A = Nickel § 520), der jedem Lebewesen (außer den Pflanzen – sie werden nicht zu den ζωά [zōa] gerechnet) eignet, und sich auf die Selbsterhaltung (τὸ τηρεῖν ἑαυτό – to tērein eauto, Chrysipp, Diogenes Laertius VII,85f = SVF III,178 = L.-S. § 57A, die conservatio sui) richtet – nicht auf die Lust (gegen Epikur). Das ist darin begründet, dass „die Natur es [sc. das Lebewesen] von Anfang an sich zu eigen machte“ (οἰκειούσης αὑτῷ τῆς φύσεως ἀπ᾽ ἀρχῆς – oikeiousēs autō tēs physeōs ap archēs, Diogenes Laertius VII,85, Übers. K. Hülser in: L.-S. § 57A). Hier begegnet der für die Stoa zentrale Gedanke der Oikeiosis, ein Begriff, der unübersetzbar ist – im Deutschen ist seine Bedeutung nur einzukreisen: Das οἰκεῖον (oikeion) kommt von οἶκος (oikos – Haus) und meint alles, was zum Haus gehört, und im weiteren Sinn: das Nahestehende, Eigene, Angemessene, das dem, was man ist, Gemäße (Hauskeller 195). Das Gegenteil von Oikeiōsis (οἰκείωσις) ist Allotriōsis (ἀλλοτρίωσις), die Zurückweisung, Entfremdung (Diogenes Laertius VII,85). Daher übersetzt man Oikeiosis oft mit „Zueignung“. Da die Natur das Lebewesen „sich selbst zueigen machte“ (οἰκειῶσαι πρὸς ἑαυτό – oikeiōsai pros heauto, Diogenes Laertius VII,85, Übers. K. Hülser in: L.-S. § 57A), wehrt es ab, was schädlich ist (was die Selbsterhaltung bedroht) und akzeptiert, was ihm zu eigen ist (was die Selbsterhaltung fördert, Diogenes Laertius VII,85; Cicero, fin III,16f). Der erste Drang eines Lebewesens geht letztlich auf sich selbst als „Zueignungs“-Objekt, also auf die conservatio sui. Diese geht über das Einzelwesen hinaus und betrifft die Art – schon bei den Tieren, z.B. den Bienen (Cicero, De nat. deor. II,128f; Cicero, fin III, 63), noch mehr bei den Menschen: „Denn der Sinn für die Gemeinschaft ist … bei den Menschen nicht so ausgegrenzt wie bei den vernunftlosen Tieren; vielmehr hat uns der Schöpfer gleichermaßen mit einem Gemeinschaftsgefühl gegenüber allen Menschen ausgestattet“ (SVF III,346 = Nickel §§ 553.658). Den Drang zur Selbsterhaltung sehen also die Stoiker in der Natur begründet.
2.3.2. Der stoische Naturbegriff
„Natur“ ist ein Wertbegriff: Die „Natur“ (φύσις –
physis) – den Begriff können die Stoiker in der → Kosmologie
Diese Stufenordnung der Natur hat Konsequenzen für die Ethik: Während das naturgemäße Leben bei den Tieren ein triebgemäßes Leben ist, ist das naturgemäße Leben für vernunftbegabte Lebewesen ein vernunftgemäßes Leben: κατὰ φύσιν ζῆν – kata physin zēn (der Natur entsprechend zu leben) bedeutet also für den Menschen: κατὰ λόγον ζῆν – kata logon zēn (der Vernunft entsprechend zu leben) (Diogenes Laertius VII,85f = L.-S. § 57A). Durch die Stufung ist der Trieb der Vernunft (Logos) klar untergeordnet: der Logos ist Bildner (τεχνίτης – technites) des Triebs, der „gleichsam der handlungsinitiatorische Aspekt der Vernunft ist“ (Hauskeller, 202). Einen Widerspruch zwischen Trieb und Vernunft kann es aus stoischer Sicht folglich nicht geben, was in der Antike von verschiedenen philosophischen Schulen heftig am Beispiel der Medea diskutiert wurde (Theißen, 216ff). Widervernünftiges Handeln ist nicht auf die Durchsetzung des Triebes gegenüber der Vernunft (dem Logos), sondern auf ein falsches Verstandesurteil zurückzuführen, auf die „Selbstverkehrung des Logos“ (Forschner, Ethik, 122), die dem Trieb eine falsche Richtung weist.
2.3.3. Das Ziel für die Lebensführung
Nach den Stoikern besteht das Ziel für den Menschen als vernunftbegabtem Wesen (Seneca, ep. 41,8) darin, „übereinstimmend“, „im Einklang“ (wohl: mit dem Logos) zu leben (ὁμολογουμένως ζῆν – homologoumenōs zēn: SVF III,3 = Nickel § 525). Kleanthes und Chrysipp präzisieren nach Stobaios Zenons „im Einklang leben“ (ὁμολογουμένως ζῆν – homologoumenōs zēn) durch: „mit der Natur“. Ihre Telosformel lautet: „im Einklang mit der Natur leben (ὁμολογουμένως τῆ φύσει ζῆν – homologoumenōs tē physei zēn)“ (SVF III,12). Letztere ist durch Diogenes Laertius und andere auch von Zenon überliefert (SVF I,179 = Nickel § 523; Forschner 1981, 215). Ob sie auf Zenon selbst zurück geht oder eine spätere Ergänzung der Zenonschen Formel im Licht der späteren Entwicklung darstellt, ist umstritten (vgl. Pohlenz 61990, 67; Steinmetz, 542). Ein inhaltlicher Unterschied zwischen beiden wurde in der Antike wohl nicht gesehen, da ὁμολογία (homologia), convenentia, (auch) als „Übereinstimmung mit dem Logos als göttlichem Prinzip des Kosmos“ und als „Übereinstimmung mit der Allnatur“ verstanden wurde (Forschner 1981, 215).
Da die menschliche Natur als Teil der allumfassenden Natur, die menschliche Vernunft als Teil der kosmischen Vernunft (Logos) verstanden wird, bedeutet das Leben im Einklang mit der Natur / Vernunft nach Chrysipp sowohl ein der eigenen Natur / Vernunft wie auch der Natur / Vernunft des Alls entsprechendes Leben. Da letztere mit Zeus, dem Ordner und Leiter aller Dinge, gleichgesetzt werden kann (Diogenes Laertius VII,87), erscheint die stoische Ethik als theologische Vernunftethik (Ricken, 219).
2.3.4. Werte und Adiaphora
Dem Guten, von dem Nutzen ausgeht, stellen die Stoiker das Schlechte entgegen, das Schaden erzeugt (Nickel §§ 539.540.541). Ersteres ist ethisch vorzüglich, letzteres ist ethisch verwerflich. Das Schlechte führt zum Unglück, das Gute führt dagegen zur Eudaimonie, zur Glückseligkeit (SVF III,73 = Nickel § 544). Indifferent für das Glück sind die sogenannten Adiaphora – zu ihnen zählen die Stoiker alles, was „weder nützt noch schadet“, bzw. was man sowohl gut als auch schlecht verwenden kann (SVF III,117; Diogenes Laertius VII,103 = Nickel § 548). Sie sind insofern ἀ–διάφορον, a–diaphoron, d.h. nicht different, indifferent. Zu den Adiaphora gehören vermeintliche Glücksgüter wie Leben, Gesundheit, Freude, Reichtum, etc. (SVF III,117 = Diogenes Laertius VII,102f = Nickel § 548). Der stoische Weise ist von ihnen unabhängig (Cicero, fin III,26), denn die Eudaimonie (Glückseligkeit) kann man (gegen Epikur) nicht von äußeren Dingen abhängig machen, die nicht in unserer Hand liegen. Folglich bedeutet „glücklich zu leben … sittlich (honeste) zu leben, und das heißt: mit der Tugend (cum virtute) zu leben“ (Cicero, fin III,29). Allein die Ausübung der ethischen Vortrefflichkeit (Aretē – ἀρετή) führt zur Eudaimonie.
Die stoische Wertelehre ist also erstens geprägt von der Dreiteilung, die Abbildung 6 dargestellt ist.
Zweitens werden die Adiaphora nach Zenon noch einmal unterschieden in naturgemäße und naturwidrige Dinge (Güter) und solche, die weder das eine noch das andere sind (L.-S. § 58C). Naturgemäße Dinge sind zwar nicht „gut“, aber sie haben einen Wert (ἀξίαν ἔχοντα – axian echonta), bzw. werden „vorgezogen“, naturwidrige Dinge haben keinen Wert und werden „zurückgestellt“ (SVF III,128 = L.-S. § 58E; SVF III,126f = D.L. VII,105f; SVF III,133; SVF III,118). Zur Darstellung der stoischen Güterlehre in Sen, epist. 66f vgl. Hadot, 118 m. Anm. 96.
Diese zweite Unterscheidung, die in Abbildung 7 noch einmal schematisch dargestellt wird, war innerstoisch jedoch heftig umstritten (Pohlenz 71992,122f).
2.3.5. Die Pflichtenlehre
Verhaltensweisen oder Handlungen eines Lebewesens, die mit der kosmischen Vernunft (Logos) und damit mit der wahren Natur des Handelnden in Einklang sind, nennt die Stoa καθήκοντα (kathēkonta), sie „kommen“ einem Wesen „zu“ (Diogenes Laertius VII,107f = L.-S. § 59C). Cicero übersetzt καθῆκον (kathēkon) mit officium (Cicero, fin III,20), das im Deutschen gewöhnlich mit „Pflicht“ wiedergegeben wird. Zwischen den sittlich guten Handlungen (τέλεια καθήκοντα – teleia kathēkonta), die voll und ganz den Anforderungen des Logos entsprechen und den lasterhaften „Fehlhandlungen“ (ἁμαρτήματα – hamartēmata) stehen die „mittleren“ Handlungen (μέσα καθήκοντα – mesa kathēkonta). [Bitte beachten Sie auch die Abbildung 8.]
Perfecta officia und media officia unterscheiden sich nicht inhaltlich. Entscheidend ist aus stoischer Sicht vielmehr die Gesinnung, das leitende Interesse und das zugrunde liegende Wissen, mit dem etwas vollbracht wird: Die verschiedenen officia „unterscheiden sich … nicht durch das Was, sondern durch das Wie“ (Pohlenz 61990, 74). Perfecta officia werden gemäß der richtigen Vernunft (κατὰ τὸν ὀρθὸν λόγον – kata ton orthon logon) getan und das bedeutet: zur rechten Zeit (εὐκαίρως – eukairōs), aus vollendeter Vernunft heraus und um des sittlich Guten selbst willen – in Entsprechung zur göttlichen Natur (SVF III,501; Forschner 1998, 183). Nur der Weise ist imstande, diese vollkommene Pflicht zu erfüllen: Seine Handlungen entsprechen voll und ganz dem Logos. Die gemeine Pflicht dagegen kann jeder Mensch erfüllen (Ricken, 223). In der späteren Stoa gewinnen die προκόπτοντες (prokoptontes) zunehmend an Bedeutung, d.h. diejenigen, welche im ethischen Bereich Fortschritte machen (Bormann, 188, Z. 24f).
2.3.6. Affektenlehre
Ein Affekt (πάθος – pathos) ist nach altstoischer Auffassung – durch den Einfluss, den äußere Dinge über die Vorstellungsbilder auf den Menschen ausüben und durch den Einfluss der Meinungen „der Vielen“, die z.B. die Lust und Reichtümer loben (SVF III,229), – „pervertierte Vernunft“ (Forschner). Zenon definiert den Affekt als „eine von der Vernunft abgewandte und widernatürliche Bewegung der Seele“ (SVF I,205 = u.a. Diogenes Laertius VII,110; Cicero, Tusc IV,11.47), Chrysipp als irrationale Vernunft (Bréhier, 287). Die Affekte gehen auf falsche Urteile zurück (Zenon) oder sind selbst falsche Urteile (Chrysipp) (L.-S. § 65K). Von den Affekten hat man später so genannte προπάθειαι (propatheiai) unterschieden – unwillkürliche Gefühlsreaktionen als Vorstadien der Affekte. Erst durch das kognitive Urteil, die „Zustimmung“ (συγκατάληψις – synkatalēpsis, assensio), werden die Wahrnehmungen des Bewusstseins (Mühlenberg, 36f), zu Affekten.
Die Stoa unterscheidet vier Hauptaffekte (pathe), die als krankhafte Affekte auszurotten sind. Zu ihnen gibt es viele weitere Unterarten (SVF III,397.401.409.414). Von den Affekten unterschieden sind berechtigte Gefühle (Eupatheia), die dem Weisen eignen (SVF III,431–442 = z.T. L.-S. § 65F; Inselmann 98-104). Die Abbildung 9 "pathe - eupatheia" verdeutlicht diese Unterscheidung.
2.3.7. Sozialethik
Die Sozialethik ist nach Cicero (fin III,62-71) in der Natur begründet: Die Natur habe, wie schon unsere Körper zeigen, die Fortpflanzung geplant. Die Natur treibt uns auch an, die Kinder zu lieben. Daraus ergibt sich eine Vertrautheit unter den Menschen: Wir sind durch die Natur zur Vergesellschaftung bestimmt und jeder von uns ist Teil der Welt. „Daraus folgt naturgemäß (ex quo illud natura consequi), daß wir den Nutzen aller unserem eigenen Nutzen voranstellen sollen“ (Cicero, fin III,64) ... Der „Tugendhafte, der Weise ... [wird] mehr für das Wohl aller als für dasjenige eines einzelnen oder gar nur das seinige sorgen“ (Cicero, fin III,64, Übers. O. Gigon / L. Straume-Zimmermann).
Die Ausweitung der Individual- zur Sozialethik wird auch bei Hierokles (bei Stobaios, L.-S. § 57G) deutlich, der jeden Menschen von vielen Kreisen umgeben sieht (bitte beachten Sie die Abbildung 10 – Kreise des Hierokles).
Im Zentrum befindet sich der Verstand (διάνοια – dianoia), er wird umgeben vom Körper. Dieser Kreis wird umgeben von einem zweiten Kreis, der den ersten umschließt: Eltern, die Geschwister, die Frau und die Kinder, der nächste Kreis beinhaltet die engeren Verwandten (Onkel, Tanten...), der Kreis danach die weiteren Verwandten, etc. Der äußerste und größte Kreis schließlich umfasst das gesamte Menschengeschlecht. Ziel ist nun, die Distanz der Beziehung zu jeder Person immer mehr zu reduzieren und so die Kreise zusammen zu ziehen. Das Bild von den Kreisen, zu denen sich der Verstand erweitern kann, exemplifiziert die Stufen der Selbstzueignung (Oikeiosis) – die Selbstausweitung von kindlicher Selbstzentriertheit zum gesamten Menschengeschlecht. Die Selbstausweitung macht eine Bewegung hin zum Kosmos deutlich: Die stoische Ethik ist in die Physik und Logik eingebettet.
3. Aspekte der Wirkungsgeschichte
Die Stoiker wurden von Anhängern anderer philosophischer Strömungen (besonders von den Peripatetikern und Epikureern) kritisiert und entwickelten so ihr Denken weiter. Umgekehrt bekamen auch die Anhänger anderer philosophischer Strömungen Anregungen von den Stoikern (Nickel, Kritik). In hellenistisch-römischer Zeit war die Stoa die einflussreichste philosophische Strömung. Es wundert deshalb nicht, dass sich stoisches Gedankengut – teilweise in charakteristischer Umprägung – sowohl im antiken Judentum, in der Gnosis und im frühen Christentum als auch in späterer Zeit (Colish) findet.
3.1. Antike
3.1.1. Judentum
Schon die →
Weisheit Salomos
3.1.2. Gnosis
Die →
Gnosis
3.1.3. Frühes Christentum
1) Neues Testament
Bei →
Paulus
Ob sich darüber hinaus direkte oder indirekte Einflüsse von stoischem Gedankengut in den Schriften des Neuen Testaments finden (so z.B. Buch-Hansen für die joh Geistvorstellung), wird kontrovers diskutiert.
2) Alte Kirche
Die stoische Allegorie (SVF II, 1088ff), die schon das alexandrinische Judentum für die Toraauslegung fruchtbar gemacht hatte, wurde auch im Christentum (Origenes, Ambrosius) ein wichtiges exegetisches Verfahren. Auch die Logoslehre wird breit rezipiert (Justin, Klemens von Alexandrien, Origenes, Pohlenz
71992, 412. 416. 426). Vor allem aber wurde die christliche Ethik von der stoischen Ethik und Affektenlehre beeinflusst (Stelzenberger; Spanneut; Pohlenz; Mühlenberg): Die Natur (Physis) gilt als ethische Norm (Justin, Athenagoras, Tertullian, Ambrosius). Den Affekten und ihrer Therapie widmet man sich mit großer Aufmerksamkeit (Tertullian; Klemens von Alexandrien), die Apathie wird gerade bei den Wüstenvätern (und -müttern) zum Ideal und wandelt sich zu einem Charakteristikum des Mönchtums, wo es nicht mehr die Selbstbehauptung des Logos, sondern die „Lösung aus den Banden des Kosmos“ bezeichnet (Pohlenz 71992, 434). Durch römische Quellen, v.a. über Ciceros De officis, rezipieren Laktanz, → Ambrosius
3.2. Nachantike Zeit
Epiktets Handbüchlein (Encheiridion), eine Zusammenfassung stoischer Ethik, wirkte im Mittelalter und der Neuzeit auf indirekte Weise: Als original christliches Werk fungierte das leicht christlich überarbeitete Handbüchlein als Ratgeber für eine christliche Lebensführung und stand in jeder Klosterbibliothek (Klauck, 88). Weiter wirkte stoisches Gedankengut lange Zeit über Boetius’ Trost der Philosophie (Boethii Philosophiae Consolationis libri V, um 524), das im Mittelalter mehrfach übersetzt und kommentiert wurde. Petrarca (1304-1474) griff die stoische Lebensphilosophie in mehreren Büchern auf, die in der Renaissance wieder großen Einfluss erlangen (Meuer). Eine Wiederbelebung der stoischen Philosophie im 16. / 17. Jahrhundert geht v.a. auf den Niederländer J. Lipsius (1547-1606) zurück, der in seinen Schriften bemüht war, die weitgehende Übereinstimmung von stoischer und christlicher Lehre herauszuarbeiten (Blüher, 777). In den Krisen der Barockzeit ist ein breiter Rekurs auf stoisches Gedankengut zu beobachten (Gryphius). Wirkungen zeigt die stoische Philosophie bis in unsere Zeit (Neymeyr / Schmidt / Zimmermann).
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Abbildungsverzeichnis
- Zenon. "Archäologisches Institut der Universität Göttingen, Photo Stephan Eckardt". Quelle: http://viamus.uni-goettingen.de/fr/e/uni/c/06/01
- Chrysipp (zum Vergrößern bitte anklicken).
- Seneca (zum Vergrößern bitte anklicken).
- Der logische Schluss / Diogenes. Zum Vergrößern bitte anklicken. Grafik: Petra von Gemünden.
- Die scala naturae. Zum Vergrößern bitte anklicken. Grafik: Petra von Gemünden.
- Dreiteilung der Wertelehre. Zum Vergrößern bitte anklicken. Grafik: Petra von Gemünden.
- Differenzierung der Adiaphora. Zum Vergrößern bitte anklicken. Grafik: Petra von Gemünden.
- gute Handlungen - Fehlhandlungen. Zum Vergrößern bitte anklicken. Grafik: Petra von Gemünden.
- pathē - eupatheia. Zum Vergrößern bitte anklicken. Grafik: Petra von Gemünden.
- Kreise des Hierokles (zum Vergrößern bitte anklicken). Grafik: Petra von Gemünden.
- Justus Lipsius (zum Vergrößern bitte anklicken).
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