Deutsche Bibelgesellschaft

(erstellt: Juli 2020)

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1. Timotheus im Neuen Testament

Paulus verstand sich selbst als „priesterlichen Diener Christi Jesu für die Völker“ (Röm 15,14). Sein Anspruch war es, das Evangelium überall dort zu verkünden, „wo Christus nicht bekannt war“ (Röm 15,20) – sein Missionsprogramm umfasste die ganze heidnische Welt: „So habe ich von Jerusalem aus in weitem Umkreis bis nach Illyrien überall das Evangelium Christi zur Erfüllung gebracht“ (Röm 15,19b), wie Paulus im Jahr 56 n.Chr. aus Korinth schreibt. Er sieht seine Mission im Osten als abgeschlossen an und blickt voraus nach Spanien (vgl. Röm 15,23-24). Im Rahmen seiner Missionstätigkeit musste Paulus viel reisen; besonders die Jahre 48-56 n. Chr. waren Jahre intensiver Reisetätigkeit. Das Missionswerk des Paulus war aber nicht nur auf die Gründung von Gemeinden begrenzt. So fühlte sich der Apostel verantwortlich für die Geschicke der von ihm gegründeten Gemeinden und für die Vernetzung der Gemeinden untereinander. Um dieses Missionsprogramm – die Gründung der Gemeinden, das Aufrechterhalten der Kontakte mit ihnen und den Austausch der Gemeinden untereinander – zu verwirklichen, musste Paulus ein Netz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufbauen. Seine Briefe erwähnen eine Vielzahl von solchen Mitarbeitern, die auf verschiedene Weise die Missionstätigkeit des Paulus unterstützten: Von einem Mitverfasser der Briefe bis zur gelegentlichen „Aushilfe“ werden über 40 Mitarbeiter des Paulus namentlich angeführt. Sein engster Mitarbeiter war jedoch ohne Zweifel Timotheus. Informationen über ihn findet man in den Paulusbriefen, in der Apostelgeschichte sowie im nachpaulinischen Schrifttum. Obwohl diese Informationen nicht ausreichen, um eine vollständige Biographie des Timotheus zu rekonstruieren, bieten sie dennoch ein zuverlässiges Zeugnis über die herausragende Rolle dieses Mannes im Missionswerk des Paulus.

Paulus hatte viele Mitarbeiter. Von einigen trennte er sich im Laufe seiner Missionstätigkeit wieder (Silas, Barnabas), und viele wirkten auch unabhängig von ihm (Apollos). Vielleicht beschwert sich Paulus genau darüber, wenn er in Phil 2,21, Timotheus lobend, schreibt: „… denn alle suchen ihren Vorteil, nicht, was Jesu Christi ist“. Mit der Person des Timotheus stieß er dann aber wohl auf einen Mitarbeiter, den er vorher lange nicht hatte finden können. Apg 16 weist darauf hin, dass auch Lukas verstanden hatte, wie wichtig die Begegnung mit Timotheus für Paulus war und bezeugt darüber hinaus die Tatsache, dass er der Begleiter des Paulus wurde (vgl. Apg 16,1-3: die ausführlichste Notiz über Timotheus in der Apostelgeschichte). Dass Timotheus wohl der wichtigste und der vertrauteste Mitarbeiter des Paulus war, ist an mehreren Indizien ablesbar: Er wird als Mitabsender zahlreicher Briefe genannt (vgl. 2Kor 1,1; Phil 1,1; 1Thess 1,1; Phlm 1; vgl. auch Kol 1,1; 2Thess 1,1), begleitete Paulus auf seinen Reisen und wurde von ihm regelmäßig mit verschiedenen Aufträgen auf Reisen gesandt. Paulus betrachtete ihn als seinen „Mit-Missionar“. Außerdem bezeichnet Paulus Timotheus als seinen Sohn („wie einen Sohn“, 1Kor 4,17), „Bruder“ (z.B. 2Kor 1,1), „Knecht Christi“ (Phil 1,1) und „Mitarbeiter“ (1Thess 3,2; Röm 16,21). Bemerkenswert ist, dass er jedoch nirgends direkt als „Apostel“ bezeichnet wird; eventuell wird Timotheus indirekt in 1Thess 2,7 unter der Gruppe der Apostel subsumiert. Auch in der Apostelgeschichte tritt Timotheus als wichtiger Mitarbeiter des Paulus auf, allerdings ohne die prominente Stellung, die er in den paulinischen Briefen einnimmt, in denen er „bevollmächtigter Vertreter des Apostels Paulus“ und „die rechte Hand des Apostels“ (von Lips) ist.

1.1. Timotheus in den Paulusbriefen

1.1.1. Der erste Brief an die Thessalonicher

Die erste Nennung des Timotheus findet sich im 1. Thessalonicherbrief, dem ältesten erhalten gebliebenen Paulusbrief, entstanden in Korinth in den Jahren 50 / 51 n. Chr. Bei Abfassung des Briefes befindet sich Timotheus bei Paulus in Korinth und wird im Präskript als Mitverfasser genannt: „Paulus, Silvanus und Timotheus an die Kirche der Thessalonicher …“ (1Thess 1,1). In 1Thess 3,1-2 berichtet Paulus, dass er Timotheus aus Athen nach Thessaloniki gesandt hat: „… wir beschlossen, allein in Athen zurückzubleiben, und schickten Timotheus, unseren Bruder und Gottes Mitarbeiter am Evangelium Christi, um euch zu stärken und in eurem Glauben aufzurichten …“ Gleich danach berichtet Paulus, dass Timotheus zurückgekehrt ist: „Inzwischen ist aber Timotheus von euch zu uns zurückgekommen und hat uns gute Nachricht von eurem Glauben und eurer Liebe gebracht …“ (1Thess 3,6). Die erste uns bekannte Reise des Timotheus im Auftrag des Paulus führte also von Athen nach Thessaloniki. Lukas berichtet in der Apostelgeschichte, dass Timotheus und Silas nicht mit Paulus nach Athen zogen, sondern in Beröa blieben (vgl. Apg 17,14). Laut Apg 18,5 treffen Silas und Timotheus „aus Mazedonien“ in Korinth ein. Unklar bleibt, ob hier die Rückkehr der beiden aus Beröa oder Thessaloniki gemeint ist. Auf jeden Fall erscheint Timotheus als Person, der Paulus eine wichtige Aufgabe anvertrauen kann. Die Reise des Timotheus bleibt in ihren Einzelheiten unbekannt, jedoch kann sie nach 1Thess 3,6 als erfolgreich gelten. Timotheus hat im Auftrag des Paulus die Gemeinde besucht und konnte gute Nachrichten nach Korinth bringen. Vielleicht ist der Inhalt des Briefes wesentlich vom mündlichen Bericht des Timotheus bestimmt.

1.1.2. Der erste Brief und der zweite Brief an die Korinther

Der erste Brief an die Korinther wurde in Ephesos verfasst, wahrscheinlich im Jahr 54 n. Chr. Timotheus war zu diesem Zeitpunkt wohl immer noch bei Paulus und sein Vertrauter und Gesandter. In 1Kor 4,17 schreibt Paulus: „Deswegen habe ich Timotheus zu euch geschickt, mein geliebtes und treues Kind im Herrn. Er wird euch erinnern an meine Wege in Christus Jesus, wie ich sie überall in jeder Gemeinde lehre“. Das Kommen des Timotheus wird ein zweites Mal in 1Kor 16,10-11 angekündigt: „Wenn Timotheus kommt, achtet darauf, dass ihr ihn nicht entmutigt; denn er arbeitet im Dienst des Herrn wie ich. Keiner soll ihn geringschätzen. Verabschiedet ihn dann in Frieden, damit er zu mir zurückkehrt; ich warte auf ihn mit den Brüdern“. Paulus schickt dabei keine unbekannte Person nach Korinth: Timotheus war bei der Gründung der Gemeinde anwesend (vgl. Apg 18,5), und auch während der Abfassung des ersten Thessalonicherbriefes war er wohl in Korinth. Trotzdem muss Paulus seine Hochschätzung des Timotheus den Korinthern gegenüber nachdrücklich betonen und sogar explizit verlangen, dass sie ihn ernst nehmen. Dies erklärt sich möglicherweise aus der schwierigen Situation in Korinth, in der wohl beinahe alles umstritten war und niemand mit einer vorbehaltlosen Aufnahme rechnen durfte. Zwar kam Timotheus als Gesandter des Paulus, was der „Paulusgruppe“ imponiert haben dürfte, nicht aber zwingend den anderen Gruppierungen in Korinth. Jedenfalls unterhielt Paulus eine intensive Kommunikation mit den Korinthern. In der Forschung wird mit mehr als den beiden kanonischen Briefen gerechnet, von denen manche verloren gegangen sein könnten. Alternativ könnten sie auch im Lauf der Überlieferungsgeschichte in die kanonischen Briefe integriert worden sein. Es ist zudem möglich, dass die Korinther auch selbst schriftlich mit Paulus kommuniziert haben. Sicher ist jedenfalls, dass auch persönliche Kontakte eine wichtige Rolle spielten (vgl. z. B. 1Kor 1,11). In diesem Zusammenhang ist auch die Sendung des Timotheus von Ephesos nach Korinth zu sehen (vgl. 1Kor 4,17). Aus 1Kor 4,17 und 1Kor 16,10 geht hervor, dass es sich um eine und dieselbe Reise des Timotheus nach Korinth handelt: Der Brief und Timotheus sind gemeinsam unterwegs nach Korinth, wo die Situation schwierig ist, es Spaltungen und offenbar viel Streit unter den Gemeindemitgliedern gibt. Mit seinem Brief reagiert Paulus dann auch auf diese Missstände, meint aber, dass die persönliche Anwesenheit des Timotheus eine zusätzliche Hilfe zur Lösung des Problems sein könnte. Timotheus sollte die Korinther wohl an die Weisungen des Paulus erinnern, an Prinzipien des christlichen Verhaltens, die überall gelten müssten (vgl. 1Kor 4,17). Paulus empfiehlt ihn im ersten Korintherbrief „als geliebtes und treues Kind“ (1Kor 4,17), „der arbeitet im Dienst des Herrn wie ich“ (1Kor 16,10). Die Korinther sollten Timotheus wie Paulus aufnehmen und behandeln, sein gesprochenes Wort („erinnern“) sollte den Brief verstärken und die paulinische Lehre in Korinth vergegenwärtigen. Wie diese Versöhnungs- und Lehrmission des Timotheus endete, ist nicht bekannt. Dass Timotheus aber zumindest einen gewissen Erfolg in Korinth hatte, darauf könnte seine Nennung als Mitverfasser des 2. Korintherbriefes hindeuten. Er wird dort im Präskript genannt: „Paulus, durch Gottes Willen Apostel Christi Jesu, und der Bruder Timotheus an die Kirche Gottes, die in Korinth ist …“ (2Kor 1,1). Etwas später wird dann der Name des Timotheus auch innerhalb einer christologischen Aussage genannt: „Denn Gottes Sohn Jesus Christus, der euch durch uns verkündet wurde – durch mich, Silvanus und Timotheus –, ist nicht als Ja und Nein zugleich gekommen; in ihm ist das Ja verwirklicht“ (2Kor 1,19). Die Erwähnung des Paulus und seiner Mitarbeiter in diesem Kontext ist nicht als lediglich beiläufig zu verstehen. Vielmehr werden die Korinther einerseits an die Anfänge ihrer Gemeinde erinnert (vgl. Apg 18,5), andererseits an die Übereinstimmung der drei Missionare untereinander in ihrer Verkündigung. Es handelt sich um eine einheitliche Botschaft, die so dem „Ja“ Gottes in Jesus Christus entspricht. Im zweiten Korintherbrief ist Timotheus also nicht nur als Mitverfasser genannt, sondern fungiert als Garant der einheitlichen Botschaft: Der Satz „der euch durch uns verkündet wurde“ bezieht sich auf das einheitliche missionarische Werk des Paulus und seiner Mitarbeiter.

1.1.3. Der Brief an die Philipper

Timotheus wird weiterhin genannt als Mitverfasser des Briefes an die Philipper: „Paulus und Timotheus, Knechte Christi Jesu, an alle Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi sind …“ (Phil 1,1). Dann folgt die ausführlichste Äußerung des Paulus zu Timotheus überhaupt: „Ich hoffe aber in Jesus, dem Herrn, Timotheus bald zu euch schicken zu können, damit auch ich ermutigt werde, wenn ich erfahre, wie es um euch steht. Denn ich habe keinen Gleichgesinnten, der so aufrichtig um eure Sache besorgt ist; denn alle suchen ihren Vorteil, nicht, was Jesu Christi ist. Ihr wisst ja, wie er sich bewährt hat: Wie ein Kind dem Vater – so hat er mit mir zusammen dem Evangelium gedient. Diesen also hoffe ich schicken zu können, sobald ich meine Lage übersehe“ (Phil 2,19-23).

Paulus befindet sich zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich im Gefängnis (vgl. Phil 1,7, Phil 1,14 und Phil 1,17), ob in Rom oder Ephesos soll hier nicht diskutiert werden. Von dort kündigt er der Gemeinde an, dass er Timotheus bald nach Philippi schicken werde. Er will also, dass die Gemeinde durch Timotheus von seiner Lage benachrichtigt wird. Es geht nicht nur darum, dass Timotheus die Gemeinde stärkt und ermutigt, sondern an dieser Stelle auch um einen echten Informationsaustausch. Die Atmosphäre scheint hier viel freundlicher zu sein als in Korinth (vgl. 1Kor 16,10), und Paulus scheint nicht anzunehmen, dass Timotheus in Philippi Schwierigkeiten haben könnte.

1.1.4. Der Brief an die Römer

Die letzte Information über Timotheus im literarischen Werk des Paulus befindet sich im Römerbrief. Auf der Liste der Personen, die bei Paulus sind, und von denen Paulus die Römer grüßen lässt, befindet sich auch Timotheus, der als erster genannt wird: „Es grüßen euch Timotheus, mein Mitarbeiter …“ (Röm 16,21). Im Jahre 56 n. Chr., als der Römerbrief verfasst wurde, befindet sich Timotheus bei Paulus in Korinth. Er wird nicht als Mitverfasser genannt, vielleicht aber nur deshalb, weil Paulus an eine ihm selbst unbekannte Gemeinde in Rom schrieb.

1.2. Timotheus in der Apostelgeschichte

In der Apostelgeschichte gibt es nur ein paar wenige Notizen über Timotheus. Die erste Erwähnung ist wichtig, weil sie die Herkunft des Timotheus und die erste Begegnung mit Paulus thematisiert. Als Paulus nach Lystra kommt, trifft er dort nach Aussage der Apg „einen Jünger namens Timotheus“, den Sohn einer gläubig gewordenen Jüdin und eines Griechen: „Er war Paulus von den Brüdern in Lystra und Ikonion empfohlen worden“ (Apg 16,1-2). Aus dieser Notiz lässt sich schließen, dass Timotheus bereits Christ war. Vielleicht war er (oder seine Mutter) auf der ersten Missionsreise des Paulus zum Glauben an Jesus Christus bekehrt worden (vgl. 1Kor 4,17). Weiter wird berichtet, dass Paulus Timotheus als Begleiter mit sich nehmen wollte und ihn „mit Rücksicht auf die Juden“ beschneiden ließ (vgl. Apg 16,3). In der Forschung ist umstritten, ob Lukas hier eine historisch glaubwürdige Information wiedergibt. Es ist kaum vorstellbar, dass Paulus auf einer solchen Praxis bestanden hätte, zumal er sich vorher bereits ausdrücklich für Minimalforderungen für Heidenchristen eingesetzt hat. Vielmehr ist hier wohl eine lukanische Tendenz festzustellen, vielleicht mit dem Ziel, Paulus, der immer zuerst in der jüdischen Synagoge predigt, auch einen beschnittenen Begleiter an die Seite zu stellen. Paulus nimmt Timotheus jedenfalls mit, und die verwendete Formulierung suggeriert darüber hinaus eine dauernde Begleitung. In den übrigen Texten der Apostelgeschichte wird Timotheus nur als Mitglied einer Gruppe angeführt (mit Silas in Apg 17,14v15 und Apg 18,5; mit Erastus in Apg 19,22 und mit einer größeren Gruppe in Apg 20,4). Auf der Liste der Namen in Apg 20,4 fällt auf, dass Timotheus ohne expliziten Bezug zu einer bestimmten Gemeinde genannt wird (in diesem Fall ohne Bezug zu Lystra), was bedeuten könnte, dass er sich als ein stabiler Mitarbeiter des Paulus etabliert hat, sodass ihn auch Lukas nicht als Gesandten einer bestimmten Gemeinde betrachtet. Dennoch wird Timotheus in fast allen Texten der Apostelgeschichte keine Sonderstellung zugewiesen. Insgesamt wird die Rolle des Timotheus in der Missionstätigkeit des Paulus in der Apostelgeschichte im Vergleich zu den Paulusbriefen weniger deutlich beschrieben – die Person des Timotheus bleibt „ohne Farbe“ (Ollrog).

1.3. Timotheus in den Pastoralbriefen

Die kanonischen Timotheusbriefe gehören zu den deuteropaulinischen Briefen. Sowohl der Autor als auch der Adressat Timotheus sind fiktiv. Dennoch sind die Briefe ein Zeugnis der Sonderstellung der Person des Timotheus in der paulinischen Tradition. Nach den Pastoralbriefen wurde Timotheus von Großmutter und Mutter bereits von Kindheit an in der Kenntnis der jüdischen Schriften unterwiesen (vgl. 2Tim 3,14-15). Der Adressat Timotheus befindet sich nun in Ephesus (vgl. 1Tim 1,3; 2Tim 1,8 und 2Tim 4,12), wo er seinen Dienst als Gemeindeleiter ausübt. Seine Aufgaben sind es, die Irrlehrer zu bekämpfen und für die Ordnung in der Gemeinde zu sorgen. In 2Tim wird besonders das persönliche Verhältnis zwischen Paulus und Timotheus sowie seine Teilhabe am Leiden des Paulus betont. Der Brief beinhaltet viele persönliche Notizen, die manche Forscherinnen und Forscher für authentische Fragmente halten, die nachträglich in die fiktiven Briefe eingearbeitet wurden. Besonders auffällig ist der ausführliche Briefschluss (2 Tim 4,9-22) mit vielen persönlichen Mitteilungen und Aufträgen (vgl. 2Tim 4,9-18; 2Tim 4,20 und 2Tim 4,21).Als Ausgangssituation wird eine Verhaftung des Absenders Paulus in Rom vorausgesetzt (vgl. 2Tim 1,16-18). Die Frage ist jedoch, ob die Angabe des Aufenthaltsortes des Timotheus in Ephesus und seine Gemeindeleitung dort einen wichtigen Hinweis für die Interpretation der Briefe liefern kann. Die vorgestellte Situation ist wohl fiktiv und spiegelt die Realität einer viel späteren Zeit in die Zeit des Paulus zurück. Andererseits war Ephesus eine für Paulus wichtige Gemeinde, die zwar nicht von ihm selbst gegründet wurde und im Wirkungskreis der anderen (z.B. des Apollos, vgl. Apg 18,24-28) lag, in der er aber immerhin mehr als zwei Jahre verbrachte. Wahrscheinlich war Ephesus für Paulus ein Missionszentrum, von dem aus er in Kleinasien missionarisch tätig sein konnte. Die Gemeinde in Ephesus war aber auf keinen Fall nur paulinisch geprägt; das Wirken des Apollos, die judenchristliche Prägung der Offenbarung des Johannes (vgl. Apk 2,1-7) und generell die Anwesenheit eines „johanneischen Christentums“ dort zeigen Ephesus deutlich als einen Ort, an dem viele theologische Traditionen und Strömungen florierten. Es ist auch kein Zufall, dass in der Forschung die beiden „Schulen“ – d.h. die paulinische und die johanneische – gerade in Ephesus vermutet werden. Deswegen kann angenommen werden, dass der Autor der Timotheusbriefe Ephesus absichtlich als eine Art Arena wählt, in der Timotheus die Aufgabe hat, die paulinische „Tradition“ gegenüber anderen zu profilieren und zu verteidigen. Timotheus sollte entschlossen gegenüber Irrlehren auftreten, ethische Unterweisungen für das Alltagsleben geben und dafür sorgen, dass die Regeln der Gemeinde in der Praxis auch eingehalten werden.

1. 4. Timotheus in den übrigen neutestamentlichen Schriften

Timotheus wird zudem noch in zwei anderen deuteropaulinischen Briefen erwähnt: im zweiten Thessalonicherbrief und Kolosserbrief, sowie zusätzlich im Hebräerbrief. In den beiden Deuteropaulinen wird Timotheus im Präskript als Mitverfasser genannt (vgl. Kol 1,1 und 2Thess 1,1). Die Nennung des Timotheus in 2Thess erklärt sich aus der Anlehnung an 1Thess, wo Timotheus als Mitverfasser angeführt wird (vgl. 1Thess 1,1), während die Nennung im Kolosserbrief mit dessen Anlehnung an den Philemonbrief erklärt werden kann. Hier ist eine wörtliche Entsprechung festzustellen: „Timotheus, der Bruder“ (vgl. Phlm 1,1). Auch im Hebräerbrief wird der „Bruder Timotheus“ erwähnt, er sei „wieder frei“, mit ihm will der Autor die Adressaten besuchen (vgl. Heb 13,22-23). Die Erwähnung des Timotheus im sonst anonymen Hebräerbrief ist entweder mit einer bewussten Andeutung des paulinischen Hintergrunds des Briefes oder mit einer älteren Überlieferung über den Aufenthalt des Timotheus in Rom (vgl. 2Tim 4,21) zu erklären.

2. Timotheus: Wirkungsgeschichte

2.1. Timotheusakten

Im Text der Timotheusakten, die auf Griechisch und Latein überliefert sind, sind im Laufe der Geschichte viele Erweiterungen und Ergänzungen nachzuverfolgen (überwiegend stammen diese wohl aus dem 9. und 10. Jh.). Die lateinische Übersetzung der Akten gibt den Namen Polykrates als Autor an, der Ende des 2. Jh. Bischof von Ephesus war. Es ist aber unwahrscheinlich, dass die Timotheusakten bereits so früh entstanden sind; eine Datierung auf die Mitte des 4. Jh. ist wahrscheinlicher. Der Autor ist vermutlich dennoch ein Epheser, den die Tradition nachträglich mit Polykrates identifiziert hat. Die Schrift verbindet 1Tim 1,3 (Timotheus in Ephesos) und die Tradition, nach der Timotheus der erste Bischof von Ephesos war (vgl. Eusebius, h.e. 3,4,3). Der Gattung nach sind die Timotheusakten eigentlich ein Martyrium, die beschriebenen Geschehnisse werden zeitlich in die Herrschaft von Nero, Domitian und Nerva eingeordnet. Kenntnisse der Apostelgeschichte und Pastoralbriefe werden vorausgesetzt. Timotheus wird jedoch in den Timotheusakten nicht nur als Jünger des Paulus dargestellt, sondern auch als Augenzeuge und Schüler des Apostels Johannes. Unter anderem wird von der Entstehung des Johannesevangeliums berichtet. Weiter erzählen die Timotheusakten, dass Timotheus in der Zeit, als Johannes unter Domitian nach Patmos verbannt wird, Bischof von Ephesos ist. Weil er gegen die Götzendienste protestiert – konkret während der Tage des Festes der Katagogien –, wird er von der Menge gesteinigt und stirbt wenig später auf dem Berg Pion. Am Schluss der Akten wird auch das Datum des Märtyrertodes des Timotheus angegeben: „drei Tage nach den sog. Katagogien, das ist nach asiatischer Zeitrechnung der 30. des vierten Monats, nach römischer Zeitrechnung der 22. Tag des Monats Januar“.

2.2. Andere Zeugnisse

Darüber hinaus gibt es viele legendarische Timotheustraditionen, von denen an dieser Stelle nur einige erwähnt werden sollen: So berichtet Epiphanius über die Mission des Timotheus in Illyrien und ganz Griechenland, während die Petrusakten berichten, dass Timotheus in Rom war, bis er später von Paulus nach Makedonien gesandt wurde. Auch Pseudo-Dionysios (6. Jh. n. Chr.) widmet dem Timotheus einige Schriften. Die Person des Timotheus hat also viele christliche Schriftsteller inspiriert, einerseits, weil er unbestritten der engste Mitarbeiter des Paulus war, und anderseits, weil sehr viele Details seines Lebens unbekannt geblieben sind und diese Leerstellen vortrefflich mit Legenden gefüllt werden konnten.

Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis

  • Von Lipps, H., 32016, Timotheus und Titus. Unterwegs für Paulus (Biblische Gestalten 19), Leipzig
  • Ollrog, W.-H., 1979, Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zur Theorie und Praxis der paulinischen Mission (WMANT 50), Neukirchen-Vluyn
  • Reinhold, R., 1991, Kommunikation und Gemeindeaufbau. Eine Studie zu Entstehung, Leben und Wachstum paulinischer Gemeinden in den Kommunikationsstrukturen der Antike (SBB 22), Stuttgart
  • Bönig, M., 1980, Wir haben die Welt erobert. Die Mitarbeiter des Apostels Paulus, Witten
  • Zamagni, C., 2005 “Actes de Timothée.” in Écrits apocryphes chrétiens (Vol. 2). ed. by Pierre Geoltrain and Jean-Daniel Kaestli (Bibliothèque de la Pléiade 516: Gallimard), Paris, 587-601

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