Timotheusbriefe
(erstellt: März 2020)
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1. Die Timotheusbriefe als Teil des „Corpus Pastorale“
Die beiden Timotheusbriefe gehören zu den sogenannten „Pastoralbriefen“, die im Kanon des Neuen Testaments eine Sonderstellung einnehmen („Corpus Pastorale“). Die Bezeichnung „Pastoralbriefe“ stammt aus dem 18. Jahrhundert und zielt auf das ganz eigene Profil der drei Briefe: sie sind nicht an Gemeinden adressiert (wie dies bei Paulus fast immer der Fall ist), sondern an die Gemeindeleiter Timotheus und Titus, die in den Briefen pastorale Anweisungen für die Gemeindeleitung erhalten. Es handelt sich um eine Briefsammlung (1Tim, 2Tim, Tit), die als pseudepigraphisch zu betrachten ist, also um eine spätere, historisch nicht mit letzter Sicherheit einzuordnende Interpretation des theologischen Gedankenguts des Paulus. Die Anbindung an Paulus wird explizit thematisiert (durch die Nennung des Namens des Apostels Paulus in den Präskripten) und beruht zudem auf zahlreichen Rückgriffen auf die authentischen Briefe des Paulus. Die Pastoralbriefe weisen viele Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen untereinander auf (z.B. den Anspruch auf paulinische Verfasserschaft, eine ähnliche Sprache und thematische Zusammenhänge), so dass man sie als eine Sammlung lesen kann, obwohl die kanonische Reihenfolge vermutlich nicht ihrer chronologischen Entstehung und Einordnung entspricht. Wahrscheinlich ist die folgende ursprüngliche Reichenfolge: Tit – 1Tim – 2Tim, wobei 2Tim eine Art literarisches Testament darstellt. In jüngster Zeit hat man dennoch auf das je eigene Profil jedes einzelnen Briefes aufmerksam gemacht und damit die Idee eines zusammenhängenden Corpus Pastorale in Frage gestellt. Diese These überprüft kritisch traditionelle historisch-kritische Einsichten: So wird z.B. die Verfasserfrage neu gestellt oder die Art der Pseudepigraphie einzelner Briefe beleuchtet. Auch die Möglichkeit, die Pastoralbriefe als einen auf einer fortlaufenden Erzählung basierenden Briefroman zu lesen, ist diskutiert worden. Die Timotheusbriefe gehören also in jedem Fall zu einer Sammlung dreier Briefe; 1Tim und 2Tim bilden aber – gleich ob chronologisch oder in kanonischer Reihenfolge angeordnet – ein Briefpaar.
1.1. Verfasserfrage, Zeit und Ort
Der Abfassungsort der Pastoralbriefe ist ebenso schwierig zu bestimmen. In Bezug zur Raumkonstellation ist die Orientierung in Richtung des östlichen Mittelmeerraums deutlich. Als mögliche Entstehungsorte werden Ephesus, Makedonien, Kreta, Nikopolis und Rom genannt. 2Tim erwähnt noch Ikonium, Lystra, Thessaloniki, Troas, Korinth, Milet, die Provinz Asien, Galatien und Dalmatien. Andere Orte bleiben unberücksichtigt. Syrien und Palästina werden nicht erwähnt, ebenso wenig die für Paulus wichtige Stadt Jerusalem.
Die genannten Orte weisen deutlich auf nichtjüdische Christen und Diasporajudentum hin. Wenn man davon ausgeht, dass alle drei Pastoralbriefe etwa zur gleicher Zeit und am gleichem Ort entstanden sind, werden entweder Rom (etwa aufgrund von Berührungspunkten zum 1Clem) oder Ephesos / Kleinasien (1Tim 1,3
1.2. Der Adressat: Timotheus als Gemeindeleiter in Ephesos
1.3. Die beiden Timotheusbriefe: Gattung und Aufbau
Der literarischen Gattung nach sind die beiden Timotheusbriefe unterschiedlich zu beurteilen. 1Tim zeigt in dieser Hinsicht mehr Gemeinsamkeit mit dem Titusbrief als mit 2Tim. 1Tim und Tit können „als briefliche Instruktionen an weisungsbefugte Amts- und Mandatsträger durch ihren Mandaten“ (mandata principis, Wolter) verstanden werden, während 2Tim eher „testamentarisches Mahnschreiben in Form eines Freundschaftsbriefes“ (Weiser) ist. Die Zugehörigkeit der Timotheusbriefe zur Sammlung der Pastoralbriefe kann sowohl für die Gattungsbestimmung als auch für die angezeigte Lektüre der Briefe im Fokus stehen. Eine Möglichkeit ist es, in der Sammlung auf Elementen eines Briefromans zu fokussieren und sie als fortlaufende Erzählung zu lesen, zumal die Pastoralbriefe durchaus Charakteristika des antiken Briefromans zeigen. In diesem Fall würde 2Tim als Abschiedsbrief fungieren.
Abgesehen davon sind die beiden Timotheusbriefe vom Aufbau her zunächst als Briefe zu betrachten. 1Tim hat eine klar erkennbare Struktur: Briefeingang (1Tim 1,1-20
1.4. Die paulinische Tradition und die eigene Theologie der Timotheusbriefe
Der Autor der Timotheusbriefe rezipiert die Theologie des Paulus, die er aus einigen authentischen Paulusbriefen kennt. Er verfügt über eine Briefsammlung des Paulus, wahrscheinlich Röm, 1 und 2Kor, Phil, Phlm, eventuell auch Gal. Obwohl die Theologie des Paulus in Grundzügen erkennbar ist, entwickelt der Autor eine eigene Theologie. Anlehnungen an und Verschiebungen gegenüber Paulus sind sowohl im Bereich der theologischen Aussagen, als auch im Bereich der Gemeindeordnung und der Ethik festzustellen. Ob die Briefe als in der Paulustradition stehend verstanden werden sollten (Wolter) oder man sie eher als Ansätze einer Paulusrezeption betrachten sollte, bleibt eine bislang unbeantwortete Frage. Jedenfalls ist in 1 und 2Tim die Paulustradition bereits so intensiv interpretiert, dass viel dafür spricht, sie eher als Rezeption denn als Traditionsweitergabe zu verstehen. Anzumerken ist an dieser Stelle allerdings auch, dass „Tradition“ und „Rezeption“ nicht unbedingt als „Ursprung“ und „Wirkung“ verstanden werden sollten, sondern eher als „wechselseitiges Referenzsystem, das gleichsam durch eine intrapaulinische Rezeption paulinischer Tradition die Koordinaten der extrapaulinischen Rezeption verschiebt“ (Herzer).
1.4.1. Theologie und Christologie
Im Mittelpunkt des theologischen Diskurses der Timotheusbriefe befindet sich der Begriff der „Lehre“ (διδασκαλία didaskalia) – achtmal in 1Tim, dreimal in 2Tim. Dies ist ein auffallender Unterschied zu Paulus, der diesen Begriff selten verwendet (vgl. Röm 12,7
1.4.2. Ethik: Kirchenordnung und Gegnerpolemik
Der Verfasser der Timotheusbriefe orientiert sich an konventionellen Normen seiner Zeit (u.a. dem pietas-Ideal), mit dem Ziel, die soziale Integration der Gemeinden zu fördern (1Tim 2,2
Nach Standhartinger füllen die Pastoralbriefe „εὐσέβεια [eusebeia] inhaltlich nicht, sie setzen vielmehr ein Wissen darum, was εὐσέβεια konkret bedeutet, voraus“. Schlüsseltext ist dabei 1Tim 2,1-2
Die Polemik gegenüber den Gegnern durchzieht alle drei Pastoralbriefe. Die Frage, ob es sich in allen drei Briefen um eine einheitliche und dieselbe Gegnergruppe handelt oder man in jedem einzelnen Brief je einer verschiedenen Gegnerschaft begegnet, wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet.
Die Gegner werden meistens pauschal disqualifiziert, z.B. durch einen handfesten Lasterkatalog (2Tim 3,2-5
Innerhalb des Ordnungsdenkens fällt auf, dass das Amt mit einer für das Neue Testament einzigartigen Ausführlichkeit reflektiert wird. Bischofs- und Diakonenamt gehören selbstverständlich zur Ortskirche. Die Timotheusbriefe kennen eine Ordination der Amtsträger (1Tim 4,14
Die Formulierung „Ideal christlicher Bürgerlichkeit“ taucht bei Dibelius im Exkurs zu 1Tim 2,1-2
Allem Anschein nach sind die Timotheusbriefe in einer für die Gemeinden friedlichen Situation entstanden. Nach Überzeugung des Autors sollen die Christusanhänger ethisch und sozial integriert sein. Der umstrittene Begriff des Ideals christlicher Bürgerlichkeit umschreibt weiterhin am besten den theologischen Diskurs der Pastoralbriefe. Er beschreibt genau, wofür der Verfasser wirbt: ein Ideal des tugendhaften Lebens, das die Nicht-Christen zur Erkenntnis der christlichen Wahrheit bewegen soll. Im Prozess dieser Integration gibt es gewisse Störungen, die durch ein sehr heterogenes Christentum verursacht sind. Dieses kann schwerlich eine positive Rolle in der Gesellschaft spielen. Deswegen versucht der Autor, die „gesunde Lehre“ (Tit 2,1
2. Zusammenfassung: Die Pastoralbriefe in der jüngsten Forschung
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass für die Timotheusbriefe eine doppelte Fiktionalität charakteristisch ist: sowohl der Autor als auch der Adressat sind vermutlich fiktiv. Die Frage bleibt, inwiefern auch die dargestellte Situation fiktiv ist. Da eine zeitliche wie geographische Verortung der Briefe nur hypothetisch möglich ist, muss diese Frage offen bleiben. Die Briefe werden zusammen mit dem Titusbrief üblicherweise als deuteropaulinisch bezeichnet, auch als tritopaulinisch, je nachdem ob die Texte der zweiten oder der dritten Generation der (paulinischen) Christen zugeschrieben werden. Da der Entstehungskontext der Briefe nicht zweifelsfrei rekonstruierbar ist, hat die neuere Forschung die Pastoralbriefe aus verschiedenen Perspektiven neu untersucht und die Ergebnisse der Vergangenheit wenigstens teilweise in Frage gestellt. So wird es inzwischen nicht mehr als selbstverständlich erachtet, dass die drei Briefe von vornherein als Corpus verfasst wurden. Die Corpusthese wird von einigen AutorInnen abgelehnt, die davon ausgehen, dass die drei Briefe erst im Nachhinein zu einem Corpus zusammengeführt worden sind (Engelmann). Zudem gibt es auch den Versuch, 2 Tim (und Tit) als authentisch paulinisch zu verstehen, während 1 Tim in das späte 2 Jh. versetzt wird (Herzer). Obwohl dieser Zugang die Forschung der Pastoralbriefe etwas belebt und neue Diskussionen hervorgerufen hat, konnte er die Corpusthese nicht vollständig erschüttern. Das aufeinander abgestimmte Dreiercorpus bleibt nach wie vor ein adäquates Modell zur Erklärung der Pastoralbriefe.
In Teilen der amerikanischen Forschung sind die Stimmen, die für die Authenzität der Pastoralbriefe plädieren, zahlreicher und erfolgen unabhängig von der Stellung zur Corpusthese (z. B. L.T. Johnson, Ph. H. Towner, sowie H.-W. Neudorfer).
Auch das Verhältnis zum Corpus Paulinum wird neu bestimmt. So wird die These vertreten, die Pastoralbriefe seien im Zuge einer Neuedition des Corpus Paulinum entstanden, gehörten also von Anfang an zu diesem Corpus (Merz). Die Versuche die Pastoralbriefe als Briefroman und als eine zusammenhängende Erzählung zu lesen (z. B. als Briefroman N. Holzberg, R. I. Pervo, T. Glaser), werden auch weiterhin interessant bleiben, obwohl das Hauptargument gegen diesen Zugang nach wie vor das Fehlen entsprechender antiken Parallelen ist.
Insgesamt finden die Pastoralbriefe starkes Interesse in der Forschung. Sie sind ein bemerkenswertes Zeugnis der Geschichte christlicher Theologien, eine Momentaufnahme, in der das paulinische Erbe eine durchgehende Interpretation fand, um Antworten auf neue Gegebenheiten in den Gemeinden zu geben. Für den heutigen westlich geprägten und sensibilisierten Leser, sowie den Leser, der „die Mitte der Schrift“ eher anderswo im Neuen Testament verortet sieht, werfen die Pastoralbriefe viele Fragen auf. Ein Autor, der pseudonym, also versteckt, schreibt, von Ferne durch einen Vermittler Aufträge mittteilt, autoritativ und nicht dialogisch auftritt, Frauen- und Andersdenkenden gegenüber feindlich gesinnt ist, streng hierarchisch denkt, zum Opportunismus gegenüber dem Staat aufruft, eine starke Institutionalisierung fördert, seine Feinde mit (wenn auch fiktiven) Namen nennt und damit der Verachtung der Gemeinde ausliefert, wird vielen Lesern nicht gerade sympathisch vorkommen. Das alles scheint ziemlich weit entfernt von Jesus und Paulus zu sein. Dennoch sollte man den Pastoralbriefen nicht vorschnell Dekadenz unterstellen. Die Briefe sollten vielmehr zuerst für sich analysiert werden, ohne dass sofort äußere Kriterien formuliert werden, an denen sie gemessen werden. Offenbar ist der Autor der Pastoralbriefe der Meinung, dass das Überleben der Kirche und ihrer soteriologischen Botschaft nur möglich ist, wenn sie in die sie umgebende Gesellschaft integriert ist, indem sie die Grundwerte dieser Gesellschaft bejaht und übernimmt; wenn sie ihre Identität an die apostolische Autorität des Paulus bindet und kompromisslos gegen die „falsche Lehre“ kämpft. Es geht um den Versuch, Theologie verantwortlich und zeitgemäß zu betreiben, indem ein spezifisches Verständnis von Kirche entwickelt und umgesetzt wird. Erst in zweiter Linie können dann die Pastoralbriefe nach ihrer Theologie innerhalb des Kanons der Schrift kritisch befragt werden.
Literaturverzeichnis
- Engelmann, Manuela, 2012, Unzertrennliche Drillinge? Motivsemantische Untersuchungen zum literarischen Verhältnis der Pastoralbriefe (BZNW 192), Berlin
- Glaser, Timo, 2009, Paulus als Briefroman erzählt. Studien zum antiken Briefroman und seiner christlichen Rezeption in den Pastoralbriefen (NTOA/StUNT 76), Göttingen
- Herzer, Jens, 2013, Die Pastoralbriefe, in: F. W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen, 538-542
- Herzer, Jens, 2018, Paulustradition und Paulusrezeption in den Pastoralbriefen, in: J. Schröter / S. Butticaz / A. Dettwiler in collaboration with C. Paul (eds.), Receptions of Paul in Early Chistianity. The Person of Paul and his Writings through the Eyes of his Early Interpreters (BZNW 234), Berlin-Boston, 487-518
- Merz, Annette, 2004, Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe (NTOA 52), Göttingen-Freiburg (CH)
- van Nes, Jermo, 2018, Pauline Language and the Pastoral Epistles: A Study of Linguistic Variation in the Corpus Paulinum (Linguistic Biblical Studies 16), Leiden
- Roloff, Jürgen, 1988, Der erste Brief an Timotheus (EKK XV), Neukirchen-Köln
- Standhartinger, Angela, 2005, Eusebeia in den Pastoralbriefen: Ein Beitrag zum Einfluss römischen Denkens auf das entstehende Christentum, NT 48, 51-82
- Theobald, Michael, 2016, Israel-Vergessenheit in den Pastoralbriefen. Ein neuer Vorschlag zu ihrer historisch-theologischen Verortung im 2. Jahrhundert n.Chr. unter besonderer Berücksichtigung der Ignatiusbriefe (SBS 29), Stuttgart
- Weidemann, Hans-Ulrich, 2016, Die Pastoralbriefe, in: ThR 81, 353-403
- Weiser, Alfons, 2003, Der zweite Brief an Timotheus (EKK XVI/1), Ostfildern
- Wolter, Michael, 1988, Die Pastoralbriefe als Paulustradition (FRLANT 146), Göttingen
- Zamfir, Korinna, 2013, Men and Women in the Household of God. A Contextual Approach to Roles and Ministries in the Pastoral Epistles
, Göttingen
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