Vision
(erstellt: Mai 2021)
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1. Allgemeines
Auf der Textebene präsentiert das Neue Testament literarisch verfasste Visionen. Die Gattung der Vision wird durch Lemmata von sehen (ὁράω – horaō), erscheinen (ὤφθην – ōphthēn) oder Offenbarung (ἀποκαλύπτω – apokalyptō) angezeigt. Sie beschreibt ein Erlebnis, in welchem eine innerweltlich nicht ausweisbare, aus der Transzendenz auf die Seher und Seherinnen zukommende Offenbarung geschaut (und meist auch begleitend gehört) wird. Die geschilderte Vision kann in unterschiedlichen Situationen erlebt werden, sei es mitten im Tagesgeschehen (z.B. Lk 1,28
2. Paulusbriefe
In den frühesten Schriften des Neuen Testaments, den Paulusbriefen, treten vor allem die Ostervisionen hervor, in denen sich nach neutestamentlichem Verständnis der Gekreuzigte als Lebendiger zeigt. 1Kor 15,5-8
In der vorpaulinischen (1Kor 15,3
Den ältesten Bericht über Visionen des Auferstandenen bestätigen auch andere Autoritäten (1Kor 15,11
Paulus selbst ist freilich der einzige Augenzeuge, dessen eigene Aussage direkt überliefert ist. In 1Kor 15,8
Eine weitere Vision schildert eine Himmelsreise des Apostels (2Kor 12,2-5
Zeugnisse außerkörperlicher Erfahrungen werden bis heute dokumentiert und in z.B. Dorsch, Lexikon für Psychologie, an die Parapsychologie delegiert, die freilich die üblichen Methoden der Sozial-, Kultur- und Naturwissenschaften verwendet. Bei repräsentativen Umfragen gebe mehr als die Hälfte der Bevölkerung an, paranormale Phänomene aus eigener Erfahrung zu kennen –unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Bildung und Religion der Befragten. Intra- und interkulturell verbreitete Grundmuster paranormaler Erlebnisse seien Spukerscheinungen, Nahtod- und außerkörperliche Erfahrungen, Erscheinungen Verstorbener oder spontan auftretende Rückerinnerungen an angeblich „frühere Leben“. Die Parapsychologie suche nach sozial-, persönlichkeits- und neuropsychologischen Korrelaten solcher paranormalen Phänomene (Bauer). Eine neurowissenschaftliche Diskussion außerkörperlichen Erlebens findet sich z.B. in Karnath / Thier, 189-200.
Paulus argumentiert in diesem Text an korinthische Gemeindeglieder, die sich von charismatischen Erlebnissen paulinischer Gegner beeindrucken ließen, dass beeindruckende Visionen kein Anlass sind, sich religiös zu brüsten. Er selbst, der sich mit seiner Himmelsreise als vermeintlich beeindruckender Visionär ausweisen könnte, hält gegen eine pneumatisch-enthusiastische Visionstheologie die Paradoxie von der Macht der Schwachheit; in letzterer sei Gottes Gnade mächtig. Diesen theologischen Kerninhalt hat Paulus wiederum in einer schlichten Audition vom Kyrios vermittelt bekommen (2Kor 12,8-9
3. Evangelien und Apostelgeschichte
3.1. Synoptiker
Chronologisch folgen den Paulustexten die Visionen im Markusevangelium. Sie beziehen sich auf Jesus, der entweder selbst Visionär oder Inhalt der Vision ist. Drei entscheidende, christologische Auskunft gebende Visionen am Anfang, in der Mitte und am Ende des Markusevangeliums helfen, die Erzählung zu strukturieren. In Mk 1,9-11
Die vox dei bestätigt die Gottessohnschaft erneut in der Mitte der Erzählung auf einem Berg (sog. Verklärung), nachdem sich Jesus als Messias des Wortes und der Tat ausgewiesen hat und sich nach dem Bergabstieg auf den Weg nach Jerusalem begibt, der in seine Passion führt (Mk 9,2-13
Die bekannte traditionsgeschichtliche These Vielhauers (Vielhauer, 213), dass der Dreischritt von Taufe, Verklärung und Kreuzigung dem altägyptischen Thronbesteigungsritual entspreche (Apotheose, Präsentation und Inthronisation), konnte sich im Forschungsdiskurs nicht durchsetzen, da ägyptologisch zu bezweifeln ist, dass es solch ein Ritual überhaupt gab. Die Kreuzigungsszene ist jedoch auf andere Weise in die hier vorgeschlagene visionäre Dreierstruktur einzubeziehen: Vor jeder der drei Visionen verkündet eine menschliche Stimme ihre Einsicht, wer Jesus sei. Vor der Taufe ist es Johannes der Täufer (Mk 1,7
In der dritten Vision am leeren Grab am Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,1-8
In Mk 6,47-52
Matthäus und Lukas überliefern in ihrem jeweiligen Sondergut Visionserzählungen über ihre Markusvorlage hinaus. Die Erscheinungen des Auferstandenen werden nicht nur wie bei Markus vom Engel angekündigt, sondern als Begegnungserzählungen ausgestaltet. Damit gehen Matthäus und Lukas weiter als Markus über den schlichten ὤφθη-Bericht (ōphthē-Bericht) von 1Kor 15
In den Vorgeschichten des Matthäus- und Lukasevangeliums wird die Geburt Jesu durch Engelserscheinungen angekündigt und damit in ihrem heilsbedeutenden Anspruch legitimiert. In der matthäischen Vorgeschichte empfängt Josef vier Traumoffenbarungen, in der Gattung des Botentraums zur Sprache gebracht (Mt 1,20f
In den Engelsvisionen im Lukasevangelium erscheint der Engel Gabriel (vgl. Dan 8,16
Für die Frage nach dem historischen Jesus interessant ist die Vision Jesu über den Sturz des Satans in Lk 10,18
Die Seligpreisung des matthäischen Sondergutes Mt 5,8
3.2. Johannesevangelium
Das Johannesevangelium geht theologisch anders mit Visionen um. Es geht weniger um einzelne Visionserzählungen (Jesus als Visionär: Joh 1,48f
Bei Philo findet sich ähnliches theologisches Denken (freilich nicht christologisch), wenn er in Cngr 51 und Fug 208 den Namen „Israel“ anders als in Gen 32,29
Das Schauen Gottes im inkarnierten Logos/Jesus verdichtet sich am Ostertag, wenn die Jünger den Auferstandenen sehen (Joh 14,19
Der Auferstandene merkt freilich in der Erzählung vom ungläubigen Thomas kritisch zum Sehen an: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20,29
3.3. Apostelgeschichte
Apg 2,17-18
Träume und Traumdeutung hatten in der Antike eine hohe Bedeutung für die Sinnstiftung politischer und persönlicher Erfahrungen. Von Artemidorus von Daldis (ca. 2. Jh. n. Chr.) sind fünf Bücher zur Traumdeutung erhalten, die auf etliche Klassiker, die über Träume schrieben, rekurrieren, einschließlich Aristoteles, De somno et vigilia, und De insomnis (die meisten der Referenzwerke des Artemidorus sind verloren; weiteres in Trapp, 51-52). Auch Philo von Alexandrien widmet ein ganzes Werk, De somniis, den Träumen, fünf Bücher, von denen zwei erhalten sind. Er unterscheidet Träume, in denen Gott direkt spricht, von solchen, in denen Gott und Mensch zusammenwirken, und von solchen, die allein aus dem Inneren des Menschen kommen.
Neben Traumvisionen leiten Visionen im Wachszustand Weichenstellungen für die Evangeliumsverbreitung ein. Eine Praxisanleitung für universales Öffnen des Evangeliums empfängt Petrus in der ekstatischen Vision von Apg 10,9-16
Visionen treten zudem an einem Wendepunkt in der Biographie eines Handlungstragenden auf. Stephanus sieht vor seiner Steinigung den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes (Apg 7,56
Paulus Vision vor Damaskus wird prominent dreimal mit leichten Variationen erzählt (Apg 9,3-8
4. Offenbarung des Johannes (Apokalypse)
Die Offenbarung (Apokalypse) des Johannes beansprucht, als ganze Schrift durch Christus vermittelte göttliche ἀποκάλυψις (apokalypsis – Enthüllung / Offenbarung; zur Frage der Übersetzung siehe Alkier / Paulsen 2020) zu sein (Apk 1,1
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1933–1979
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977–2004
- Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart u.a. 21992
- Der Neue Pauly, Stuttgart / Weimar 1996–2003
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998–2007
2. Weitere Literatur
- Alkier, S./Paulsen, Th., Die Apokalypse des Johannes. Neu übersetzt (FNT 1), Frankfurt 2020
- Aune, D., Art. Johannes-Apokalypse/Johannesoffenbarung, I. Exegetisch, RGG4 4 (2001), 540–547
- Bauer, E., Art. Parapsychologie, Dorsch. Lexikon der Psychologie, M. A. Wirtz (Hg.), 2020; abgerufen am 05.04.2020, von https://portal-hogrefe-com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/dorsch/parapsychologie/
- Bultmann, R., Geschichte der synoptischen Tradition. Mit einem Nachwort von Gerd Theißen, Göttingen 101995
- Frenschowski, M., Art. Vision I.-V. NT., TRE 35 (2003),117–147
- Gnilka, J., Das Evangelium nach Markus. Mk 8,2–16,20 (EKK II/2), Zürich/Einsiedeln/Köln 1979
- Guttenberger, G., Ophthe. Der visuelle Gehalt der frühchristlichen Erscheinungstradition und mögliche Folgerungen für die Entstehung und Entwicklung des frühchristlichen Glaubens an die Auferstehung Jesu, in: BZ NF 52 (2008), 40–63 und 161–173
- Heininger, B., Paulus als Visionär. Eine religionsgeschichtliche Studie, Freiburg i. Br. 1996
- Heininger, B., Art. Vision/Visionsbericht, RGG4 8 (2005), 1129–1130
- Karnath, H.-O./Thier, P., Kognitive Neurowissenschaften, Berlin/Heidelberg 32012
- Klein, H., Das Lukasevangelium. Übersetzt und erklärt von Hans Klein, Göttingen 102006
- Konradt, M., Das Evangelium nach Matthäus. Übers. und erklärt von Matthias Konradt (NTD 1), Göttingen 2015
- Lampe, P., Die Wirklichkeit als Bild. Das Neue Testament als ein Grunddokument abendländischer Kultur im Lichte konstruktivistischer Epistemologie und Wissenssoziologie, Neukirchen-Vluyn 2006
- Lampe, P., Protestierende Politpropheten und Provinzemanzen, in: ders., Küsste Jesus Magdalenen mitten auf den Mund? Provokationen - Einsprüche – Klarstellungen, Neukirchen-Vluyn 2007, 26–40
- Liess, K., Der Weg des Lebens. Psalm 16 und das Lebens- und Todesverständnis der Individualpsalmen (Forschungen zum AT 2/5), Tübingen 2004
- Theißen, G., Psychologische Aspekte Paulinischer Theologie, Göttingen 21993
- Theissen, G., Erkennen und Erleben. Beiträge zur psychologischen Erforschung des frühen Christentums, Gütersloh 2007
- Theißen, G./Merz, A., Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 42011
- Trapp, M., Art. Artemidorus, Der Neue Pauly II (1997), 51–52
- Vielhauer, P., Erwägungen zur Christologie des Markusevangeliums, in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament (ThB 31), München 1965, 199–214
- Wallace, J.B., Snatched into Paradise (2 Cor 12:1–10). Paul's Heavenly Journey in the Context of Early Christian Experience, Berlin 2012
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