Deutsche Bibelgesellschaft

Amenemope, Lehre des

Andere Schreibweise: Amenope

(erstellt: November 2009)

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1. Gattung

Die ägyptische „Lehre des Amenemope“ gehört zur Gattung der Weisheitstexte, die die Ägypter „Lehren“ nannten, wie ihr Titel „Lehre … für das Leben” beweist. Diese Texte enthalten in der Regel kurze Sprüche über das richtige Verhalten in verschiedenen Lebenslagen; gattungsmäßig sind sie den Weisheitsbüchern der Bibel ähnlich (→ Sprüchebuch; → Weisheitliche Gattungen; → Weisheitlich).

2. Verfasser

Anders als die meisten ägyptischen Texte nennen die „Lehren“ den Namen des Verfassers. Der Autor unseres Textes wird als Amenemope, Sohn des Kanakht (1,11; die Referenzen auf Amenemope beziehen sich auf die Kolumnen- und Zeilennummern der Handschrift BM 10474) eingeführt, mit vielen Titeln, von denen die meisten aber keinen amtlichen Charakter haben. Er ist sonst unbekannt.

3. Bedeutung

Die „Lehren“ waren bei den Ägyptern immer beliebt. Sie sind vom Ende des Alten Reiches bis zur Römerzeit bezeugt und wurden in der Ausbildung der Schreiber benutzt, wie die große Anzahl von Auszügen zeigt, die von Schülern auf Ostraka oder Holztafeln kopiert wurden. Die „Lehre des Amenemope“ nimmt unter diesen Texten einen besonderen Platz ein. Sie ist der letzte bekannte neuägyptische Text dieser Gattung, zugleich ist nur die „Lehre des Papyrus Insigner“ länger, die in der Spätzeit und auf Demotisch geschrieben wurde; als einzige hat sie auch einen Widerhall in der Bibel.

4. Quellen

Zum Glück besitzen wir den ganzen Text in einem schön geschriebenen Papyrus, der im British Museum in London aufbewahrt wird (P. BM 10474). Die anderen Textzeugen enthalten jeweils nur Teile der „Lehre“. Es gibt folgende Textzeugen:

  • der Papyrus British Museum BM 10474 (der den gesamten Text enthält),
  • der Papyrus Stockholm MM 18416,
  • die Tafel Louvre AE / E 17173,
  • die Tafel Turin N. 58005,
  • die Tafel Turin N. 58001,
  • die Tafel Moskau I 1 δ 324,
  • das Ostrakon Kairo, vorläufige Nr. 1840,
  • ein Graffito auf einer Wand des Tempels von Medinet Habu.

Die Haupthandschrift der „Lehre des Amenemope“ (BM 10474) und einige andere Textzeugen sind stichisch geschrieben, d.h. jeder Vers nimmt eine eigene Zeile ein. Diese unter den alten Texten seltene Art der Schreibung ermöglicht es uns, Prosodie und Struktur der ägyptischen Verse zu analysieren. Der Text besteht aus dreißig Kapiteln, die jeweils zwischen 6 (Kap. 28) und 36 Verse (Kap. 6 und 9) enthalten. Die Kapitel sind nummeriert, tragen aber keine Titel.

5. Inhalt und Gliederung

Die „Lehre des Amenemope“ beginnt mit einem langen Prolog (2 1/2 Spalten); dieser stellt die Themen des Buches vor, dann den Autor mit seiner langen Reihe von Titeln und schließlich den Empfänger, nämlich den Sohn. Nach inhaltlichen Kriterien und Wortschatz kann man den Inhalt des Buches in drei Abschnitte von jeweils zehn Kapiteln einteilen. Zwar scheinen die Sprüche auf den ersten Blick keiner klaren Anordnung zu folgen, nach sorgfältiger Prüfung ergibt sich aber, dass bestimmte Themen ausschließlich oder nahezu ausschließlich in jeweils einem Abschnitt des Textes behandelt werden.

5.1. Erster Abschnitt: Kap. 1-10

Das Hauptthema dieses Teiles ist der Schwätzer und sein Gegenstück, der wahre Schweigsame; der „Hitzige“, d.h. der Mann, der zu viel redet, wird scharf verurteilt, und als Vorbild wird der „wahre Schweigsame“ vorgestellt, der allein dem Autor nach ein glückliches Ende erreicht. Zum Beispiel fängt Kap. 3 so an: „Entfache keinen Streit mit dem Hitzigen, / und stich ihn nicht mit Worten. / Zögere vor dem Bösen; beuge dich vor dem Gegner; / Beruhige dich vor dem Reden“ (5,10-13). In Kap. 4 werden zwei Bäume verglichen, die dem Schwätzer und dem Schweigsamen entsprechen: der erste gedeiht und der andere vergeht. Ein ähnlicher Vergleich findet sich auch zwei Mal in der Bibel (Ps 1; Jer 17,7-8). Der erste Abschnitt erwähnt auch die Themen der beiden folgenden Abschnitte: Kap. 2 bereitet das Hauptthema des dritten Teils vor: „Hüte dich, einen Elenden zu berauben / und einem Schwachen Gewalt anzutun. / Strecke deine Hand nicht aus, um einen Greis anzugreifen, / und schneide einem Alten nicht das Wort ab“ (4,4-7); Kap. 6 befasst sich mit der Ungerechtigkeit, die das Thema des zweiten Abschnitts ist: „Stelle nicht den Grenzstein auf den Grenzen der Äcker um, / und störe nicht die Stelle der Richtschnur“ (7,12-13).

5.2. Zweiter Abschnitt: Kap. 11-20

Gerechtigkeit und Betrug sind die Hauptthemen dieses Teiles. Kap. 13 fängt so an: „Betrüge keinen Menschen mit der Feder auf der Buchrolle; / das ist ein Gräuel für den Gott. / Mache keine Zeugenaussage mit falschen Worten, / und verdränge nicht einen anderen mit deiner Zunge“ (15,20-16,2). In demselben Kapitel relativiert der Verfasser sein Verlangen nach Gerechtigkeit durch eine Einladung zur Barmherzigkeit, die das Thema des nächsten Abschnitts vorbereitet: „Wenn du (= der Beamte) einen großen Mangel (im Sinn von Steuerschuld o.ä.) bei einem Armen findest, / so teile ihn in drei Teile, / lass zwei fallen und erhalte einen“ (16,5-7).

5.3. Dritter Abschnitt: Kap. 21-30

Die Thematik dieses Teils des Buches ist breiter gestreut als die der zwei anderen. Der Verfasser behandelt in Kap. 23 das Verhalten bei Tisch, wenn man von einem Ranghöheren eingeladen wird – ein Lieblingsthema der ägyptischen „Lehren” seit Ptahhotep. Hauptthema aber ist die Achtung vor dem Schwachen. Kap. 25 fängt so an: „Lache nicht über einen Blinden und verspotte nicht einen Zwerg / und verschlimmere nicht den Zustand eines Lahmen“ (24,9-10); in Kap. 26 heißt es: „Reiche einem Alten, der von Bier gesättigt ist, die Hand, / ehre ihn in seinen Kindern“ (25,8-9), und am Ende von Kap. 28: „Gott liebt, dass man einen Armen ehrt, / mehr als einen Vornehmen zu verehren“ (26,13-14).

5.4. Beziehungen zwischen Gott und den Menschen

Ein Thema, das in allen drei Abschnitten eine zentrale Rolle spielt, ist der „morgige Tag“ (Kap. 5. 18 und 22), besonders ausführlich in Kap. 18, wo das Verhältnis zwischen Gott und Mensch behandelt wird. Dieses Thema lag dem Verfasser offenbar besonders am Herzen. Seiner Meinung nach soll man „sich nicht um den morgigen Tag kümmern“ (19,11), sondern alles „in der Hand des Gottes“ lassen und: „Auf der einen Seite gibt es die Worte, die die Menschen sagen, / auf der anderen, was der Gott tut“ (19,16-17).

5.5. Besonderheiten

Wir haben hier einige der Themen in der „Lehre des Amenemope“ zusammengefasst. Obwohl dieser Text in der Tradition der ägyptischen Weisheitslehren verankert ist, unterscheidet er sich von den anderen durch die zentrale Bedeutung der religiösen Ausrichtung. Ein Leitmotiv des Textes ist: „Es ist ein Gräuel für den Gott“ (13,16; 15,21, vgl. 14,3; 19,1) und in Kap. 15: „Der Finger des Schreibers, es ist der Schnabel des Ibis [des Gottes Thot], / hüte dich, ihn umzustellen“ (17,7-8), d.h., jede unehrliche Tätigkeit des Schreibers ist ein Angriff gegen den Gott. Während die alten „Lehren” die einzelnen Götter fast nie mit Namen nennen, tut Amenemope das häufig. Dagegen fehlen einige Themen, die in den älteren Texten häufig waren: die Ehe, die Beziehung zum König, usw. (vgl. Laisney, 236 mit einem ausführlichen Vergleich).

6. Sprache

Die Sprache der „Lehre des Amenemope“ ist neuägyptisch in seiner literarischen Ausprägung. Diese Sprache unterscheidet sich in der Grammatik und zum Teil auch im Wortschatz und in der Rechtschreibung erheblich vom Mittelägyptischen, d.h. der klassischen Sprache, in der die meisten religiösen Texte verfasst sind.

7. Datierung

Der Text liefert keinen Anhaltspunkt für eine genaue Datierung. Anspielungen auf die Lehre des Ani (aus der 19. Dynastie) und Eigenheiten der Sprache des Textes zeigen, dass er später als diese „Lehre“ verfasst ist. Der Papyrus BM 10474 und die Mehrzahl der anderen Textzeugen stammen aus der Saiten- oder Perserzeit (672-404 v. Chr.), der fragmentarische Papyrus Stockholm MM 18416 dagegen kommt aus der Zeit der 21. oder 22. Dynastie (1069-715 v. Chr.). Das Ostrakon Kairo könnte älter sein; leider konnte es nicht mehr gefunden werden, so dass es derzeit nicht möglich ist, durch erneute Prüfung der Schrift in der Frage der Datierung dieses wichtigen Zeugen voranzukommen. Jaroslav Černý datierte es in die 21. oder 22. Dynastie, Georges Posener in das Ende der 20. Dynastie (ca. 1100-1069 v. Chr.). Die Abfassung der „Lehre des Amenemope“ dürfte also wohl ungefähr in der Zeit vom Ende der 20. bis zur 21. Dyn. zu datieren sein.

8. Einfluss auf die Bibel

Kurz nach der Publikation der Lehre des Amenemope hat A. Erman die bemerkenswerten Ähnlichkeiten zwischen diesem Text und einem Abschnitt des biblischen → Sprüchebuchs, Spr 22,17-23,11, der wissenschaftlichen Welt bekannt gemacht. Später haben Alttestamentler weitere Parallelen von Amenemope mit Proverbien und anderen Weisheitsbüchern der Bibel aufgezeigt (s. Laisney, 239 Anm. 2). Das Besondere an Spr 22,17-23,11 ist, dass fast alle Verse eine Entsprechung im ägyptischen Text haben.

8.1. Amenemope und Spr 22,17-23,11

8.1.1. Synopse

Amenemope 1

8.1.2. Erklärung der Übereinstimmungen

Es gibt verschiedene Hypothesen, die die Ähnlichkeiten der beiden Texte erklären wollen: 1. beide haben eine gemeinsame ältere Quelle; 2. sie benutzen den gemeinsamen orientalischen Weisheitsfundus; 3. der biblische Text ist der ältere und Amenemope eine Erweiterung; 4. der ägyptische Text ist eine literarische Quelle von Spr 22,17-23,11. Die erste Hypothese erklärt nicht, dass sich die Parallelen über den ganzen Text von Amenemope erstrecken, sich also nicht auf einen Abschnitt beschränken. Gegen die zweite spricht, dass die Ähnlichkeiten beider Texten viel zu groß sind, um nur auf gemeinsamem Weisheitsgut zu beruhen. Die dritte scheidet aus, weil die ältesten Textzeugen von Amenemope (s.o.) sicherlich älter sind als die Abfassung des Sprüchebuchs. Die Mehrzahl der Autoren befürwortet deswegen die vierte Lösung. Für sie sprechen folgende Beobachtungen:

● Die 24 Verse des Abschnitts der Proverbien besitzen sehr viele, nämlich 19 Parallelen zu Amenemope (79%), während sich für das ganze Sprüchebuch mit seinen 915 Versen nicht mehr als 36 Parallelen feststellen lassen (4%).

Spr 22,17 entspricht dem Anfang des ersten Kapitels von Amenemope. Nach der Einleitung beginnen die Vorschriften in Spr 22,22 mit einer Parallele zum Anfang des zweiten Kapitels von Amenemope, mit dem der Hauptteil des Buches anfängt.

● Innerhalb einer Parallelstelle gleichen sich neben den Themen auch Bilder und sogar Ausdrücke. Themen wie die Vergänglichkeit von Reichtum sind in Weisheitslehren zwar sehr verbreitet, aber das Bild vom davonfliegenden Reichtum und der Ausdruck „Schau, sie sind nicht mehr da“ bilden in Spr 23,5 // Amen 9,19; 10,4-5 eine spezifische Übereinstimmung.

● Parallelen erstrecken sich auch über mehrere Verse (Spr 23,4-5 und Amen 9,14.19.10,4-5; Spr 23,1-2 und Amen 23,13.17.15 [mit einer Umstellung]).

8.1.3. Umfang des von Amenemope beeinflussten Abschnitts

Üblicherweise erkennen die Kommentatoren an, dass nur Spr 22,17-23,11 aus einer fortlaufenden Reihe von Parallelen mit Amenemope besteht. Die übrigen „Sprüche der Weisen“ bis zu Spr 24,22 werden, obwohl sie keine Parallelen mit Amenemope enthalten, oft hinzugefügt, um 30 Sprüche zu erhalten, von denen Spr 22,20 sprechen würde (zuletzt Schipper, 58). Die Zahl 30 aber ist auf der Basis von Amenemope restituiert und in keinem Exemplar des biblischen Textes bezeugt (s.u.). Ferner haben die Autoren, die in Spr 22,17-24,22 30 Sprüche rekonstruieren, fast alle eine unterschiedliche Aufteilung, weil der hebräische Text keine klare Gliederung erkennen lässt. Die Aufteilung von Spr 22,17-24,22 in 30 Sprüche beruht also allein auf Amenemope und ist willkürlich.

8.1.4. Verse ohne Entsprechung in Amenemope

Spr 22,19 und Spr 22,23 verwenden den Namen Jahwe und können deshalb nicht aus Amenemope stammen. Wahrscheinlich wurden sie vom Editor zugefügt, um der Lehre eine religiöse Motivation zu geben. Spr 22,25 und Spr 23,7a sind Ergänzungen der vorherigen Verse. Ansonsten hat nur das Wort über den Bürgen in Spr 22,26-27 keine Entsprechung in Amenemope.

8.1.5. Reihenfolge der Sentenzen in Spr 22,17-23,11

Neben den Ähnlichkeiten, die zeigen, dass Spr 22,17-23,11 von der Lehre des Amenemope abhängig ist, gibt es über die in 8.1.4. genannten Zusätze hinaus Differenzen, nämlich eine durchgehende Verschiedenheit in der Formulierung. Auffälligerweise sind die Amenemope-Abschnitte, die im Sprüchebuch benutzt wurden, dem ganzen Buch entnommen, aber es handelt sich fast immer um die ersten Verse eines Kapitels – doch gibt es später Lücken in der Reihenfolge der Verse aus Amenemope (s. die Tabelle; vgl. Schipper, 242, und Fox, 27-32). Möglicherweise ist dieser Befund damit zu erklären, dass es in der Überlieferung eine „Gedächtnis-Zwischenstufe“ gegeben hat. Bekanntlich erinnert man sich besser an den Anfang eines Textes als an die Fortsetzung und vergisst in einem memorierten Gedicht leicht einige Zwischenverse. Diese Gedächtnis-Zwischenstufe könnte auch erklären, warum die Anordnung der Sprüche in den Proverbien nicht der von Amenemope folgt. Dieses Buch hat keine klare Gliederung und jemand, der den Text studiert und aus dem Gedächtnis wiedergibt, kann sich später nur an einige Gruppen von Sentenzen, aber nicht an alle und ihre genaue Reihenfolge erinnern. Ein letztes Indiz ist, dass eine Parallele zum letzten Kapitel des Amenemope (Amen 27,8) mit einem im Sprüchebuch schon in der Einführung in Spr 22,20b steht, wobei das behandelte Thema in den anderen ägyptischen Weisheitstexten normalerweise am Anfang behandelt wird (z.B. Ptahhotep, 47; Ani, 15,4-5). Auch das könnte auf dem Gedächtnisfehler eines gelehrten Schreibers beruhen.

8.1.6. Zwischenstufen zwischen Amenemope und Spr 22,17-23,11

Wir besitzen kein Dokument, das zwischen Amenemope und Spr 22,17-23,11 anzusetzen ist, und so bleibt die Überlieferung dunkel. Die notwendige Übersetzung vom Ägyptischen ins Hebräische und die große Freiheit des Herausgebers der Proverbien mit dem Material aus Amenemope deuten auf einen komplexen Prozess mit mehreren Stufen hin. Die neue Hypothese von Fox (22-37) über fünf Stadien scheint mir ohne Basis im Text zu sein. Ein besonderes Thema ist für keines der Stadien erkennbar. Fox denkt auch an eine frühere Übersetzung ins Aramäische. Dies ist möglich, aber nicht erforderlich. Die Präsenz von Semiten im Delta ist für alle Epochen bewiesen. Unter diesen Semiten gab es sicherlich Hebräer in der letzten Periode des Königtums Israels, die von Schipper (Israel und Ägypten in der Königszeit, OBO 170) als Periode des Übergangs von Amenemope vorgeschlagen ist und von den meisten Autoren (s. Laisney, 246, Fox, 35) angenommen wird. Ein in Ägypten angesiedelter Händler könnte seine Söhne in eine Schreiberschule geschickt haben, und die Verwendung von hieratischen Ziffern durch hebräische Schreiber zeigt, dass einige Schreiber mehr als eine nur oberflächliche Kenntnis der ägyptischen Sprache besaßen. Dies wird auch von anderen literarischen Übereinstimmungen zwischen der Bibel und der ägyptischen Literatur bestätigt (Psalmen, Hohes Lied).

Für einen älteren hebräischen Text, der Spr 22,17-23,11 als Quelle diente (s. Laisney, 242-246), sprechen folgende Indizien.

1. Der Vorschlag, in Spr 22,20 שׁלשׁום šlšwm (Ketiv) zu שְׁלשִׁים šəlošîm „dreißig“ zu ändern, ist grammatisch problematisch, da einer Zahl immer eine Objektbezeichnung folgt und diese nur bei Maßeinheiten weggelassen werden kann (GesK 134n). Wahrscheinlich ist שׁלשׁום šlšwm als שִׁלְשׁוֹם šilšôm „vorgestern“ im Sinne von „damals / in der Vergangenheit“ zu lesen, obwohl auch das nicht ohne Probleme ist. Die Korrektur in „dreißig“ wurde von Erman (89) aufgrund von Amenemope vorgeschlagen. Aber in Spr 22,17-23,11 finden sich nicht 30 Sprüche, und auch Spr 22,17-24,22, d.h. die „Sprüche der Weisen“, lassen sich nicht in 30 Abschnitte gliedern (s.o.). Das Problem lässt sich mit der Annahme lösen, dass eine ältere Version auf die 30 Kapitel von Amenemope anspielte oder 30 Sprüche nach dem Vorbild von Amenemope enthielt und der Text später verdorben oder gekürzt worden ist (cf. Laisney, 245).

2. Spr 22,18b enthält das Wort יחדו „zusammen“ und die Parallele Amen 3,16 spricht von einem „Pfahl“. Deswegen hat man den hebräischen Text zu יתד jāted „Pfahl“ geändert. Auch wenn Pfähle in Ägypten und Israel unterschiedlich gestaltet und gebraucht wurden (cf. Schipper, 59-60), ist es möglich, dass eine ältere Version יתד jāted „Pfahl“ aufwies. Für eine Korrektur des jetzigen Textes würde man jedoch die Präposition כ („wie [ein Pfahl])“ und damit die Änderung mehrerer Buchstaben benötigen. Ferner wäre der Ausdruck „ein Pfahl auf der Zunge“ ohne Parallele und Amenemope wäre der einzige Zeuge für diese Korrektur. Dies genügt nicht, kann aber eine Spur eines älteren Textes sein.

3. Wenn man in Spr 23,10, עולם ‘ôlām „ewig“ durch אלמנה ’almānāh „Witwe“, ein ähnliches Wort, ersetzt, ergibt sich nicht nur eine interne Parallele zwischen „Witwe“ und „Waise“, sondern auch eine bessere Parallele zu Amen 7,12.15. Anderseits ist „ewig“ in Spr 22,28 treffend und kann Spr 23,10 beeinflusst haben. Dieses Indiz hat weniger Beweiskraft als die vorigeren und würde allein nicht genügen, aber es bestätigt und bekräftigt sie und damit die Möglichkeit einer älteren hebräischen (nicht aramäischen) Vorlage von Spr 22,17-23,11.

8.2. Andere Parallele

Auch andere biblische Texte enthalten Parallelen zu „Amenemope“, insbesondere die Weisheitsbücher. Die Verse aus Kap. 2: „Fülle seinen (des Feindes) Leib mit Brot bei dir, / dass er satt wird und die Augen (vor Scham) senkt“ (5,5-6) haben eine Parallele im Alten [und im Neuen] Testament (Spr 25,21 [und Röm 12,20]).

Literaturverzeichnis

1. Quellen

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2. Wichtigste Übersetzungen

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  • Grumach, I., Untersuchungen zur Lebenslehre des Amenope (MÄS 23), Berlin 1972.
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3. Kommentare

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