Kinder und Bibel – damals und heute
In der heutigen Zeit ist es längst nicht mehr selbstverständlich, dass Kinder in Kontakt mit der Bibel und ihren Inhalten kommen. Wie war das damals, zur Zeit der Bibel, insbesondere zur Zeit des Alten Testaments? Wie haben Kinder Zugang zu den Inhalten der biblischen Schriften gefunden? Und ergeben sich daraus Anstöße für heute?
Es gibt sie zwar immer noch, die typischen Momente, in denen Kinder heute der Bibel begegnen können: wenn Eltern oder Großeltern aus einer Kinderbibel vorlesen, wenn im Kindergarten die Weihnachtsgeschichte erzählt oder wenn im Religionsunterricht die Bibel zum Thema gemacht wird. Es wird aber oft beklagt, dass diese typischen Momente immer seltener vorkommen. Eine Bibel, so wie wir sie heute kennen, gibt es in der Zeit des Alten Testaments noch nicht. Ganz zu schweigen von Fassungen biblischer Texte für Kinder, wie sie zum Beispiel heutige Kinderbibeln bieten.
Familiäre Riten
Das alltägliche Leben zur Zeit des Alten Testaments ist geprägt von religiösen Handlungen: das Feiern des Sabbats und der Feste im Jahreskreis, die täglichen häuslichen Gebete, das Beachten der Speiseregeln, das Berühren der Mesusot an den Türpfosten. Kinder wachsen hinein in einen Alltag, in der die religiöse Dimension selbstverständlich verankert ist. Die religiösen Handlungen sind kein Selbstzweck, sondern stehen für einen Inhalt, der die eigene Geschichte trägt und die Identität des ganzen Volkes prägt. Diese Inhalte werden im Alltag vorgelebt, erzählt und erklärt und so von der älteren zur jüngeren Generation weitergegeben.
Mesusa bedeutet Türpfosten und bezeichnet eine Schriftkapsel am Türpfosten, die im Judentum Bedeutung hat und Verwendung findet.
Die eigene Geschichte erzählen
"Wenn eure Kinder später fragen, wozu all die Weisungen, Gebote und Rechtsbestimmungen gut sind, die ihr vom HERRN, eurem Gott, bekommen habt, dann gebt ihnen zur Antwort :… " (5. Mose 6,20-21, Gute Nachricht Bibel)
In diesem Abschnitt aus 5. Mose 6,20ff wird beschrieben, wie sich die im Alltag vorgelebten religiösen Handlungen auf die Kinder auswirken: Sie beginnen, nach den Inhalten hinter den Handlungen zu fragen. Auf die Frage des Kindes hin wird die Leidens- und Befreiungsgeschichte des Volkes Israels erzählt. Die Eltern schildern die Taten Gottes so, als hätten sie sie selbst gesehen und erlebt. Diese Art und Weise der Erzählung ist die wesentliche Voraussetzung dafür, dass Kinder die religiöse Tradition als glaubwürdig und bleibend aktuell wahrnehmen. Sie begreifen: Das geht auch mich unmittelbar an! So können die Kinder durch die Geschichte Gottes mit dem Volk Israel sich selbst und die Ereignisse ihrer Gegenwart verstehen lernen.
Wiederholen und einprägen
"Prägt sie euren Kindern ein und sagt sie euch immer wieder vor – zu Hause und auf Reisen, wenn ihr euch schlafen legt und wenn ihr erwacht.“ (5. Mose 6,6-7, Gute Nachricht Bibel)
Das Erzählen der eigenen Geschichte ist eine wesentliche Brücke zu den Inhalten der biblischen Schriften. In 5. Mose 6,6-9 wird sichtbar, wie diese Brücke noch verstärkt werden kann. Es geht darum, die Inhalte immer wieder zu erzählen, zu wiederholen, einzuprägen - in allen Lebenslagen. So wird die Überlieferung weitergegeben. Das funktioniert nicht ohne Lernen, ja sogar Auswendiglernen. Bis heute weisen die jüdischen Jungen in der Feier der Bar-Mizwah und zum Teil die jüdischen Mädchen in der Feier der Bat-Mizwah gründliche Kenntnisse der Thora nach.
Das Einprägen der Überlieferung hat dabei auch schulähnlichen Charakter. Die Kinder werden in der Synagoge versammelt, die bis heute als Schule bezeichnet wird und auch als solche dient. Gemeinsames Auswendiglernen und, in einem späteren Stadium, die Entwicklung von kreativen Gedanken, die Ermutigung zum Nachdenken über die Schrift, zum Debattieren und Disputieren, gehören zu den Charakteristika jüdischen Lernens.
Das Leben auf Gott ausrichten
Die Beschäftigung mit der alttestamentlichen Tradition kann Anstöße bieten bei der Frage, wie Kinder heute Zugänge zu biblischen Inhalten finden. Das lebendige und authentische Erzählen von Geschichten, die Menschen als Gotteserfahrung deuten, ist einer der bereichernden Anstöße. Ein anderer ist eine Lebenspraxis, die im Ganzen von der Beziehung zu Gott geprägt ist und deshalb Kinder dazu einlädt, selbst in diese Beziehung einzutreten und sich darin neu zu verstehen. Dabei geht es nicht darum, Regeln zu erlernen, Gebote einzuhalten oder Verbote zu beachten. Im Fokus steht vielmehr die Gestaltung des gesamten Lebens aus der Beziehung zu dem befreienden Gott, von dem die biblischen Texte erzählen.
Über den Autor
Michael Jahnke, geboren 1967, hat in Köln Erziehungswissenschaften studiert.
Zunächst war er als Referent in religionspädagogischen Handlungsfeldern tätig. Im Anschluss hat er als Lektor und Publikationsleiter in verschiedenen Verlagen Medien für die gemeindepädagogische, religionspädagogische und bibelerschließende Arbeit erstellt.
Seit 2017 arbeitet er bei der Deutschen Bibelgesellschaft und ist dort für das verlegerische Programm verantwortlich.