Redewendungen der Lutherbibel: 49/52
Da trat auch herzu, der einen Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, ich wusste, dass du ein harter Mann bist: Du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast. (Matthäus 25,24, Lutherbibel 2017)
Wer die Arbeitsergebnisse anderer als seine eigenen ausgibt, der muss sich die Aussage gefallen lassen, zu ernten, wo er nicht gesät habe. In dem Jesus-Gleichnis von den anvertrauten Zentnern erhebt der faule Knecht gegenüber dem Rechenschaft fordernden Herrn genau diesen Vorwurf. Tatsächlich ist dieser aber unbegründet: Denn jeder der drei Knechte hat „nach seiner Tüchtigkeit“ fünf, zwei oder ein Talent Silber erhalten mit dem Auftrag, es zu mehren. Das Talent, das Luther mit „Zentner“ übersetzte, ist eine antike Gewichtseinheit und meint hier eine gewaltig große Silbermenge von knapp 40 Kilogramm. Ausgehend von unserem Gleichnis wurde das Talent wahrscheinlich über die lateinische Bibelübersetzung der Vulgata (talentum) in der frühen Neuzeit zum Synonym für „Begabung“ und fand so Eingang zunächst ins Englische und Französische.
Nicht als Vorwurf an einen anderen, sondern als grundsätzliche Beschreibung der menschlichen Wirklichkeit greift der Schweizer Ernährungswissenschaftler Gustav von Bunge (1844-1920) auf unsere Redewendung zurück: „Wir ernten beständig, was wir nicht gesät haben“. Er fährt mit dem bedenkenswerten Ratschlag fort: „Wir sollten auch säen, was wir nicht ernten können.“
Stefan Wittig