6.1.1. Der Prophet Jesaja (Jes)
Grobgliederung des Protojesaja
1-11 | Worte an Israel, darin: 6-8 : Bericht über Jesaja |
12 | späteres Danklied /Heilswort |
13-23 | Worte gegen fremde Völker |
24-27 | Jesaja-Apokalypse |
28-31 | Der " assyrische Zyklus " |
32 | Das kommende Friedensreich |
33-35 | spätere eschatologische Kapitel |
36-39 | Jesaja-Erzählungen, vgl. 2Kön 18-20 |
Phasen der Wirksamkeit
Eine bibelkundliche Orientierung ist bei den prophetischen Büchern generell sehr schwierig, da uns die Gliederungsprinzipien, nach denen sie aufgebaut wurden, nicht mehr unmittelbar einleuchten. Man wird sich daher darauf zu beschränken haben, wichtige Einzeltexte zuordnen zu können und eine Grobgliederung im Kopf zu haben.
Im ersten Teil des Jesaja-Buches wird dies dadurch erleichtert, dass man vier Phasen der Wirksamkeit des Propheten unterscheiden kann, die alle mit wichtigen Textkomplexen zu verbinden sind. Jesaja, Sohn eines Amoz, stammt aus Jerusalem und hatte, wie einzelne Texte zeigen, Zugang zum Königshof. Er ist als Vertreter einer städtischen Oberschicht anzusehen, verheiratet war er mit einer Prophetin (8,3). Er selbst nennt sich nie Prophet, נָבִיא (nābî’). Seine Wirksamkeit reicht von etwa 740 (vgl. Jes 6,1, aber: Das Todesjahr des Königs Usija ist umstritten) bis zum Jahre 701. Die vier Hauptphasen der Wirksamkeit Jesajas sind im einzelnen:
1 | Sozialkritische Periode, vor dem Jahr 734 v. Chr. ( Kap. 2; 3+5 ) |
2 | Zeit des syrisch-efraimitischen Krieges, 734-732 ( Kap. 7+8 ) |
3 | Zeit der antiassyrischen Aufstände 721-711 ( Kap. 18+20 ) |
4 | Zeit der Aufstände unter Hiskija bis zur Belagerung Jerusalems 705-701 ( Kap. 28-31 ) |
Diesen Perioden lassen sich einzelne Texte zweifelsfrei zuordnen, andere Texte bleiben strittig. Auch im Protojesajabuch finden sich eindeutig spätere Texte, vor allem die sogenannte Apokalypse in den Kapiteln 24-27
Wichtige Einzeltexte
Die wesentlichen Texte des ersten Jesaja finden sich vor allem in den Kapiteln 1-11
Kap. 1 setzt mit einer (späteren) Zusammenfassung der Botschaft Jesajas ein (V. 2-9). V. 10-17 persifliert eine Priestertora (einen priesterlichen Bescheid), in dem hier die Verfehlungen des Volkes sowohl auf sozialem, als auch auf kultischem Gebiet angeprangert werden. V. 21-31 sind die erste große Gerichtsandrohung gegen Jerusalem.
Völkerwallfahrt zum Zion
Jes 2 hebt an mit der Vision einer Völkerwallfahrt zum Zion (V. 1-5), die sich wörtlich auch in Mi 4 findet, Stichwort: „Schwerter zu Pflugscharen“ (vgl. aber Joël 4,10). V. 6-22 thematisieren den kommenden Tag JHWHs, eine Katastrophe auch kosmischen Ausmaßes. Kap. 3 ist wiederum Gerichtsansage für Juda, Kap. 4,2-6 eine Heilsansage für den übriggebliebenen Rest.
Weinberglied
Jes 5,1-7 ist das bekannte Weinberglied, die Gerichtsansage hat hier die Form eines Gleichnisses angenommen. Wichtig ist das hebräische Wortspiel in V. 7, auf das das Gleichnis zuläuft:
וַיְקַו לְמִשְׁפָּט וְהִנֵּה מִשְׂפָּח
לִצְרָקָה וְהִנֵּה צְעָקָה
Er hoffte auf Gut-Regiment (שְׁפָּט, mišpāṭ) doch siehe da: Blut-Regiment (mispāḥ)
auf Gemeinschaftstreu (ṣedāqâ) doch siehe da: Hilfeschrei (ṣe῾āqâ).
(Übersetzung: K. Koch, Profeten I, 207) Das Motiv Israel als Weinberg begegnet u.a. auch in Jes 27,2 und Mt 20,1. 5,8-24 sind eine Sammlung von Weherufen (vgl. noch 10,2-4), mit denen Jesaja erneut Missstände anklagt. 5,25-30 sagt das kommende Gericht an: Ein Volk aus der Ferne (Assyrien) wird kommen, um Juda zu bestrafen.
"Denkschrift Jesajas"
Jes 6,1-9,6
Jes 7 stammt aus der Zeit des syrisch-efraimitischen Krieges (734-732), in dem Jesaja den König Ahas auffordert, sich nicht auf eine Koalition mit den Assyrern gegen die vereinten Heere von Syrien und Israel einzulassen (vgl. 2Kön 16). In diesem Zusammenhang fällt der berühmte Satz „Glaubt Ihr nicht, so bleibt Ihr nicht“ (7,9), ein Wortspiel mit dem hebräischen Verbum אמן (’āman), das im Konjugationsstamm Hif'il „vertrauensvoll sein“, im Nif'al aber „Bestand haben“ heißt. 7,10-25 wird das Immanuel-Zeichen angekündigt, das – vermittelt durch die LXX-Übersetzung – im NT als Ansage der Jungfrauengeburt Jesu gewertet wird. Jesaja will offenkundig dem Ahas androhen, dass sein Nachfolger schon bereit steht, dass ihm also die Absetzung droht. Die Deutung dieser Stelle ist aber sehr umstritten.
Kap. 8 ist von Bedeutung, weil hier vom Aufschreiben der Botschaft Jesajas und von seinen Schülern die Rede ist (V. 1.16, vgl. 30,8).
Jes 9,1-6 kündigt die Geburt und Inthronisation des kommenden Heilskönigs an („Das Volk, das im Dunkel wandelt...“), dazu auch 11,1-9, der Heilskönig und sein Friedensreich. Diese Stücke sind in ihrer Echtheit (= Herkunft von Jesaja selbst) stark umstritten.
Kap. 9-10
Kap. 12, ein Psalm, schließt den ersten Teil des Buches ab; wichtig ist hier der Bezug auf Zion als Bürge für das Heil.
Fremdvölkersprüche
Kap. 13-23
Jesaja-Apokalypse
Die Jesaja-Apokalypse 24-27
Assyrischer zyklus
Der assyrische Zyklus Kap. 28-31
Eschatologie
Kap. 32 formuliert die Erwartung eines nach diesen Ereignissen kommenden Friedensreiches, Kap. 33-35
Jesaja-Erzählung
Die Heilsansage in Kap. 35 hat möglicherweise das Jesajabuch einmal abgeschlossen. Später wurden dann noch die Kapitel 36-39
Hauptthemen
Innerhalb dessen, was von der Verkündigung des ersten Jesaja erhalten ist, lassen sich drei wichtige Themenkomplexe ausmachen, die man mit einigen ausgewählten Texten verbinden kann:
1. Restgedanke
Der Restgedanke, die Vorstellung, dass ein kleiner Teil des Volkes das Gericht überleben wird oder von JHWH übriggelassen wird. Dabei ist strittig, ob diese Vorstellung als negative Ansage (nur ein Rest wird übrigbleiben) oder letztlich als Heilsansage zu verstehen ist: Aus dem Rest entwickelt sich wieder ein vollgültiges Ganzes.
2. Zionstheologie
Jesaja gilt als einer der wichtigsten Vertreter der alttestamentlichen Zionstheologie. Jerusalem/der Zion ist Ort der Gegenwart Gottes („Präsenztheologie“), nicht etwa der Wohnsitz Gottes. Aus dieser besonderen Nähe rührt einerseits eine besondere Verpflichtung der Bewohner, sich dieser Präsenz Gottes würdig zu zeigen, andererseits auch eine besondere Zuwendung JHWHs, der die Vernichtung Zions nicht zulassen wird. (Vgl. die Zionspsalmen 46, 48, 76, 84, 87 und das Thema-Kapitel „Der Tempel in Jerusalem
3. Glauben
Ein in der Wirkungsgeschichte wichtiges Motiv ist die Vorstellung Jesajas, dass das Volk JHWH zu glauben habe (vgl. besonders 7,9 und 28,16, das Wort vom Eckstein: „Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden“). Dabei ist im Unterschied zum heutigen Verständnis wichtig, dass es nicht um den Glauben an etwas geht (vgl. besonders Röm 10,8), sondern eher um ein unbedingtes Vertrauen auf die Heilsmacht Gottes, dies zum Beispiel im Gegenüber zum König Ahas, der sich lieber auf politische Bündnisse verlassen will.
Digitale Bibelkunde
Die Texte auf dieser Seite sind mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: Rösel, Martin: Bibelkunde des Alten Testaments. Die kanonischen und apokryphen Schriften. Mit Lernübersichten von Dirk Schwiderski, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 11., veränd. Aufl. 2021. Zur Vorbereitung auf die Bibelkunde-Prüfung: Die Lernkartensets zur Bibelkunde für RepeticoDie ideale Ergänzung