Matthäus 4,1-11 | Invokavit | 18.02.2024
Einführung in das Matthäusevangelium
Das MtEv
1. Verfasser
Das MtEv ist, wie alle neutestamentlichen Evangelien, anonym verfasst. Die Zuschreibung an Matthäus ist handschriftlich seit dem Ende des 2./Beginn des 3. Jh.s bezeugt; die älteste patristische Bezeugung stammt aus dem weitgehend verlorenen Werk des kleinasiatischen Bischofs Papias von Hierapolis. Nach ihm „hat Matthäus die Logien (Jesu) also in hebräischer Sprache zusammengestellt; es übersetzte sie aber jeder, so gut er konnte“ (Eusebius, h.e. III 39,16; Irenäus spricht von seinem „Evangelium in schriftlicher Form“, s. Adv. haer. III 1,1). Die Zuschreibung eines Evangeliums an den Apostel Matthäus bezieht sich in den ältesten Quellen jedoch nur auf das behauptete hebräische/aramäische Original. Für die vorhandene griechische Fassung wurde schon von Hieronymus festgehalten, dass der Übersetzer unbekannt ist (Vir.ill. III 1). Ohne auf die Übersetzungsfrage einzugehen, wurde das MtEv bis lange ins 19. Jh. hinein und mit nicht wenigen Vertretern bis heute als Werk des Apostels u. ehemaligen ‘Zöllners’ Matthäus angesehen. In der deutschsprachigen Forschung wird dagegen mehrheitlich ein unbekannter judenchristlicher Verfasser angenommen, der zwischen 80 und 100 das Evangelium auf der Grundlage älterer Quellen (Mk, Q, Sondergut) geschrieben hat. Die internationale u. nichtprotestantische Forschung ist in dieser Frage allerdings deutlich pluraler als die deutschsprachige Einleitungswissenschaft und Kommentarliteratur. Eine wichtige Rolle spielt in beiden exegetischen Traditionen die singuläre Referenz in der Jüngerliste Mt 10,3 (Matthäus der Zöllner), die erkennbar und absichtsvoll auf die Berufung des Zöllners Matthäus 9,9–13 (der in den Parallelen Mk 2,13–27; Lk 5,27–32 Levi heißt, woraus in der Tradition Matthäus-Levi wurde) zurückverweist. Dies wird weithin als Referenz auf den intendierten (oder eben tatsächlichen) Verfasser verstanden. Die Apostolizität – verstanden in einer Weise, dass wesentliche Teile des Inhalts auf Überlieferungen aus dem Zwölferkreis, repräsentiert durch Matthäus, zurückgehen – kann so in Einklang mit der frühchristlichen Tradition trotz des relativ späten Entstehungsdatums des kanonischen (= griechischen) MtEv vertreten werden.
2. Adressaten
Das Evangelium selbst enthält keine direkten Hinweise auf Adressaten, Abfassungszeit oder -ort. Alle diesbezüglichen Aussagen sind aus dem vorliegenden Text abgeleitet und angesichts deren Spärlichkeit entsprechend hypothetisch. Die patristischen Autoren berichten, dass Matthäus das Evangelium für die „Hebräer“ (d.h. die jüdischen Jesusgläubigen in Israel) schrieb, bevor er „zu den anderen Völkern“ gehen wollte (Eusebius, h.e. III 24 6). Die Annahme, dass das Evangelium ursprünglich an überwiegend judenchristliche Gemeinden gerichtet war und in deren Kontext entstanden ist, wird auch heute mehrheitlich vertreten. Nur wenige machten und machen sich für einen heidenchristlichen Ursprungskontext stark. Allerdings gibt es auch hier eine starke, insbesondere englischsprachige Forschungstradition, die solche Partikularadressierungen ablehnt und stattdessen von einer von Anfang an universalen Adressatenschaft ausgeht („The Gospel For All Christians“). In der deutschsprachigen Evangelienforschung dominiert dagegen ein Partikular- und Konfliktmodell, nach dem die einzelnen Evangelien an bestimmte Gemeindegruppen adressiert sind und sich dabei gleichzeitig von den Empfängergruppen der anderen Evangelien mehr oder weniger polemisch absondern. Der Zuweisung des MtEv an ein judenchristliches Milieu impliziert darum oft die Abgrenzung gegenüber anderen frühchristlichen Milieus (repräsentiert u.a. durch Paulus oder das MkEv, das Mt angeblich verdrängen oder ersetzen wollte). Damit wird das MtEv in erster Linie zu einem Zeugnis für die angenommene Konfliktgeschichte innerhalb des frühen Christentums zwischen 70 und 100, und die in ihm vermittelten Jesustraditionen gelten als so ausgewählt bzw. reformuliert, dass sie der Selbstvergewisserung dieser besonderen Gruppe dienten (die manche mit den Apg 15,5 genannten christlichen Pharisäern verbinden). Alternativ kann man im MtEv, basierend u.a. auf seiner breiten Rezeptionsgeschichte seit dem 2. Jh. in den geographisch sehr verschiedenen Milieus des frühen Christentums und im Hören auf die patristischen Traditionen, ein in seinen Anfängen apostolisches Zeugnis sehen, dessen griechische Endgestalt das Mk- und möglicherweise auch das LkEv bereits voraussetzt. In diesem Fall stellt es die abschließende synoptische Stimme im neutestamentlichen Kanon dar, in der die Verkündigung von Jesus im Kontext einer „kerygmatischen Biographie“ (so Martin Hengel) einschließlich ihrer fortlaufenden Formatierung bis ungefähr zum Jahr 85–90 enthalten ist.
3. Entstehungsort
Aufgrund der judenchristlichen Charakteristika wird häufig eine Entstehung in Antiochien vermutet, was dadurch gestützt wird, dass Bischof Ignatius von Antiochien das MtEv schon im 1. Drittel des 2. Jh.s zu kennen scheint. Aber auch andere Orte in Israel bzw. Syrien werden diskutiert. Mt 4,24f. beschreibt den unmittelbaren geographischen Radius von Jesu Wirksamkeit (und damit einen möglichen ersten Adressatenkreis), aber das Evangelium selbst lässt keinen Zweifel an seiner universalen Perspektive (24,9.14; 26,13; 28,18–20), die sich zudem in der wiederholten Erwähnung von nichtjüdischen Personen als Empfängern der guten Botschaft konkretisiert (Mt 1,5; 2,1; 8,5–13.28–34; 15,21–28; 27,54).
4. Wichtige Themen
Wichtige Themen der exegetischen Interpretation sind die Christologie (Jesus als Sohn Davids neben der Menschensohn-Christologie), Soteriologie (Vergebung der Sünden als Zielvorgabe von Jesu Wirken [1,21] und als Vollendung [26,28: nur Mt verbindet die Worte vom Bundesschluß im Abendmahl
5. Besonderheiten
Das MtEv enthält eine Vielzahl klar abgrenzbarer Einheiten, die in sich deutlich strukturiert sind, insbesondere durch Dreiergruppen (vgl. 1,17, wo diese Struktur sogar benannt wird) oder „chiastische Ringkompositionen“ (U. Luz). Dagegen fehlt eine erkennbare Gesamtstruktur, indem der Aufbau insgesamt eher schlicht ist: Als Auftakt die Genealogie als Brücke in Israels Geschichte und die Kindheitsgeschichte als Erfüllungsgeschehen (vier der insgesamt 12 bzw. 13 Erfüllungszitate sind in Kapitel 1–2, beginnend mit 1,22: τοῦτο δὲ ὅλον γέγονεν ἵνα πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν „Dieses alles aber ist geschehen, damit erfüllt werden würde, was gesagt worden ist durch …“, vgl. außerdem 2,15.17.23; 4,14; 8,17; 12,17; 13,14.35; 21,4; 26,56; 27,9), daran anschließend das Wirken in Galiläa, und ab 16,21 eine zunehmende Fokussierung auf Jerusalem
Literatur:
- Aktueller Kommentar: Matthias Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015 (theologisch gehaltvolle Auslegung, aber kaum Hinweise auf Literatur; diese findet sich reichlich verarbeitet in dem Band: Matthias Konradt, Studien zum Matthäusevangelium, WUNT 358, Tübingen 2016).
- Grundlegend: Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/1-4, Neukirchen-Vluyn u.a. 1985 (5., völlig neubearbeite Aufl. 2002), 1990, 1997, 2002 (umfassendster Kommentar in deutscher Sprache mit ausführlichen Hinweisen zur Auslegungs- und Wirkungsgeschichte).
- Zur Diskussion um die Tora: R. Deines, Jesus and the Torah according to the Gospel of Matthew, in: The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, hg. v. M. Seleznev, W. R. G. Loader u. K.-W. Niebuhr, WUNT 459, Tübingen 2021, 295–327 (in diesem Band auch weitere Aufsätze zu dem Thema, so dass die verschiedenen Positionen gut erkennbar sind).
- Angelsächsische Literatur und Auslegungsgeschichte: Ian Boxall, Matthew Through the Centuries, Wiley Blackwell Bible Commentaries, Hoboken: Wiley Blackwell, 2019.
A) Exegese kompakt: Matthäus 4,1-11
Übersetzung
1 Damals wurde Jesus von dem Geist in die Wüste geführt, damit er vom Diabolos geprüft/versucht würde. 2 Und nachdem er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte er danach. 3 Und der Prüfer/Versucher, sich nähernd, sagte ihm: „Wenn du der Sohn Gottes bist (vgl. 3,17), sage, dass diese Steine zu Brot werden.“ 4 Er aber gab zur Antwort: „Geschrieben worden ist: Der Mensch wird nicht allein vom Brot leben, sondern von jedem Wort, das herausgeht aus dem Mund Gottes“ (Dtn 8,3).
5 Daraufhin nimmt ihn der Diabolos in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels 6 und sagt ihm: „Wenn du Gottes Sohn bist, wirf dich selbst nach unten! Geschrieben ist nämlich, dass er seinen Engel gebot bezüglich deiner und sie werden auf Händen dich tragen, damit nicht zu Fall kommt an einem Stein dein Fuß“ (Ps 91,11f.). 7 Sprach zu ihm Jesus: „Ebenso ist geschrieben worden: Du sollst nicht herausfordern den Herrn, deinen Gott“ (Dtn 6,16).
8 Wiederum nimmt ihn der Teufel auf einen sehr hohen Berg und zeigt ihm alle Königreiche der Welt und ihre Herrlichkeit 9 und sagte zu ihm: „Dieses alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“ 10 Daraufhin sagt Jesus zu ihm: „Verschwinde, Satan! Denn geschrieben steht: Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein sollst du dienen“ (Dtn 6,13).
11 Daraufhin verließ ihn der Teufel, und siehe da, Engel näherten sich und dienten ihm.
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
V. 1: τότε = damals, daraufhin. Das Pronominaladverb mit demonstrativer Funktion ist ein besonders von Mt benütztes Gliederungssignal, das in diesem kurzen Text viermal begegnet: V. 1.5.10.11. Damit sind die drei Bewährungsproben eingeführt (V. 1f. können im Griechischen als ein Satz gelesen werden), die als ein nacheinander ablaufendes Geschehen geschildert werden.
ὁ διάβολος: der Widersacher/Teufel/Durcheinanderbringer hat in 4,1-11 verschiedene Namen: Diabolos (V. 1.5.8.11), Versucher (V. 2) und die hebr. Bezeichnung Satan
V. 2: Vierzig Tage: Mose war 40 Tage und Nächte auf dem Berg Gottes (Sinai/Horeb
V. 4: In Jesu Antwort mit Dtn 8,3 ist bei Mt (anders Lk 4,4) auch die positive Hälfte zitiert: „sondern von jedem Wort, das herausgeht aus dem Mund Gottes“.
V. 9f.: Das Verb προσκυνέω (= kniefällig verehren, anbeten) ist wichtig für Mt. In Mt 2,2.8.11 wird mit der Anbetung des Messiaskindes die universale Anbetung vorweggenommen; hier, in 1,9f., weist Jesus das Ansinnen zurück, einen anderen als Gott anzubeten; am Ende (28,17) erkennen die Jünger in ihm den Repräsentanten Gottes (so erstmalig in 14,33) und beten ihn an. So macht Mt deutlich, dass Jesus wirklich der „Immanuel
2. Literarische Gestalt und Kontext
Der erzählende Text ist klar abgegrenzt: einleitende Bemerkung (V. 1 mit τότε als Konnektivum) und Schlusssatz (V. 11 erneut mit τότε) bilden den Rahmen. Die Perikope folgt unmittelbar auf die Taufe, in der Jesus seinen Gehorsam erklärte (3,15) und von Gott als „geliebter Sohn“ bestätigt wurde (3,17). Mt 4,12–16 bildet mit dem Weggang nach Kapernaum den Abschluss der Vorbereitungsphase von Jesus. Sein öffentliches Wirken setzt mit 4,17 ein.
Im Zentrum des Abschnitts stehen drei Erprobungen von Jesus durch den Teufel, die trotz formaler Unterschiede ungefähr gleich lang sind. Sie sind als Dialog gestaltet, wobei die Initiative jeweils vom Diabolos ausgeht: Er tritt zu Jesus (V. 3), er nimmt ihn in die Heilige Stadt (V. 5) und auf einen Berg (V. 8). Jesus weist die Aufforderungen des Teufels jeweils mit einem biblischen Zitat zurück. Damit wird erzählerisch abgebildet, was in 5,17 programmatisch formuliert ist: Jesus erfüllt „Gesetz und Propheten“, d.h. bewegt sich in der Israel von Gott gegebenen Ordnung und bewährt darin das gehorsame Verhältnis zu seinem Vater.
3. Historische Einordnung
Die literarhistorische Einordnung legt nahe, dass die Überlieferung über die Versuchung traditionell ist. Die ausführliche Fassung bei Mt und Lk (4,1–13; vgl. auch 22,28) geht auf die Q-Überlieferung zurück, die zwischen 50 und 70 datiert wird. Auch Mk kennt diese Überlieferung (Mk 1,12f.), berichtet darüber aber nicht ausführlich. Hebr 2,17f.; 4,15 belegen, dass die Vorstellung von der Versuchung Jesu traditionell ist und paränetisch eingesetzt wurde (vgl. πειράζω, jeweils im Passiv, in Hebr 4,15 und Mt 4,1). Spannender ist jedoch die Frage, wie eine solche Überlieferung überhaupt entsteht. Die Forschung bietet dazu nur wenige Antworten:
- Eine alttestamentliche Vorgabe (Gen 3,1-7; Hi 1,6-12; 2,1-6 oder auch 1Chr 21,1; Sach 3,1) wird auf Jesus übertragen; allerdings überwiegen dabei die Unterschiede bei weitem die Gemeinsamkeiten. Immerhin belegen die Stellen die Vorstellung, dass der Teufel Menschen gezielt zu manipulieren versucht, damit sie Gottes Gebot übertreten (Gen 3,4f.) bzw. ihn verleugnen (Hi 1,11; 2,5.9).
- Häufig wird in der Literatur auf religionsgeschichtliche Parallelen hingewiesen (umfassend in NW I/1.2, 204-236). Vor allem die berühmte Geschichte von Herakles am Scheideweg, den Tugend und Lasterhaftigkeit, dargestellt als Frauengestalten, jeweils für ihren Weg gewinnen wollten (Xenophon, Memorabilia II 21–30, in: NW I/1.2, 717–719). Aber trotz dieser zahlreichen Parallelen fällt auf, dass die griech.-röm. Welt zwar Analogien zu den einzelnen Versuchungen kennt, aber keinen Versucher als eigenständige Macht.
- Die einfachste Erklärung, die aber vielfach nicht einmal erwogen wird, ist, dass etwas im Leben von Jesus geschehen ist, das in dieser Form eine literarische, „behältliche“ Form gefunden hat. In diesem Fall ist an eine visionäre Erfahrung zu denken, ähnlich wie sie auch bei der Taufperikope anzunehmen ist. Lk 10,18 würde eine weitere Parallele darstellen.
4. Schwerpunkte der Interpretation
In der Versuchungsgeschichte rückt das Menschsein Jesu in den Fokus: Mit der Taufe trat er ein in die Gemeinschaft der Sünder, die er retten sollte (Mt 1,21). Mit der Versuchungsgeschichte setzt sich Jesus der menschlichen Verführbarkeit aus, damit er die Macht des Versuchers erfährt und so Barmherzigkeit lernt für sein Amt als Richter der Menschen (Hebr 4,15f.; 5,7f.).
Liest man die drei Versuchungen im Kontext des Mt, wird deutlich, worum es hier geht: Jesus verwirklicht sich nicht dadurch, dass er seine Bedürfnisse/Wünsche (Hunger, Bestätigung, Macht) aus eigenem Können (1. Versuchung), aus der Manipulation Gottes (2. Versuchung) oder aus der Kooperation bzw. Unterwerfung unter den Teufel (3. Versuchung) erreicht, sondern indem er dem Willen Gottes, wie er sich in der Tora offenbart, gehorsam bleibt bis zum Gang ans Kreuz (26,39).
- Die erste Versuchung dreht sich darum, die besonderen Gaben, die einem anvertraut sind, für sich selbst zu verwenden. Jesus hätte seine Nöte befriedigen können, weil er – wie das Evangelium später zeigt – die Macht hatte, aus Steinen Brot zu machen. Aber erst, wo er diese Macht einsetzt, damit hungrige Menschen satt werden (in der Speisung der 5000 bzw. 4000, Mt 14,15-21; 15,32-38), handelt er „ohne Sünde“. Es ist Brot
(und Vollmacht), die mit Dank empfangen wird (vgl. 14,19; 15,36: „er dankte“). Diese Weitergabe des Brots (johanneisch formuliert: „Brot des Lebens“) findet ihren Höhepunkt im Abendmahl (26,26-28), indem die Lebenshingabe von Jesus zur Vergebung der Sünde führt (26,28, so nur Mt, der großen Wert auf das Thema „Vergebung der Sünden“ legt). - Bei der zweiten Versuchung ist die Deutung als Schauwunder verbreitet, d.h. der öffentlichkeitswirksam imaginierte Sturz von der Tempelzinne. Vorausgesetzt wird dabei, dass die Menschen dem zujubeln, der einen solchen „stunt“ ohne Schaden hinbekommt. Das wäre dann die Versuchung des „Stars“, der bewundert werden will um seiner selbst willen. Der Versucher will Jesus vorwegnehmen lassen, was ihm erst nach seinem Weg ans Kreuz verheißen ist. Erst bei seiner Parusie
wird er als der erkannt, der als Menschensohn zur Rechten Gottes sitzt (Mt 24,30, vgl. 26,63). Eine andere Deutung sieht hier die Versuchung der Frommen, sich Gottes zu sicher zu sein und ihn für die eigene Sache zu instrumentalisieren. Ps 91, mit dem der Teufel hier argumentiert, ist eine einzige Schutzzusage für den, der Gott vertraut (und wird bis heute als Schutzamulett verwendet). Jesus betet am Kreuz jedoch mit Ps 22, liefert sich damit Gott aus und erwartet seine Rettung aus ärgster Bedrängnis von ihm. - Die Versuchung zur Macht ist bei Mt Abschluss und Höhepunkt. Eine Versuchung, die alle Menschen in unterschiedlicher Weise bedrängt: Macht über andere (z.B. Missbrauch, Krieg), Macht über die Schöpfung (z.B. Klimakrise), Macht über Leben und Tod (z.B. Transhumanismus). Jesus ist am Ende der, dem „alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist“ (Mt 28,18), aber gerade darin liegt das Entscheidende: es ist von Gott verliehene Macht, nachdem er den Weg des Gehorsams bis ans Kreuz ging. Der, der die Macht hat, ist der, der alle Versuchungen und Schwächen der Menschen kennt.
5. Theologische Perspektivierung
Die moderne Frage nach der Realität des Teufels stellte sich für Jesus und seine Zeitgenossen nicht. Diese werfen Jesus sogar vor, dass er seine Wunder mit Hilfe des „Herrschers der Dämonen“ vollbringt. In seiner Antwort weist Jesus nicht den falschen Dämonenglauben ab, sondern verweist auf seine ihm mit dem Geist Gottes gegebene Vollmacht (Mt 12,22–30). Dass Jesus mit einem teuflischen Widersacher rechnete, der Gottes Pläne zunichte machen will, ergibt sich aus Lk 10,18 (vgl. Joh 12,31): hier ist es eindeutig eine Vision, in der Jesus den Satan „sieht“. In Apg 10,37f. ist „das gesamte Wirken Jesu als eine durch die Gemeinschaft mit Gott ermöglichte Überwindung der Teufelsmacht“ dargestellt (Feldmeier 5f.). Wie aber ist heute mit der Frage nach der Realität des Teufels umzugehen? Für die einen ist es „Aberglauben“, der so nicht mehr vertreten werden kann. Für die anderen, nicht zuletzt für zahlreiche Christen aus dem globalen Süden, ist die Macht des Teufels und böser Geister bedrängende Realität, die den Alltag beschwert. Die offene Formulierung von Folker Siegert, wonach Satan in der Versuchungsgeschichte „eine mythologische Benennung ist für eine Stimme, die Menschen von Gott abbringt“ (Leben Jesu, 43), lässt Raum für beide oben skizzierten Positionen und ist zudem anschlussfähig für eigene Erfahrungen. Nimmt man Hebr 2,17f.; 4,15 als Interpretationshilfe hinzu, wonach Jesus in jeglicher Hinsicht versucht worden ist wie alle Menschen (wobei er als einziger „ohne Sünde“ blieb), dann lassen sich die drei Versuchungen als Herausforderungen für alle Christenmenschen sehen, an denen sie zu Fall kommen können.
Literatur
- Feldmeier, Reinhard: Macht – Dienst – Demut. Ein neutestamentlicher Beitrag zur Ethik, Tübingen 2012.
- Neugebauer, Fritz: Jesu Versuchung, Tübingen 1986.
- Schlier, Heinrich: Mächte und Gewalte im Neuen Testament, QD 3, Freiburg 21958, bes. 37–49.
- NW = Schnelle, Udo, unter Mitarbeit v. Lang, Manfred: Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus, Bd. I/1.2, Teilband 1: Matthäus 1–10, Berlin/Boston 2013.
- Siegert, Folker: Das Leben Jesu. Eine Biographie aufgrund der vorkanonischen Überlieferungen, SIJD 8/2, Göttingen 2010.
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Durch die Exegese wird mein Nachdenken auf zwei Aspekte gelenkt: Offenbar ist es schwierig Parallelen aus dem Alten Testament oder anderen religionsgeschichtlichen Texten zu finden. Das macht es einerseits schwerer, den Text durch Parallelen zu erhellen; das macht es andererseits interessanter, dem Bedeutsamen und Wesentlichen des Textes nachzugehen.
Der Vorschlag, es könne sich um eine Vision Jesu gehandelt haben, führt mich auf grundsätzliche Überlegungen: Inwieweit spiegeln die Evangelien historische Situationen im Leben Jesu und kann man dazu überhaupt etwas sagen? Ich bin da vorsichtig und bemühe mich in der Auslegung deutlich zu machen, dass wir es in den Evangelien mit christlichen Glaubenszeugnissen zu tun haben. Sie bezeugen das Handeln Gottes in einer erfahrbaren Gegenwart; sie bezeugen allerdings ebenso ein Handeln Gottes, das dieses Handeln als besonderes und von menschlichen Erfahrungen unterschiedenes Handeln sichtbar macht. Daran schließt sich die Frage an: Ist die Vorstellung einer Vision nicht ein Versuch, eine in narrativer Form bezeugte Glaubenserfahrung durch die Verbindung mit psychischen Phänomenen verallgemeinerungsfähiger zu machen? Die theologische Intention des Textes durch psychische Tatsachen glaubhafter zu machen? Und weiter gefragt: Geht es nicht gerade darum auch in der Versuchung selbst, nämlich dass Jesus seine Bedeutung als Gottessohn legitimieren soll, indem er dies an real-physischen Veränderungen (Steine in Brot; Sturz ohne Schaden) sichtbar machen soll?
Umgekehrt könnte man natürlich auch fragen, ob der Text nicht gerade unserer westlichen vermeintlich aufgeklärten Perspektive ein Wirklichkeitsverständnis entgegenstellt, das die zerstörerische Macht des Teufels domestiziert, indem sie sie symbolisch versteht und enthistorisiert.
Die literarkritische Analyse der Textstruktur macht deutlich: Es handelt sich offensichtlich um eine theologische Komposition, die aus drei gleich langen Abschnitten besteht und zweimal ähnlich aufgebaut ist: „Wenn du der Sohn Gottes bist….“ Ich entdecke eine im Dialog zwischen dem Teufel und Jesus stattfindende „Entwicklung“, die in einer Zuspitzung mündet: Zweimal fordert der Teufel Jesus auf, seine Gottessohnschaft unter Beweis zu stellen. Dabei ist interessant, dass der Teufel in der zweiten Versuchung das Vorgehen Jesu aufnimmt, der seine Abwehr, Steine in Brot zu verwandeln, mit Verweis auf die Tora begründet. In der zweiten Versuchung nimmt dann der Teufel selbst einen Vers aus der Tora auf, mit dem er sein Ansinnen begründet. Eine feine, spitzfindige Pointe, wie ich finde. Der Teufel adapiert hier die Argumentationsstruktur Jesu. Schließlich spitzt sich der Dialog zu und mündet aus meiner Sicht in das, worum es „eigentlich“ geht – die Legitimation der Macht Jesu als Sohn Gottes.
2. Thematische Fokussierung
Die vorangehende Perikope endet mit dem Satz: „Dies ist mein lieber Sohn; an ihm habe ich Wohlgefallen.“ Die daran anschließende Perikope fügt nun eine „Erprobung“ an. Sie vollzieht sich mit Hilfe einer deutlichen Polarisierung – entweder Gott oder der Teufel. Geht es um ein alltägliches Standhalten gegenüber größeren oder kleineren Anfechtungen oder nicht vielmehr um die Frage: Auf wessen Seite stehst du wirklich? Wovon lässt du dich in deinem Tun und Lassen leiten? In einer Gesellschaft, in der wir täglich mit Ambivalenzen, Zweideutigkeiten, Diversität und unterschiedlichen Perspektiven zu tun haben, erscheint mir diese Polarität nicht so sehr mit einem Alltagsgeschehen vergleichbar zu sein, sondern mit einer tiefgreifenden Grundausrichtung unseres Daseins. Mit der Versuchungserzählung werden wir in eine Auseinandersetzung hineingenommen, bei der deutlich wird: das Vertrauen auf Gott bzw. die Gottessohnschaft Jesu hat Konsequenzen; sie führt dazu, Möglichkeiten der Selbstermächtigung zu widerstehen und Gottes Verheißung für diese Welt Raum zu geben.
Das zeigt sich darin, dass Jesus seine Vollmacht als Gottessohn gerade nicht gebraucht, um sein eigenes Können zu demonstrieren. Diesen Gedanken nehme ich aus der Exegese gerne mit. Damit wird auch eine Art Vorzeichen gesetzt für alle folgenden Wunder: sie drehen sich nicht um die Person oder den Menschen Jesus, sondern Jesus wird als der Mensch dargestellt, in dem Gott handelt und Menschen verändert und sie so zu einer neuen sozialen Gemeinschaft zusammenführt.
Die Versuchungserzählung profiliert dann auch das Wirken Gottes, das in Jesus Christus Gestalt gewinnt. Sie verweist darauf, dass diese Wirksamkeit sich dann nicht instrumentalisieren lässt, wenn sie immer wieder auf Gott selbst zurückweist und von der Beziehung zu Gott lebt. Mit dem Begriff des „Gehorsams“ habe ich Schwierigkeiten. Denn er versteht das Handeln als eine Unterordnung, bei der es keine Rolle spielt, ob ich damit selbst einverstanden bin oder nicht. Ich verstehe die Gottessohnschaft so, dass Jesus durch die Beziehung zu Gott nicht den eigenen Willen aufgibt, sondern sein eigenes, willentliches Handeln durch die Beziehung zu Gott bestimmt wird. Die Tora wird als Zeichen der Bundestreue Gottes sichtbar und der Bezug darauf macht deutlich, dass die Gottessohnschaft Jesu dieses Treueverhältnis in seiner Person lebt.
3. Theologische Aktualisierung
Unmögliches in Mögliches verwandeln: Gottes Verheißungen leben von dieser radikalen Veränderung. Nur die Veränderung allein ist aber kein Zeichen göttlicher Wirksamkeit. Die Versuchungserzählung thematisiert „teuflische“ Verheißungen. Sie sind es deshalb, weil sie nicht auf göttliche Macht und Wirksamkeit setzen, sondern auf Mächte, die „durcheinanderbringen“ und damit die Selbstdurchsetzung menschlichen Daseins realisieren zu wollen.
Jesus wird in dieser Erzählung anschaulich als einer, der auf diese Selbstdurchsetzung mit Hilfe weltlicher Strategien und Machtdemonstrationen verzichtet. Es soll keine physische (Steine in Brot, Schwerkraft) oder soziale Macht (politische Herrschaft) benutzt werden, um die Macht Gottes zu beweisen oder zu realisieren. Die Macht Gottes ist gerade da sichtbar und wirksam, wo sie sich gegen solche Instrumentalisierung des Menschseins und seiner Lebensrealität widersetzt. Das scheint mir die gute Nachricht.
Worüber ich nachdenke: Lässt sich diese Erzählung mit menschlichen Erfahrungen von destruktiven Mächten parallelisieren? Ich bin deshalb unsicher, weil ich eine weitere Beobachtung mache: Jesus steht dem Teufel gegenüber, kann sich zu ihm verhalten und tut es auch. Er lässt sich nicht verführen und widersteht. Der Teufel ergreift nicht Besitz von ihm. Zumindest im Vergleich zu psychischen Phänomenen und Abhängigkeiten besteht hier ein Unterschied. Darum liegt der Fokus für mich nicht so sehr darauf, Jesus als beispielgebend für menschliches Verhalten zu sehen; vielmehr sehe ich den Kern der Erzählung darin, Jesus so zu zeigen, dass er als Gottessohn für uns vertrauenswürdig wird. Ich kann mich in der Nachfolge dieses Gottessohnes darauf verlassen, dass es nicht darum geht andere Mächte dazu zu benutzen, um die eigene Macht zu erweisen.
4. Bezug zum Kirchenjahr
Der Text ist für den Sonntag Invokavit vorgesehen. Er steht also am Beginn der Passionszeit. Damit wird die Versuchungserzählung noch einmal als Teil des Lebens Jesu und als Veranschaulichung seines Wirkens als Gottessohn nachvollziehbar. Bleibt man dabei, die Versuchungserzählung vor allem im Zusammenhang der Profilierung der Gottessohnschaft zu verstehen, dann wirkt sie sich auch auf das Verständnis der Passionszeit insgesamt aus: Es geht dann nicht in erster Linie um unser Leiden, sondern um das Leiden Jesu. Die Gottessohnschaft enthebt Jesus nicht von menschlichen Erfahrungen, sondern sie führt in Entscheidungssituationen, die schon hier und dann am Kreuz die Absage an jede Form der Selbstdurchsetzung durch Selbstermächtigung bedeuten. Als Nachfolgende gehen wir diesen Lebens- und Leidensweg mit. Man kann die Erzählung in diesem Kontext allerdings schon als eine verstehen, die uns stärkt. Nicht so sehr, weil wir sehen, dass Jesus leidet wie wir, sondern weil uns erzählt wird, dass der Gottessohn an dem Vertrauen zu Gott festhält und diese Treue das Verhältnis zwischen Gott und Jesus grundlegend bestimmt. Dieser Aspekt, dass wir den Leidensweg Jesu mitgehen und uns davon ansprechen und berühren lassen, scheint mir eher selten thematisiert; eher stehen unsere Leiden und das Mitleiden Jesu in der Passionszeit im Vordergrund. Vielleicht ermöglicht der umgekehrte Blick aber gerade eine Einübung in ein Mitleiden, das unsere empathischen Fähigkeiten und die Kraft Schweres zu tragen, stärkt und dadurch hilft, der Macht göttlicher Gewaltlosigkeit zu vertrauen.
Autoren
- Prof. Dr. Roland Deines (Einführung und Exegese)
- Dr. Melanie Beiner (Praktisch-theologische Resonanzen)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500023
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