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5. Mose 30,1-6(7-10) | 10. Sonntag nach Trinitatis – Israelsonntag: Gedenktag der Zerstörung Jerusalems | 04.08.2024

Einführung in Buch

1. Bedeutung und Gegenstand des Buches Deuteronomium

Im antiken Judentum zählte das Deuteronomium zu den wichtigsten Büchern. Unter den Handschriften vom Toten Meer ist von den fünf Büchern der Tora das Deuteronomium mit Abstand am häufigsten bezeugt. Der Begriff Tora („Weisung“) erhielt im Deuteronomium seine spezifische Bedeutung: Die Tora ist die schriftlich festgehaltene göttliche Weisung, die das Leben des Gottesvolkes bestimmt (vgl. u.a. Dtn 1,5; 4,44; 17,19; 27,3; 29,28; 31,9). Dieses Verständnis von Tora wurde auf den Pentateuch im Ganzen übertragen.

Das wichtigste Thema des Deuteronomiums ist die Forderung, dass Israel seinem Gott Jahwe treu bleiben soll. Im Ersten Gebot des Dekalogs wird die Forderung ex negativo zugespitzt: Auf die Präambel „Ich bin Jahwe, dein Gott, der ich dich herausgeführt habe aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus“ folgt das Verbot „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ (Dtn 5,6f; par Ex 20,2f). Was die Forderung der Treue zu Jahwe für Israel bedeutet, wird im Deuteronomium mit dem Gedanken des Bundes entfaltet, den Jahwe mit Israel schließt (vgl. Dtn 5,2–4 und Dtn 28,69). Der Bund ist ein wechselseitiges Sprachgeschehen (Dtn 26,16–18): Jahwe verpflichtet sich, sich als Israels Gott zu erweisen, indem er für das Volk sorgt und es am Leben erhält. Israel verpflichtet sich, sich als Jahwes Volk zu erweisen, indem es Jahwes Gebote hält. Zugleich aber nimmt hier ein Stärkerer einen Schwächeren in die Pflicht: Israel ist Jahwes Vasall, der an seiner Loyalität zu seinem Gott gemessen wird. Hält Israel die Gebote und verehrt Jahwe allein, wird es reich gesegnet, verehrt es aber andere Götter und übertritt die Gebote, wird es von grausamen Flüchen getroffen, in denen sich Jahwe gegen sein Volk wendet (Dtn 28).

2. Entstehung des Buches Deuteronomium

Das Deuteronomium ist in einem jahrhundertelangen Prozess entstanden: Die ältesten Teile stammen wohl noch aus der letzten Zeit des Königreiches Juda (7. Jahrhundert v. Chr.), die jüngsten Texte wurden am Ende der persischen Zeit, vielleicht auch erst in der frühen hellenistischen Zeit verfasst (2. Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr.). Zu vereinzelten, aber inhaltlich gewichtigen Änderungen des Texts kam es noch in der fortgeschrittenen hellenistischen Zeit (2./1. Jahrhundert v. Chr.).

Die Forschung rekonstruiert die erste Ausgabe des Buches im Grundbestand von Kap. 12–25. Sie kreist um die Forderung, den Opferkult nur an dem von Jahwe erwählten Kultort durchzuführen (Dtn 12; 14–19). Das Programm der Kultzentralisation, mit dem sich das Deuteronomium von dem älteren Bundesbuch in Ex 20–23 unterscheidet (vgl. das Altargesetz in Ex 20,24–26), wird klassisch mit der Reform des judäischen Königs Josia in Verbindung gebracht (vgl. 2Kön 23,8). Nach wie vor setzen viele Entwürfe diesen historischen Hintergrund voraus. Als Alternative wird in der neueren Forschung erwogen, dass das Urdeuteronomium erst in der frühen nachköniglichen Zeit entstand.

Die im Deuteronomium vielfach leitende Konzeption des Bundes zwischen Jahwe und seinem Volk Israel hat den politischen Treueeid zum Vorbild. Die Treueeide, die in den altorientalischen Königreichen gebräuchlich waren, sind vor allem durch Staatsverträge dokumentiert, die zwischen einem Großkönig und seinen Vasallen geschlossen wurden. Die Forderung der politischen Loyalität, die Gegenstand dieser Verträge ist, wurde im Deuteronomium auf Israels Gottesverhältnis übertragen. In der Forschung wird kontrovers diskutiert, welche historischen Hintergründe und Voraussetzungen die Übertragung gehabt hat. Drei Gruppen altorientalischer Vergleichstexte sind für die Erklärung der deuteronomischen Bundestheologie einschlägig: 1. die hethitischen Staatsverträge (davon v.a. die nicht-paritätischen Verträge zwischen dem Großkönig und seinen Vasallen) aus der Zeit des hethitischen Großreiches (ca. 1500–1200 v. Chr.); 2. die neuassyrischen Staatsverträge zwischen dem Großkönig und seinen Vasallen, teils auch seinen Untertanen (v.a. aus dem 8. und 7. Jahrhundert v. Chr.); 3. die aramäischen Staatsverträge der Inschriften, die im syrischen Sfire unweit von Aleppo gefunden wurden (8. Jahrhundert v. Chr.). In der neueren Forschung rückte vor allem der neuassyrische Thronnachfolgevertrag des Königs Asarhaddon ins Zentrum. Mit diesem Vertrag ließ Asarhaddon im Jahr 672 sein Reich und sämtliche Vasallen darauf vereidigen, seinem Sohn und designierten Thronfolger Assurbanipal loyal zu sein. Es hat sich gezeigt, dass der Thronnachfolgevertrag des Asarhaddon zu den literarischen Vorlagen von Dtn 28, des großen Kapitels über Segen und Fluch, gehört hat. Auch Dtn 13, wo die Denunziation und Hinrichtung von Verehrern anderer Götter gefordert wird, scheint in einigen Passagen den Asarhaddonvertrag zu rezipieren. Daher wurde postuliert, dass die Kapitel Dtn 13 und 28, angelehnt an das assyrische Vorbild von 672, das wegen der Vasallität des Königreiches Juda in Jerusalem bekannt gewesen sein dürfte, als judäischer Loyalitätseid auf Jahwe verfasst wurden. Jedoch sind in Dtn 13 und 28 auch andere Traditionen verarbeitet. Zudem unterbricht Dtn 13 die Zentralisationsgebote von Dtn 12 und 14, wurde also nachträglich eingeschoben, und Dtn 28 ist ein Anhang zu den ältesten Texten des Deuteronomiums in Kap. 12–25(26), der nicht zur ersten Ausgabe des Buches gehört hat. Zudem hebt sich die deuteronomische Bundestheologie von den Texten, die der ältesten Ausgabe des Buches zugeschrieben werden, ab: Die Forderung der Treue zu Jahwe zielt in eine andere Richtung als das Programm der Kultzentralisation. Daher wird vielfach eine umfassende bundestheologische Bearbeitung des Urdeuteronomiums angenommen. Wahrscheinlich diente diese Bearbeitung dazu, das Zentralisationsgesetz aus dem späten Königtum nach dessen Ende im frühen 6. Jahrhundert auf die Bewahrung der Identität Israels in königsloser Zeit zu beziehen: Im vorliegenden Deuteronomium erscheint Israel als eine Religionsgemeinde, die sich allein zu Jahwe bekennt (vgl. Dtn 6,4). Jahwe nimmt das deuteronomische Israel in die Pflicht, ihm allein die Treue zu halten und seine Gebote zu befolgen. Im Gebot der Gottesliebe von Dtn 6,5 hat sich diese Forderung verdichtet: „Du sollst Jahwe, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“. Auch hier steht politische Rhetorik im Hintergrund, da die altorientalischen Großkönige ihre Forderung an die Vasallen, sich ihnen in Loyalität zu unterwerfen, „Liebe“ nannten.

3. Schriftgelehrte Fortschreibungen

Das Deuteronomium ist in einer Vielzahl von Schüben entstanden, ungezählte Schriftgelehrte etlicher Generationen wirkten an seiner Entstehung mit. Nahezu alle Kapitel sind nicht in einem Guss formuliert, sondern zeigen Hinweise auf Nachträge, mit denen die jeweils älteren Textanteile kommentiert und ergänzt wurden. Dieses Phänomen sukzessiver Fortschreibungen, das vielerorts im Alten Testament anzunehmen ist, hat im Deuteronomium eine eigentümliche Formelsprache erzeugt. Der deuteronomische Stil ist in einzelnen Wendungen oft eindrücklich, wirkt im Ganzen aber redundant und unübersichtlich. Dabei zeigt sich immer wieder, dass jedes einzelne Wort mit Bedacht gewählt ist. Vielfach lehnen sich die Fortschreibungen an andere Stellen im Buch an, wodurch ein dichtes Netz von Querbezügen entstanden ist.

4. Besonderheiten

Das Deuteronomium ist mit einer knappen, aber gewichtigen Rahmenerzählung verknüpft: In den Steppen von Moab, unweit des Jordans und wohl in Sichtweite der ummauerten Stadt Jericho im westlichen Jordantal, hält Mose seine große, predigtartige Rede an das Volk Israel. Da Mose von Jahwe gesagt wurde, dass er den Jordan nicht überqueren darf (Dtn 3,23–27), wird seine Predigt zur Abschiedsrede: Nachdem er das Deuteronomium verkündet hat, stirbt er „auf das Geheiß“ Jahwes und wird – offenbar von Jahwe selbst – an unbekanntem Ort begraben (Dtn 34,5f). Wenig später beginnt unter Moses Nachfolger Josua die kriegerische Einnahme des gelobten Landes (Jos 1–12). Dass es Mose ist, der die deuteronomischen Mahnungen und Gebote in Jahwes Auftrag dem Volk verkündet, klingt in den Texten immer wieder an; mehrfach wird Mose sogar als derjenige genannt, der die göttlichen Gebote dem Volk gebietet. Am Ende des Deuteronomiums wird Mose sogar als einzigartiger Prophet gepriesen, da nur er mit Jahwe von Angesicht zu Angesicht verkehrte (Dtn 34,10–12; vgl. Ex 33,11). Das größte Gewicht im Buch haben weniger die Einzelgebote als die Mahnungen (Paränesen), die zum Gehorsam gegenüber den Geboten auffordern. In den Rahmenkapiteln, besonders in Dtn 4–11, sind die Paränesen zu regelrechten Predigten ausgestaltet, in denen Mose leidenschaftlich darum wirbt, die Gebote zu halten, und davor warnt, sie zu übertreten und Jahwe zu verlassen.

Literatur:

A) Exegese kompakt: Dtn 30,1–6

Im Predigttext blickt Mose weit in die Zukunft voraus. Er spricht von der Zeit, in der Israel unter die Nationen zerstreut sein wird – was für die Adressaten des Buches zur bedrückenden Gegenwart geworden ist: Was wird geschehen, wenn die Israeliten, die über die Erde zerstreut sind, sich Moses Worte zu Herzen nehmen und zu ihrem Gott zurückkehren?

1וְהָיָה֩ כִֽי־יָבֹ֨אוּ עָלֶ֜יךָ כָּל־הַדְּבָרִ֣ים הָאֵ֗לֶּה הַבְּרָכָה֙ וְהַקְּלָלָ֔ה אֲשֶׁ֥ר נָתַ֖תִּי לְפָנֶ֑יךָ וַהֲשֵׁבֹתָ֙ אֶל־לְבָבֶ֔ךָ בְּכָל־הַגּוֹיִ֔ם אֲשֶׁ֧ר הִדִּיחֲךָ֛ יְהוָ֥ה אֱלֹהֶ֖יךָ שָֽׁמָּה׃ 2וְשַׁבְתָּ֞ עַד־יְהוָ֤ה אֱלֹהֶ֨יךָ֙ וְשָׁמַעְתָּ֣ בְקֹל֔וֹ כְּכֹ֛ל אֲשֶׁר־אָנֹכִ֥י מְצַוְּךָ֖ הַיּ֑וֹם אַתָּ֣ה וּבָנֶ֔יךָ בְּכָל־לְבָבְךָ֖ וּבְכָל־נַפְשֶֽׁךָ׃ 3וְשָׁ֨ב יְהוָ֧ה אֱלֹהֶ֛יךָ אֶת־שְׁבוּתְךָ֖ וְרִחֲמֶ֑ךָ וְשָׁ֗ב וְקִבֶּצְךָ֙ מִכָּל־הָ֣עַמִּ֔ים אֲשֶׁ֧ר הֱפִֽיצְךָ֛ יְהוָ֥ה אֱלֹהֶ֖יךָ שָֽׁמָּה׃ 4אִם־יִהְיֶ֥ה נִֽדַּחֲךָ֖ בִּקְצֵ֣ה הַשָּׁמָ֑יִם מִשָּׁ֗ם יְקַבֶּצְךָ֙ יְהוָ֣ה אֱלֹהֶ֔יךָ וּמִשָּׁ֖ם יִקָּחֶֽךָ׃ 5וֶהֱבִֽיאֲךָ֞ יְהוָ֣ה אֱלֹהֶ֗יךָ אֶל־הָאָ֛רֶץ אֲשֶׁר־יָרְשׁ֥וּ אֲבֹתֶ֖יךָ וִֽירִשְׁתָּ֑הּ וְהֵיטִֽבְךָ֥ וְהִרְבְּךָ֖ מֵאֲבֹתֶֽיךָ׃ 6וּמָ֨ל יְהוָ֧ה אֱלֹהֶ֛יךָ אֶת־לְבָבְךָ֖ וְאֶת־לְבַ֣ב זַרְעֶ֑ךָ לְאַהֲבָ֞ה אֶת־יְהוָ֧ה אֱלֹהֶ֛יךָ בְּכָל־לְבָבְךָ֥ וּבְכָל־נַפְשְׁךָ֖ לְמַ֥עַן חַיֶּֽיךָ׃

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Übersetzung

1 Und wenn über dich all diese Worte kommen, der Segen und der Fluch, die ich vor dich gegeben habe, und du sie dir zu Herzen nimmst unter all den Nationen, unter die Jahwe, dein Gott, dich verstoßen hat, 2 und du zu Jahwe, deinem Gott, zurückkehrst und auf seine Stimme hörst, ganz so, wie ich dir heute gebiete, du und deine Kinder, mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Lebenskraft, 3 dann wird Jahwe, dein Gott, dein Geschick wenden und sich deiner erbarmen und dich wieder einsammeln aus all den Völkern, unter die Jahwe, dein Gott, dich zerstreut hat. 4 Auch wenn deine Verstoßenen am Rand des Himmels sind, wird Jahwe, dein Gott, dich von dort einsammeln und dich von dort holen, 5 und Jahwe, dein Gott, wird dich hineinbringen in das Land, das deine Väter besessen haben, und du wirst es in Besitz nehmen, und er wird dir Gutes tun und dich zahlreicher machen als deine Väter. 6 Und Jahwe, dein Gott, wird dein Herz und das Herz deiner Nachkommen beschneiden, dass du Jahwe, deinen Gott, liebst mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Lebenskraft um deines Lebens willen.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V. 1: וַהֲשֵׁבֹתָ אֶל־לְבָבֶךָ wörtl. „und du (sie) zurückbringst zu deinem Herzen“.

V. 2: Die Parenthese „du und deine Kinder“ ist in der Septuaginta nicht bezeugt; es könnte sich um eine Glosse handeln, die an unpassender Stelle in den Text gelangte: der Ausdruck bezieht sich auf den ganzen Vers.

V. 2 und V. 6: נֶפֶשׁwörtl.„Kehle“, traditionell übersetzt mit „Seele“ (so schon Septuaginta), präziser„Lebenskraft“.

V. 3: In der figura etymologicaוְשָׁב יְהוָה אֱלֹהֶיךָ אֶת־שְׁבוּתְךָ hat שׁוב (qal) transitive Bedeutung, bezogen auf das innere Objekt שְׁבוּת, wörtl. „dann wird Jahwe … deine Wendung wenden“; der geprägte Ausdruck meint die „Wiederherstellung des früheren heilvollen Zustandes (restitutio in integrum)“ (Wilhelm Gesenius, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, hg. v. Rudolf Meyer u. Herbert Donner, Berlin 182013,1313). וְשָׁב וְקִבֶּצְךָ wörtl. „und er wird zurückkehren und dich einsammeln“; שׁוב (qal) bedeutet hier „etwas wieder tun“ (vgl. Gesenius, Handwörterbuch, 1328).

2. Kontext

Die Perikope gehört zu der kürzeren Rede von Dtn 29–30, mit der Mose den Bund verkündet, den Jahwe mit Israel im Land Moab, also kurz vor der Landnahme, geschlossen hat. Mose prophezeit, dass das Volk „den Bund verlassen“ (29,24) und anderen Göttern dienen wird (29,25). Deshalb wird Jahwe das Volk im Zorn aus dem Land entwurzeln und ins Exil führen (29,27), ja – wie in der Perikope vorausgesetzt – Israel unter die Völker der Erde zerstreuen. Dort aber wird Israel zu Jahwe umkehren, weshalb er das Volk in die Heimat zurückbringen und es reicher segnen wird als je zuvor.

Die Verse in 30,7–10, die in der angegebenen Perikope in Klammern stehen, führen dies weiter aus: Jahwe wird die Flüche, die das Volk wegen seines Ungehorsams getroffen haben, auf diejenigen richten, die Israel verfolgt haben (V. 7). Israels Umkehr bedeutet, dass das Volk fortan alle Gebote Jahwes befolgen wird (V. 8). V. 9 nimmt aus V. 5 die Ankündigung der erneuten Landnahme und der Mehrung des Volkes auf und ergänzt sie um Motive des Segens. V. 10 präzisiert gegenüber V. 8, dass es bei der Umkehr darum geht, die Gebote, die im Buch der Tora aufgezeichnet sind, zu halten. Bei V. 7–10 dürfte es sich um gestaffelte Fortschreibungen zu V. 1–6 handeln. Da schon V. 1–6 ein sehr voraussetzungsreicher Text sind, empfiehlt es sich, die erweiterte Perikope nur zu verwenden, wenn die Gemeinde mit den biblischen Zusammenhängen vertraut ist.

3. Literargeschichtliche und historische Einordnung

Die Rede in Dtn 29–30, mit der Mose den Moabbund verkündet und Israel in den Bund eintreten lässt (29,9–12), gehört zu den theologisch dichtesten Texten im Buch. Die beiden Kapitel sind eine inhaltlich vielschichtige Reflexion über Israels geschichtliche Erfahrung von Heil und Gericht. Zugleich geben sie der Hoffnung Ausdruck, dass sich Israels Gott seinem Volk von Neuem heilvoll zuwenden wird. Im Hintergrund des Textes stehen etliche literarische Vorlagen, namentlich aus dem Buch Jeremia.

Da die Kapitel mancherlei stilistisch harte Übergänge, logische Brüche und Wiederholungen enthalten, dürfte der Text literargeschichtlich nicht aus einem Guss sein. Schon der Hauptteil des Perikopentextes, 30,1–6, hat vermutlich nicht zur ältesten Fassung gehört. Das lässt sich schon daran ablesen, dass hier Israels Diaspora im Blick ist (V. 1.3f), während 29,27 die Exilierung Israels „in ein anderes Land“ ankündigt. Außerdem weiß die Mahnung in 30,19 („du sollst das Leben wählen, damit du am Leben bleibst“), mit der die Rede endet, offenbar noch nichts von der Prophezeiung, dass das weltweit verstreute Israel zu Jahwe umkehren wird (30,2.10).

Dass Jahwe sein Volk unter die Nationen verstoßen (V. 1) und unter Völker zerstreut hat (V. 3), spiegelt Erfahrungen, die zur Zeit, als der Text verfasst wurde, wohl schon etliche Generationen gemacht hatten: Diejenigen, die sich als Israel verstehen, sind über die ganze Erde verstreut und erfahren sich als Fremde unter den Völkern. Solche Wahrnehmungen der eigenen Identität standen sicherlich nicht am Anfang der historischen Vorgänge, in denen die Bewohner der Königreiche Israel und Juda seit dem späten 8. und frühen 6. Jahrhundert ihre Heimat verlassen mussten und nach Mesopotamien, nach Ägypten und im Mittelmeerraum versprengt wurden. Die Verse setzen wahrscheinlich schon mehrere Jahrhunderte Abstand zum Untergang des Königreiches Juda im frühen 6. Jahrhundert voraus: Ihr historischer Hintergrund dürfte die ausgehende persische Epoche, vielleicht auch schon die anbrechende hellenistische Zeit gewesen sein (4. Jahrhundert v. Chr.).

4. Schwerpunkte der Interpretation

Vers 1 führt Israels Erfahrung, unter die Völker zerstreut zu sein, auf den Fluch zurück, der –wie einst der Segen – über das Volk gekommen ist. Das bezieht sich vor allem auf das monumentale Kapitel Dtn 28 zurück, wo Mose den Segen verheißt, der kommen wird, wenn Israel die Gebote hält (28,1–14), vor allem aber den schrecklichen Fluch prophezeit, mit dem Jahwe den Ungehorsam des Volkes strafen wird (28,15–68). Die „Umkehr“ des Volkes beginnt damit, dass jeder und jede einzelne sich Moses Worte „zu Herzen nimmt“. Dies führt, wie Vers 2 erläutert, dazu, dass jeder und jede „auf“ Jahwes „Stimme hört“ – und zwar „mit ganzem Herzen und ganzer Lebenskraft“, was auf das Gebot der Gottesliebe (Dtn 6,5) anspielt. Umkehr bedeutet also, das Wollen, das nach hebräischem Verständnis im Herzen entsteht, auf Gott auszurichten und dafür alle Lebenskraft aufzuwenden. Zu Gott umkehren ist eine Bewegung, die die ganze Person erfasst.

Vers 3–5 sprechen von der großen Verheißung, die auf der Umkehr liegt: Jahwe wird Israels Geschick wenden, sich seiner erbarmen, das Volk aus der Zerstreuung sammeln (V. 3), es in das Land zurückbringen, das die Väter (unter Josua) in Besitz genommen hatten, und es reicher segnen und mehren als die Väter (V. 5). Dass Jahwe das Volk heimführen wird, gilt – wie V. 4 nachholend präzisiert – auch, wenn Israel bis zum „Rand des Himmels“ verstoßen wurde, also bis zu der Region am äußersten Rand der Erdscheibe, wo das himmlische Firmament auf die Erde gestützt ist. Diese eindrucksvolle Verheißung wird von Nehemia in seinem großen Bußgebet zitiert (Neh 1,9).

Vers 6, der zu dem abgerundeten Gedankenganz von V. 1–3(4).5 bereits hinzugefügt sein könnte, widmet sich den theologischen Voraussetzungen der Umkehr und nimmt in den Blick, dass diese dauerhaft sein wird: Jahwe wird das Herz der Israeliten beschneiden, damit sie ihn fortwährend lieben und so am Leben bleiben. Dass das Ritual der Beschneidung (vgl. Gen 17,10–14) metaphorisch auf das Herz des Einzelnen bezogen wird, begegnet andernorts als zugespitzte Mahnung, vom ungehorsamen und bösen Wandel abzulassen (Dtn 10,16; Jer 4,4). Hier aber ist Jahwe selbst derjenige, der das Herz der Israeliten beschneidet, was an die Verheißungen erinnert, die sich im Umkreis der Verheißung des Neuen Bundes finden: Jahwe wird Gottesfurcht ins Herz der Israeliten geben (Jer 32,40) und seine Tora in ihr Herz schreiben (Jer 31,33), ja ihr steinernes Herz, das ihm nicht gehorchen kann, durch ein Herz aus Fleisch ersetzen, das von Jahwes Geist erfüllt und bewegt wird (Ez 11,19f; 36,26f); der Beter von Ps 51 spricht in der Fluchtlinie dieser Aussagen: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist.“

5. Theologische Perspektivierung

Der Predigttext zählt zu den zentralen Texten der alttestamentlichen Umkehrtheologie. Dass Israel zu Jahwe „zurückkehrt“, nachdem es ihn verlassen hat, ist der Kern des Umkehrgedankens. Jesu Ruf „tut Buße (μετανοεῖτε) und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15parr) lehnt sich traditionsgeschichtlich an diesen Gedanken an.

Wenn Paulus in Röm 2,29 von der „Beschneidung des Herzens“ als einer „Beschneidung, die im Geist und nicht im Buchstaben geschieht,“ spricht, spielt er auf Dtn 30,6 an. Die durch Dtn 30,6 repräsentierte Tendenz der jüngeren alttestamentlichen Theologie, die innere Wandlung Israels und der einzelnen Frommen auf Jahwe selbst zurückzuführen, zählt zu den Voraussetzungen der neutestamentlichen Theologie und wird namentlich von Paulus intensiv rezipiert (vgl. u.a. Röm 9,14–23).

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Exegese hat mir neu bewusst gemacht, wie sehr sich das Deuteronomium als biblischer Text gedanklich und auch sprachlich seinem profanen Umfeld verdankt. Dass die Treue zu Gott in Kategorien des politischen Treueeides gedacht wird und dass das Gottesverhältnis in den Kategorien von Staatsverträgen formuliert wird, verdeutlicht ja nicht einfach nur traditionsgeschichtliche Hintergründe. Es zeigt, dass religiöse Fragen und Themen damals nicht anders behandelt wurden als Fragen des politischen und rechtlichen Alltags. Ich frage mich, was das für die Predigt bedeutet. Wieviel Nähe von Politik, Recht und Religion ist im 21. Jahrhundert – und am Israelsonntag – in Deutschland möglich und nötig? Wo lauern die Gefahren, worin liegen die Chancen? Die Exegese rückt einmal mehr die Verhältnisse zurecht. Sie kontextualisiert den Predigttext in der Religionsgeschichte Israels. Die Zukunftsperspektive, um die es geht, gilt den Israeliten und ihrer Lebenssituation im Exil bzw. in der Diaspora. Das ist im Grunde genommen eine Binsenweisheit. Ich höre sie als notwendige und heilsame Ermahnung, gedanklich nicht zu schnell über die Zeiten und Umstände hinwegzuspringen und mir den Text zu „meinem“ zu machen. Ich bin kein Israelit. Als mitteleuropäischer Christenmensch im 21. Jahrhundert sollte ich mich davor hüten so zu tun, als könnte ich das Lebensgefühl des Volkes Israel wirklich teilen. Ich predige über diesen Text zu einer christlichen Gemeinde. Sie lebt wie ich der Gegenwart Israels. Sie lebt in einer Gesellschaft, in der Menschen vieler Religionen und Weltanschauungen ihre gemeinsame Existenz gestalten müssen. Als Christen sind wir auf besondere Weise mit dem Volk Israel verbunden: durch das Ja zu dem einen Gott, durch einen gemeinsamen Teil der Bibel, durch eine gemeinsame Hoffnung – und durch eine besondere Verantwortung aufgrund unserer Geschichte, die immer wieder von Entfremdung, Feindschaft und Schuldigwerden geprägt war. Das Du, mit dem der Text seine Leser*innen durchgehend anspricht, ist zuallererst das Du Israels, das Gott als sein Volk erwählt hat, an das er sich gebunden hat, um das er ringt, und dem er in der Kontinuität von biblischem Israel und jüdischem Volk treu bleibt.

2. Thematische Fokussierung

Die Exegese hat den Predigttext als einen der zentralen Texte der alttestamentlichen Umkehrtheologie profiliert. Umkehr ist ein Thema, an das ich mit der Predigt gut anknüpfen kann. Es ist aktuell stärker säkular als theologisch geprägt. Die (bleibende) Qualität unseres Lebens in unserem Land und weltweit hängt aufs engste zusammen mit der Frage, wie es uns als Menschheit gelingt umzukehren, und das heißt: jede und jeder für sich, aber auch wir in unseren unterschiedlichen Konstellationen miteinander unterscheiden zu lernen zwischen dem Segen und dem Fluch eingeübter Verhaltensmuster und vertrauter Systeme und der Lebensstile, in denen wir uns eingerichtet haben. Der Zusammenhang von Tun und Ergehen, von Verhalten und Geschick, den der Text herstellt („wenn“ v.1 – „dann“, v.3), kann hier eine Deutungs-Spur legen. Er lebt freilich von dem theologischen Horizont, den er aufmacht. Will sagen: Er geht mit seinem Gottesbezug über einen simplen Kausalnexus hinaus. Zugleich gilt: Die Klarheit der Optionen, die der Text mit der Alternative zwischen Segen und Fluch (v.1) suggeriert, entspricht vielfach nicht unserer Wahrnehmung der Übersichtlichkeit und Durchschaubarkeit der Welt. Die erweist sich als so komplex, dass eine Unterscheidung zwischen richtig und falsch, zwischen hilfreich und schädlich oft selbst den Expert*innen schwerfällt. Trotz aller Sehnsucht nach Komplexitätsreduktion sind griffige Lösungsangebote keine Option, sondern eine Falle für die Predigt. Die Umkehr, zu der der Predigttext auffordert, ist mehr als politische Rhetorik. Sie hat eine durch und durch religiöse Dimension: Es geht darum, mit seiner ganzen Existenz auf Gottes Stimme zu hören – im Bild der wörtlichen Bedeutung von v.1: Gottes Worte zu meinem Herzen zurückzubringen. Damit das geschehen kann, wird Gott die Herzen beschneiden (v.6). Was in diesen Versen mit dem Herzen geschieht, ist vielleicht das eindrücklichste Motiv des Predigttextes.  

3. Theologische Aktualisierung

Anders als in unserer (abendländisch geprägten) Überlieferung ist das Herz im Alten Testament nicht primär der Ort des Gefühls oder gar der Liebe. Es ist der Sitz des Planens und des Überlegens, des Erkennens und der Entschlüsse. Wie eine unbeschriebene Schreibtafel (vgl. Dtn 6,6). Zu Gott umzukehren, bedeutet deshalb ganz anschaulich, seine Worte zurück ins Herz zu bringen. Der Predigttext verheißt: Gott selbst wird das Herz eines jeden Israeliten beschneiden und ihn dadurch dazu fähig machen, im Sinne seiner Weisung zu leben. Darin besteht die Umkehr: dass Israel auf Gottes Liebe antwortet, indem es ihn mit ungeteilter Kraft zurückliebt, mit seinem ganzen Herzen und mit seiner ganzen Lebenskraft. Denn nur wo Gott in seinem Gebot geliebt wird, da wird das Leben gut. Diese Herzenserkenntnis gilt für das Volk Israel der im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung genauso wie für uns heute. Was lassen wir ins Zentrum unseres Erkennens und unserer Entschlüsse?

4. Bezug zum Kirchenjahr

Der 10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag) kann seit Einführung der aktuellen Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder (2018) mit zwei unterschiedlichen Akzenten gefeiert werden: als „grüner“ Israelsonntag, der zur Begegnung mit dem Judentum einlädt – oder als „violetter“ Israelsonntag in der Tradition, die seit der Reformationszeit den Sonntag als christlichen „Gedenktag der Zerstörung Jerusalems“ begeht, mit einem Akzent der Buße. Als Evangelium ist dem violetten Proprium Jesu vorweggenommene Klage über die Zerstörung Jerusalems in Lk 19,41ff. (samt dem Bericht von der Tempelreinigung) zugeordnet. Der Wochenpsalm des Propriums (Ps 74) ist einer der Klagepsalmen über die zerstörte Zionsstadt. Die Epistel (Röm 9,1-5) betont die bleibende Erwählung Israels. Der Israelsonntag dieser Prägung rückt inhaltlich in die Nähe des jüdischen Gedenkens an die Zerstörung des ersten und zweiten Tempels (Tish’a be’Av), in dessen Nähe er auch zeitlich steht. Die beiden vorgeschlagenen Wochenlieder („Aus tiefer Not lasst uns zu Gott“, EG 144; „Und suchst du meine Sünde“, EG 237) sind Bußlieder.

Spätestens seit dem 7. Oktober 2023 als bleibendem weltgeschichtlichen Datum bietet es sich an, den Sonntag mit dem „violetten“ Proprium in christlich-jüdischer Solidarität mit dem Volk Israel als einen Tag der Klage und der Buße zu begehen – vielleicht ja sogar mit jüdischer Beteiligung. Der Predigttext aus Dtn 30 stellt den bleibenden Ängsten schon mit den Worten und Bildern von vv. 1-6, aber noch intensiver in den folgenden vv. 7-10 die Hoffnung auf Wiederherstellung und Motive des Segens entgegen. Indem der Predigttext seine Hoffnungsperspektive mit dem Tun des Willens Gottes und dem Halten seiner Gebote verbindet, wirkt er einer politisch einseitigen Sicht entgegen, die die Frage nach der Sicherheit für Israel nicht in ein angemessenes Verhältnis zu den Rechten der nicht terroristisch aktiven Palästinenser setzt.

5. Anregungen

  • Wie würde Mose wohl zu Mitteleuropäern reden?
  • Wir leben in einer Welt, in der der Glaube an Gott umstritten ist und in der für viele der Glaube an Gott keine Rolle spielt. Wie kann man angesichts dessen angemessen, d. h. glaub-würdig davon reden, dass Gott handelt?
  • Ist eigentlich ein Neuanfang möglich? Und wenn ja: wie? Diese Frage gilt es zu beantworten, angesichts der politisch unlösbar scheinenden Situation in Israel/Palästina, angesichts der nicht nachlassenden antisemitischen Ressentiments, aber auch schlicht im Blick auf mein eigenes, dem gegenüber ‚kleines‘ Leben.
  • Der Predigttext ist eine Rede. Vielleicht ist die Predigt darüber eher ein Selbstgespräch vor Publikum. Das Selbstgespräch eines noch unbeschriebenen Herzens, oder eines mit Informationen beschriebenen Datenträgers, das Gott ja mal neu beschreiben könnte. Welche Informationen haben wir dort gespeichert? Was wäre, wenn jemand dort einfach etwas Neues speichern würde? Worte des Lebens…

Autoren

  • Prof. Dr. Reinhard Müller (Einführung und Exegese)
  • Dr. Johannes Goldenstein (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/50055

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