Matthäus 6,25-34 | 15. Sonntag nach Trinitatis | 08.09.2024
Einführung in das Matthäusevangelium
Das MtEv
1. Verfasser
Das MtEv ist, wie alle neutestamentlichen Evangelien, anonym verfasst. Die Zuschreibung an Matthäus ist handschriftlich seit dem Ende des 2./Beginn des 3. Jh.s bezeugt; die älteste patristische Bezeugung stammt aus dem weitgehend verlorenen Werk des kleinasiatischen Bischofs Papias von Hierapolis. Nach ihm „hat Matthäus die Logien (Jesu) also in hebräischer Sprache zusammengestellt; es übersetzte sie aber jeder, so gut er konnte“ (Eusebius, h.e. III 39,16; Irenäus spricht von seinem „Evangelium in schriftlicher Form“, s. Adv. haer. III 1,1). Die Zuschreibung eines Evangeliums an den Apostel Matthäus bezieht sich in den ältesten Quellen jedoch nur auf das behauptete hebräische/aramäische Original. Für die vorhandene griechische Fassung wurde schon von Hieronymus festgehalten, dass der Übersetzer unbekannt ist (Vir.ill. III 1). Ohne auf die Übersetzungsfrage einzugehen, wurde das MtEv bis lange ins 19. Jh. hinein und mit nicht wenigen Vertretern bis heute als Werk des Apostels u. ehemaligen ‘Zöllners’ Matthäus angesehen. In der deutschsprachigen Forschung wird dagegen mehrheitlich ein unbekannter judenchristlicher Verfasser angenommen, der zwischen 80 und 100 das Evangelium auf der Grundlage älterer Quellen (Mk, Q, Sondergut) geschrieben hat. Die internationale u. nichtprotestantische Forschung ist in dieser Frage allerdings deutlich pluraler als die deutschsprachige Einleitungswissenschaft und Kommentarliteratur. Eine wichtige Rolle spielt in beiden exegetischen Traditionen die singuläre Referenz in der Jüngerliste Mt 10,3 (Matthäus der Zöllner), die erkennbar und absichtsvoll auf die Berufung des Zöllners Matthäus 9,9–13 (der in den Parallelen Mk 2,13–27; Lk 5,27–32 Levi heißt, woraus in der Tradition Matthäus-Levi wurde) zurückverweist. Dies wird weithin als Referenz auf den intendierten (oder eben tatsächlichen) Verfasser verstanden. Die Apostolizität – verstanden in einer Weise, dass wesentliche Teile des Inhalts auf Überlieferungen aus dem Zwölferkreis, repräsentiert durch Matthäus, zurückgehen – kann so in Einklang mit der frühchristlichen Tradition trotz des relativ späten Entstehungsdatums des kanonischen (= griechischen) MtEv vertreten werden.
2. Adressaten
Das Evangelium selbst enthält keine direkten Hinweise auf Adressaten, Abfassungszeit oder -ort. Alle diesbezüglichen Aussagen sind aus dem vorliegenden Text abgeleitet und angesichts deren Spärlichkeit entsprechend hypothetisch. Die patristischen Autoren berichten, dass Matthäus das Evangelium für die „Hebräer“ (d.h. die jüdischen Jesusgläubigen in Israel) schrieb, bevor er „zu den anderen Völkern“ gehen wollte (Eusebius, h.e. III 24 6). Die Annahme, dass das Evangelium ursprünglich an überwiegend judenchristliche Gemeinden gerichtet war und in deren Kontext entstanden ist, wird auch heute mehrheitlich vertreten. Nur wenige machten und machen sich für einen heidenchristlichen Ursprungskontext stark. Allerdings gibt es auch hier eine starke, insbesondere englischsprachige Forschungstradition, die solche Partikularadressierungen ablehnt und stattdessen von einer von Anfang an universalen Adressatenschaft ausgeht („The Gospel For All Christians“). In der deutschsprachigen Evangelienforschung dominiert dagegen ein Partikular- und Konfliktmodell, nach dem die einzelnen Evangelien an bestimmte Gemeindegruppen adressiert sind und sich dabei gleichzeitig von den Empfängergruppen der anderen Evangelien mehr oder weniger polemisch absondern. Der Zuweisung des MtEv an ein judenchristliches Milieu impliziert darum oft die Abgrenzung gegenüber anderen frühchristlichen Milieus (repräsentiert u.a. durch Paulus oder das MkEv, das Mt angeblich verdrängen oder ersetzen wollte). Damit wird das MtEv in erster Linie zu einem Zeugnis für die angenommene Konfliktgeschichte innerhalb des frühen Christentums zwischen 70 und 100, und die in ihm vermittelten Jesustraditionen gelten als so ausgewählt bzw. reformuliert, dass sie der Selbstvergewisserung dieser besonderen Gruppe dienten (die manche mit den Apg 15,5 genannten christlichen Pharisäern verbinden). Alternativ kann man im MtEv, basierend u.a. auf seiner breiten Rezeptionsgeschichte seit dem 2. Jh. in den geographisch sehr verschiedenen Milieus des frühen Christentums und im Hören auf die patristischen Traditionen, ein in seinen Anfängen apostolisches Zeugnis sehen, dessen griechische Endgestalt das Mk- und möglicherweise auch das LkEv bereits voraussetzt. In diesem Fall stellt es die abschließende synoptische Stimme im neutestamentlichen Kanon dar, in der die Verkündigung von Jesus im Kontext einer „kerygmatischen Biographie“ (so Martin Hengel) einschließlich ihrer fortlaufenden Formatierung bis ungefähr zum Jahr 85–90 enthalten ist.
3. Entstehungsort
Aufgrund der judenchristlichen Charakteristika wird häufig eine Entstehung in Antiochien vermutet, was dadurch gestützt wird, dass Bischof Ignatius von Antiochien das MtEv schon im 1. Drittel des 2. Jh.s zu kennen scheint. Aber auch andere Orte in Israel bzw. Syrien werden diskutiert. Mt 4,24f. beschreibt den unmittelbaren geographischen Radius von Jesu Wirksamkeit (und damit einen möglichen ersten Adressatenkreis), aber das Evangelium selbst lässt keinen Zweifel an seiner universalen Perspektive (24,9.14; 26,13; 28,18–20), die sich zudem in der wiederholten Erwähnung von nichtjüdischen Personen als Empfängern der guten Botschaft konkretisiert (Mt 1,5; 2,1; 8,5–13.28–34; 15,21–28; 27,54).
4. Wichtige Themen
Wichtige Themen der exegetischen Interpretation sind die Christologie (Jesus als Sohn Davids neben der Menschensohn-Christologie), Soteriologie (Vergebung der Sünden als Zielvorgabe von Jesu Wirken [1,21] und als Vollendung [26,28: nur Mt verbindet die Worte vom Bundesschluß im Abendmahl
5. Besonderheiten
Das MtEv enthält eine Vielzahl klar abgrenzbarer Einheiten, die in sich deutlich strukturiert sind, insbesondere durch Dreiergruppen (vgl. 1,17, wo diese Struktur sogar benannt wird) oder „chiastische Ringkompositionen“ (U. Luz). Dagegen fehlt eine erkennbare Gesamtstruktur, indem der Aufbau insgesamt eher schlicht ist: Als Auftakt die Genealogie als Brücke in Israels Geschichte und die Kindheitsgeschichte als Erfüllungsgeschehen (vier der insgesamt 12 bzw. 13 Erfüllungszitate sind in Kapitel 1–2, beginnend mit 1,22: τοῦτο δὲ ὅλον γέγονεν ἵνα πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν „Dieses alles aber ist geschehen, damit erfüllt werden würde, was gesagt worden ist durch …“, vgl. außerdem 2,15.17.23; 4,14; 8,17; 12,17; 13,14.35; 21,4; 26,56; 27,9), daran anschließend das Wirken in Galiläa, und ab 16,21 eine zunehmende Fokussierung auf Jerusalem
Literatur:
- Aktueller Kommentar: Matthias Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015 (theologisch gehaltvolle Auslegung, aber kaum Hinweise auf Literatur; diese findet sich reichlich verarbeitet in dem Band: Matthias Konradt, Studien zum Matthäusevangelium, WUNT 358, Tübingen 2016).
- Grundlegend: Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/1-4, Neukirchen-Vluyn u.a. 1985 (5., völlig neubearbeite Aufl. 2002), 1990, 1997, 2002 (umfassendster Kommentar in deutscher Sprache mit ausführlichen Hinweisen zur Auslegungs- und Wirkungsgeschichte).
- Zur Diskussion um die Tora: R. Deines, Jesus and the Torah according to the Gospel of Matthew, in: The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, hg. v. M. Seleznev, W. R. G. Loader u. K.-W. Niebuhr, WUNT 459, Tübingen 2021, 295–327 (in diesem Band auch weitere Aufsätze zu dem Thema, so dass die verschiedenen Positionen gut erkennbar sind).
- Angelsächsische Literatur und Auslegungsgeschichte: Ian Boxall, Matthew Through the Centuries, Wiley Blackwell Bible Commentaries, Hoboken: Wiley Blackwell, 2019.
A) Exegese kompakt: Matthäus 6,25–34
Übersetzung
Deswegen sage ich euch: Seid nicht besorgt um euer Leben (wörtlich: eure Seele), was ihr essen werdet [oder was ihr trinken werdet], noch um euren Leib, was ihr anziehen werdet! Ist nicht das Leben (d. Seele) mehr als die Speise und der Leib als Bekleidung? 26 Blickt hin zu den Vögeln des Himmels, dass sie weder säen noch ernten noch einsammeln in Scheuen, und euer Vater, der himmlische, ernährt sie. Unterscheidet ihr euch nicht deutlich von ihnen? 27 Wer unter euch, indem er sorgt, kann hinzufügen zu seiner Lebenszeit eine Elle? 28 Und bezüglich Bekleidung, was seid ihr besorgt? Forscht die Lilien des Feldes aus, wie sie wachsen: sie mühen sich nicht ab noch spinnen sie. 29 Aber ich sage, dass nicht einmal Salomo in seiner ganzen Herrlichkeit umkleidet war wie eine von diesen. 30 Wenn aber Gott das Gras des Feldes, das heute besteht und morgen in einen Ofen geworfen wird, so umkleidet – wieviel mehr euch, ihr Schwachgläubigen?! 31 Sorgt also nicht weiter, indem ihr sagt: Was werden wir essen? Oder: Was werden wir trinken? Oder: Was werden wir uns anziehen? 32 Dieses alles doch erstreben die Menschenvölker. Euer Vater, der himmlische, weiß doch, dass ihr all dessen bedürft. 33 Strebt aber zuerst nach dem Königreich [Gottes] und seiner Gerechtigkeit, und dieses alles wird euch beigelegt werden. 34 Sorgt also nicht weiter für das Morgen, denn das Morgen wird für sich selbst sorgen. Es reicht dem Tag sein Übel.
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
V.25 Διὰ τοῦτο „deswegen“, knüpft an die Argumentation 6,19–24 an und markiert das Nachfolgende als Fortsetzung des Themas, allein Gott zu dienen.
ὑμῖν „euch“: Das Personalpronomen der 2. Person Plural kommt neunmal im Text vor, dazu kommen 16 Verbformen der 2. Person Plural. Angeredet sind (vgl. 5,1f.) in erster Linie die „Jünger“, d.h. der engere Kreis um Jesus (so auch ausdrücklich in der Parallele Lk 12,22–32, wo das Personalpronomonen 7mal vorkommt, dazu 14 Verbformen der 2. Pers. Plural).
μεριμνάω „sich sorgen um“ – das Verb kommt in verschiedenen Konstruktionen (zumeist imperativisch verstehbar) insgesamt sechs Mal vor und ist damit die thematische Leitvokabel.
„Seele“ (ψυχή) und „Leib“ (σῶμα) sind hier nicht im Sinn dichotomisch-platonischer Anthropologie zu verstehen, sondern als pars pro toto für die Innen- und Außenseite menschlicher Existenz: ψυχή steht für die auf Essen und Trinken angewiesene Lebenskraft oder Lebendigkeit, und σῶμα für die Schutzbedürftigkeit des Menschen nach außen, der Kleidung und Wohnort bedarf.
πλεῖον „mehr“ (Komparativ von πολύς „viel“): Mt liebt komparativische Vergleiche, oft in einem Schlussverfahren vom Kleineren zum Größeren (a minori ad maius): wenn schon A gilt, dann erst recht B. Allein in diesem Textabschnitt sind es drei solcher Komparative (in V.25.26.30). In allen Fällen geht es um den menschlichen Mehrwert gegenüber Pflanzen und Tieren. Gemeint sind zwar Menschen allgemein, in besonderer Weise (vgl. die betonte 2. Person Plural) aber die Nachfolger Jesu, denen diese Zusagen sozusagen erst recht gelten.
V.26: μᾶλλον („mehr“, „stärker“, „besser“, Komparativ des Adverbs μάλα „sehr“, „recht“, „ganz“) bestimmt das Verb διαφέρω, hier in der Bedeutung von „sich unterscheiden von“, „sich auszeichnen vor“.
V.28: καταμάθετε Imperativ Aorist von καταμανθάνω, „(genau) wahrnehmen“, „kennenlernen“, „ausforschen“. Im NT nur hier; das Simplex μανθάνω ist bei Mt relativ häufig (9,13; 11,29; 24,43), ansonsten in den Evangelien nur in Mk 13,28; Joh 6,45; 7,15.
τὰ κρίνα „Lilien“. Das griechische Wort κρίνον steht für die lilia candidum, die weiße Lilie, zu deren natürlichem Lebensraum Galiläa gehört. Ob hier eine konkrete Blume gemeint ist oder ganz allgemein die besonders im Frühling in Galiläa üppige Blumenpracht („die Vögel des Himmels“ ist ebenfalls eine zusammenfassende Bezeichnung), ist unklar. Die auffälligsten Frühlingsblüher sind die roten Kronen-Anemonen (anemone coronaria) und etwas später im Jahr die gelbe Kronenwucherblume (glebionis coronaria).
V.30: Konditionalsatz (Realis), d.h. der Wenn-Satz ist als gültig vorausgesetzt. ἀμφιέννυσιν, Präsens aktiv von ἀμφιέννυμι, zusammengesetzt aus ἀμφί „ringsherum“, und ἔννυμι „bekleiden“; hier ist eine Art Rundum-Versorgung angedeutet. Im NT nur noch Mt 11,8 par. Lk 7,25.
ὀλιγόπιστοι: das Adjektiv ist erstmals in den synoptischen Evangelien bezeugt, vor allem bei Mt (und zwar ausschließlich im Mund Jesu und adressiert an seine Jünger: Mt 8,26; 14,31; 16,8). Der Gedanke ist: bis zu einem bestimmten Punkt sind die Adressaten noch „Schwachgläubige“ (das Nomen ὀλιγοπιστία, nur einmal im NT in Mt 17,20a und wohl von Matthäus gebildet, markiert die Wende); ὀλίγος als Adjektiv bedeutet „wenig“, „klein“, „kurz“, „schwach“; damit wird ausgedrückt: der Glaube ist zwar da, aber noch zu klein, schwach, kurz etc. in den kritischen Momenten. Aber diesem Mangel kann abgeholfen werden. Durch die wachsende Beziehung mit und das vertiefte Verstehen von Jesus kann der Glaube zunehmen (Mt 17,20b; von nun an ist nicht mehr vom Kleinglauben der Jünger die Rede, sondern sie werden von Jesus über den Glauben belehrt, 21,21f.), so dass sie am Ende zu πιστοί werden (so werden in den Gerichtsgleichnissen in der letzten Rede Jesu die angesprochen, die in das Himmelreich hineingehen: 24,45; 25,21.23).
V.33: ζητεῖτε δέ: den prohibitiven Imperativen (μὴ θησαυρίξετε, μὴ μεριμνᾶτε) wird ein positiver Imperativ entgegengesetzt, markiert durch die Kontrastpartikel δέ, die in 6,25–34 nur hier zur Profilierung eines Imperativs eingesetzt ist (die übrigen Imperative sind ἐμβλέψατε V.26, καταμάθετε V.28 und das zweimalige μὴ οὖν μεριμνησητε V.31.34). Das Verb ζητέω meint bei Mt zumeist eine energische, zielstrebige und planvolle Handlung.
πρῶτον: das adverbial gebrauchte Zahlwort („erste/r/s“) besitzt emphatischen Charakter und betont die Unbedingtheit des Geforderten, neben das kein „zweites“ zu stehen kommen soll.
ταῦτα πάντα προστεθήσεται ὑμῖν: Als Motivation für das ζητέω ist die Stillung der Alltagsbedürfnisse in der Gegenwart zugesagt. Wer sich an diese jesuanische Prioritätssetzung hält, dem wird „dieses alles (ταῦτα πάντα)“ beigelegt werden (futurisch als passivum divinum). Gemeint ist mit ταῦτα πάντα (diese Wendung auch zweimal in V.32) der Inhalt des menschlichen Sorgens, nämlich Nahrung und Kleidung.
2. Literarische Gestalt und Kontext
Der Abschnitt ist Teil einer Reihe weisheitlicher Mahnungen, die jeweils unter einen prohibitiven Imperativ gestellt sind, der anschließend mehr oder weniger ausführlich erklärt und vertieft wird. Das MtEv zeichnet sich generell dadurch aus, dass unter einer relativ eindeutigen Oberflächenstruktur heterogene Wortüberlieferungen zusammengestellt werden:
- Μὴ θησαυρίξετε (6,19–24): Hortet keinen irdischen Reichtum, sondern himmlischen!
- Μὴ μεριμνᾶτε (6,25–34): Sorgt nicht um das Alltägliche, strebt nach dem Reich Gottes!
- Μὴ κρίνετε (7,1–5): Richtet nicht andere, bevor ihr nicht euch selbst in die Augen geschaut habt!
- Μὴ δῶτε (7,6): Verachtet das euch anvertraute Heilige nicht!
- διὰ τοῦτο V.25 nimmt das Vorangehende auf, dass niemand zwei Herren, Gott oder dem Mammon, dienen kann. Diese Einsicht wird im Predigttext auf alltägliches Verhalten angewandt: wer sich von alltäglichen Sorgen einspannen lässt, ist nicht frei für die Aufgaben des Reiches Gottes (vgl. Mt 13,23: das ausgesäte Wort wird durch „die Besorgnis um die Welt“, ἡ μέριμνα τοῦ αἰῶνος, und „die Betörung des Reichtums“, ἡ ἀπάτη τοῦ πλούτου, erstickt).
3. Historische Einordnung
Der Text besitzt in Lk 12,22–32 (und damit außerhalb der Feldrede) eine nahezu gleichlautende Parallele (bei Mt fehlt Lk 12,26.32, dafür ist V.34 Sondergut und V.33 gegenüber Lk 12,31 erweitert), so dass der Grundbestand dieser Verse auf die Redenquelle zurückgehen dürfte und damit nahe an dem ist, was Jesus gesagt hat. In beiden Evangelien ist der Text durch διὰ τοῦτο mit dem Voranstehenden verbunden und in beiden Fällen geht es um den rechten Umgang mit Geld/Besitz (bei Lk ist es das Gleichnis vom reichen, aber törichten Kornbauer, 12,16–21).
4. Schwerpunkte der Interpretation
Der Text hat eine doppelte Zielrichtung: eine weisheitliche, lebenspraktische, die in V.34 zum Abschluss kommt: kein Sorgen für das Morgen, weil das Morgen sein eigenes Versorgen mit sich bringt. Darin drückt sich eine auffällige Zuversicht aus, die in der Schöpfergüte des himmlischen Vaters ihre Grundlage hat: der die Vögel versorgt und das vergängliche Gras mit solcher Schönheit ziert, der wird den Menschen nicht vergessen, den er „wenig niedriger“ als sich selbst geschaffen hat (Ps 8,6, aber auch Mt 5,45: er lässt die Sonne aufgehen und regnen über Bösen und Guten). Er lässt sich um „das tägliche Brot“ bitten (Mt 6,11), und in dieser Bitte ist – vgl. Luthers Auslegung in seinen Katechismen – alles enthalten, was Menschen zum Leben brauchen. Den prohibitiven Imperativen wird in V.33 ein positiver Imperativ entgegengesetzt, der den Horizont des Lebens über die bloß kreatürliche Existenzsicherung auf das wichtigere Ziel ausrichtet: Das Reich Gottes und die mit ihm verbundene Gerechtigkeit, die Matthäus, angefangen mit 3,15, vor allem in der Bergpredigt profiliert hat, vgl. 5,6.10.17.20; 6,1 (danach nur noch in 21,32). Diese christologisch basierte Gerechtigkeit (vor allem 3,15; 5,17) ist die Tür in das Reich Gottes (5,10.20). Eine darauf ausgerichtete Existenz ist der entscheidende Unterschied zwischen den „Völkermenschen“ (τὰ ἔθνη) und den „Gläubigen“ (s. zu Vers 30). Indem Jesus seine Jünger zum Vertrauen auf ihren himmlischen Vater einlädt und sie so von der Sorge um Nahrung und Kleidung befreit, verweist er sie an ein Ziel, das über eine sorgenfreie irdische Existenz hinausgeht.
5. Theologische Perspektivierung
Ohne V.33 ist die Perikope in erster Linie ein weisheitlicher Text, mit dem alle, die an den Schöpfergott Israels glauben, zu einem vertrauensvollen Leben eingeladen werden. Durch V.33 wird der Text jedoch eine Herausforderung: Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit werden als Ziel der Jüngerexistenz dargestellt. Die, die „hungern und dürsten nach Gerechtigkeit“ (Mt 5,6) sind aufgefordert, diese Gerechtigkeit an erste Stelle zu setzen. Angesprochen sind also in erster Linie diejenigen, die „um der Verkündigung des Gottesreichs willen ihren Beruf nicht mehr ausübten“ (Ulrich Luz zur Stelle). Die Jünger, die Jesus als „Menschenfischer“ berufen hat und die am Ende des Evangeliums in alle Welt ausgesandt werden, sollen ermutigt werden, im Vertrauen auf Gottes Versorgen den Anliegen des Reiches Gottes absolute Priorität einzuräumen. Zusammenfassend ergibt sich für 6,33, dass der Imperativ ζητεῖτε als ein Sichbemühen um die Ausbreitung und Geltung der Basileia in der Welt zu verstehen ist, d.h. es ist ein Aufruf zu einer missionarischen Existenz. Der Wille Gottes ist die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat. Dem ist das in der Bergpredigt gelehrte Verhalten zugeordnet, es steht nirgends als Selbstzweck. Es ist eine missionarische Jünger-Ethik und die Bergpredigt gehört als Ganzes zum Genus der Aussendungs- und Beauftragungsrede (Chr. Burchard).
Literatur
- Deines Roland: The Description of Faith in the Gospel of Matthew, in: Treasures New and Old, FS D. A. Hagner, hg. v. Carl S. Sweatman u. Clifford B. Kvidahl, Wilmore, KY, 2017, 125–164.
- Burchard, Chrisoph: Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, hg. v. D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 27–50.
- Ders., Jesus für die Welt. Über das Verhältnis von Reich Gottes und Mission, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, hg. v. D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 51–64.
- Petersen, Walter: Zur Eigenart des Matthäus. Untersuchung zur Rhetorik in der Bergpredigt, Osnabrücker Studien zur Jüdischen und Christlichen Bibel 2, Osnabrück 2001.
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Ich gebe zu: Ich habe diesen Text früher gern als Sommersorglosigkeitstext gelesen, als Ausdruck einer Haltung, wie ich sie im Urlaub pflege oder zu pflegen versuche: Endlich einmal „fünfe gerade sein lassen“. Erleichtert feststellen, dass es auf der Arbeit auch ohne mich läuft. Dankbar seufzen, weil ich mich weder darum kümmern muss, wer den Wochenendeinkauf macht, noch ob die Sporttaschen der Kinder vollständig bestückt und die fälligen Vorsorgeuntersuchungen anberaumt sind. Alles weit weg im Urlaub. Sorget nicht.
Am 15. Sonntag nach Trinitatis ist der Sommerurlaub schon lange vorbei, zumindest für Menschen mit schulpflichtigen Kindern. Aber im Text geht es sowieso nicht um Urlaubsentspannung. Das hat mir die Exegese klar gemacht. Zwar zielt der Text in weisheitlich-schöpfungstheologischer Manier darauf, dass wir uns getrost der liebevollen Fürsorge des himmlischen Vaters anvertrauen dürfen. Allerdings redet Jesus in Mt 6,25-34 zum einen nicht von der Organisation eines stressigen Berufs- und Familienlebens, sondern von der existentiellen Sorge, überhaupt etwas zum Essen, zum Anziehen und ein Dach über dem Kopf zu haben. Zum anderen läuft die ganze Argumentation nicht auf ein sorgenfreies Leben als solches hinaus, sondern darauf, die richtigen Prioritäten zu setzen. Es geht Jesus darum – wie Roland Deines formuliert – sich nicht „von alltäglichen Sorgen einspannen“ zu lassen, weil man nur so frei wird für „die Aufgaben des Reiches Gottes.“
2. Thematische Fokussierung
An welchen Punkten spricht der Text in die gegenwärtige Lebenswelt der Predigthörerinnen und Predigthörer hinein? Das „In-Sorge-Sein“ (in seiner ganzen, auch emotionalen Spannweite) ist sicherlich ein Zug unserer Zeit und zwar sowohl gesellschaftlich-politisch als auch individuell-persönlich (wobei sich beides nicht strikt auseinanderdividieren lässt).
Als erstes fallen mir Menschen ein, die in den letzten Jahren aus Kriegsgebieten wie der Ukraine oder aus Krisenregionen wie Afghanistan zu uns geflohen sind. Sie kennen tatsächlich die existentiellen Sorgen, die der Predigttext anspricht - die Sorgen um Leib und Leben.
Aber auch die restliche Gesellschaft ist in Sorge, wie die vielen Proteste, Brandbriefe und Petitionen der letzten Monate dokumentieren. Menschen sorgen sich angesichts von Inflation und wirtschaftlicher Stagnation um die Aufrechterhaltung ihres Lebensstils. Wir sorgen uns um das Bildungswesen, das Gesundheitssystem und um die Zukunft des Planeten. Die jüngsten Wahlergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen befeuern die Sorge um die politische Entwicklung in Deutschland. Dazu kommen die schon oben angesprochenen Alltagssorgen, gerade von Familien.
Auch wenn manche dieser Sorgen politisch instrumentalisiert oder sogar missbraucht werden (Stichwort „besorgte Bürger“), werden sie doch von Menschen als bedrückend oder sogar als existentiell bedrohlich erlebt. Deswegen kann eine Predigt über dieses „Lebensgefühl“ nicht einfach hinweggehen, auch wenn es richtig ist, dass das permanente „In-Sorge-Sein“ Energien absorbiert, die Menschen der religiösen Tiefendimension ihres Lebens, also ihrer Gottesbeziehung, widmen und dadurch gerade seelische Entlastung von Planungsdruck und vorausschauender Ängstlichkeit erfahren könnten.
3. Theologische Aktualisierung
Der Text Mt 6,25-34 changiert zwischen Anspruch und Zuspruch. Grammatisch dominieren die Imperative, inhaltlich überwiegt der tröstende Charakter. Jesu Aufforderung, dem Sorgen nicht zu viel Raum zu geben, wurzelt in der Zusage, dass sich ein anderer um uns sorgt. Freilich hängt diese Argumentation im Text an schöpfungstheologischen Vorstellungen und damit an einem Konzept, das seit dem Siegeszug der neuzeitlichen Naturwissenschaften in eine Krise geraten ist. Wer in der Predigt auf diese Karte setzt, sollte sich über diese Herausforderung im Klaren sein. Allerdings ist es ja auch möglich, den anderen Strang des Predigttextes in den Mittelpunkt zu stellen, also das Versprechen Jesu, dass wir in dem Maß zum „eigentlichen“ Leben vorstoßen werden, in dem die Sorge um den morgigen Tag (Mt 6,34) bzw. um die Zukunft in den Hintergrund tritt und diese neue Haltung dann rückläufig sogar mit der Erfahrung einhergehen wird, dass sich Alltags- und Zukunftssorgen auf das richtige Maß zurechtstutzen. Dabei geht es bei dem „eigentlichen“ Leben aus meiner Sicht auf einer ersten Ebene tatsächlich darum, zur religiösen Tiefendimension der eigenen Existenz vorzustoßen, sich also als Gotteskind zu begreifen und sein Leben aus dieser Beziehung heraus zu führen. Freilich bleibt der christliche Glaube dabei nicht stehen, sondern greift automatisch weiter aus. Er „trachtet“ nicht nur nach dem eigenen Heil, sondern auch nach dem Willen Gottes für die Welt - nach dem Himmelreich, wie der Evangelist sagt. Das „Trachten“ konkretisiert sich m.E. einerseits als Suche danach, wo sich das Reich Gottes schon in unserer Welt zeigt, wo also Menschen aus ihrer Gotteskindschaft heraus leben, sich davon trösten, aufrichten und bewegen lassen, im Sinne der Nächstenliebe und nicht im Interesse des eigene Fortkommens zu handeln. Der zuletzt genannten Punkt deutet schon an, dass im „Trachten“ biblisch-theologisch andererseits immer auch ein ethisches Moment steckt. Als Glaubende mühen wir uns, dem Willen Gottes auch in unserem Tun zu entsprechen bei allem Wissen um den bruchstückhaften und vorläufigen Charakter solcher Anstrengungen.
4. Bezug zum Kirchenjahr
Da Mt 6,25-34 auch das Evangelium des 15. Sonntags nach Trinitatis bildet, verwundert es nicht, dass die dort aufgemachten Themen das gesamte Proprium prägen. Das beginnt beim Wochenspruch (1Petr 5,7), der der Epistel des Sonntags (1Petr 5,5b-11) entnommen ist, zieht sich über den Wochenpsalm (Psalm 127) und hört auch bei den beiden Wochenliedern (EG 369 und EG 427) nicht auf. Es fällt auf, dass im Textraum des Sonntags vor allem die fürsorgliche Schöpfergüte Gottes im Zentrum steht. Allerdings werden auch gegenläufige Erfahrungen angesprochen (vgl. 1Petr 5,8.10) und als göttliche Probe der menschlichen Geduld und Treue gedeutet (etwa in EG 369 Strophe 3 und 4). Insbesondere das (wenig bekannte) zweite Wochenlied „Solang es Menschen gibt auf Erden“ denkt die Perikope Mt 6,25-34 weiter. Nicht nur, dass es den biblischen Text in Strophe 3 direkt zitiert, es reflektiert sogar (in aller Knappheit) die christologischen Dimensionen der Thematik (Strophe 4).
5. Anregungen
Sicherlich wird das Thema des „Sorgens“ in seiner Ambivalenz größeren Raum in einer Predigt zu Mt 6,25-34 einnehmen. Ein persönlicher Einstieg könnte entstehen, wenn man durch die eigene Wohnung oder das eigenen Haus geht und beschreibt, an welchen Stellen das eigene Sorgen und Vorsorgen sichtbar wird, nicht nur in seiner individuellen, sondern auch in seiner gesellschaftlich-politischen Dimension (Laufschuhe; die reich gefüllte Kühltruhe; Versicherungsunterlagen; Vorräte an Paracetamol; ein an den Kühlschrank gepinnter Handzettel, der zu einer Demo einlädt usw.). Solche Streifzüge ließen sich auch mit unterschiedlichem Fokus an mehreren Stellen der Predigt platzieren.
Oder man greift die dialogische Struktur des Predigttextes auf und geht ins Gespräch mit Jesus: „Sorgt euch nicht! sagst du. Aber ich bin in Sorge. Ich sorge mich, weil in der Schule meiner Tochter so viel Unterricht ausfällt. Ich sorge mich um die Demokratie in Deutschland ... Meine Nachbarin ist 2022 aus der Ukraine gekommen. Sie sorgt sich um ihren Sohn und um das Dorf, aus dem sie stammt …“
Im weiteren Verlauf der Predigt ließe sich dann erwägen, ob sich manche der Sorgen, die uns bewegen, nicht auch als Sorgen um bzw. Trachten nach der „göttlichen Gerechtigkeit“ deuten lassen.
Schließlich ist noch an einen Satz zu erinnern, der von Luther kolportiert wird: „Dass die Vögel der Sorge und des Kummers über deinem Haupt fliegen, kannst du nicht ändern. Aber dass sie Nester in deinem Haar bauen, das kannst du verhindern.“ (vgl. EG Bayern S. 677)
Autoren
- Prof. Dr. Roland Deines (Einführung und Exegese)
- Dr. Kathrin Mette (Praktisch-theologische Resonanzen)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500060
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