Kirchengeschichte, Literatur als didaktischer Zugang
(erstellt: Februar 2016)
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Von dem einflussreichen katholischen Kirchenhistoriker und Ökumeniker
Erwin Iserloh (1915-1996) wird erzählt, er habe in seinen Vorlesungen vehement gewarnt vor „der ‚parfümierten Geschichte‘ jener Romanschreiber, die sich mit historischen Themen beschäftigen. Derlei läse ein zukünftiger (Kirchen-)Historiker nicht! Es verderbe die notwendige Distanz zum Thema“ (Ruppert, 1990, 293). Dementsprechend müsste jede seriöse Historikerin und jeder seriöse Historiker von vornherein erhebliche Reserven gegenüber dem Versuch haben, belletristische Romane als Quellen (→ Quellenarbeit, kirchengeschichtsdidaktisch
1. Klio dichtet: Geschichte und Geschichten
Es gibt gegenteilige Einschätzungen. Im Anschluss an das geschichtshermeneutische Modell des Amerikaners Hayden White (*1928) finden sich Gedanken, die auf die inneren Verschränkungen von Geschichte und Geschichten verweisen. White spricht in seinen einflussreichen Studien über „Die Fiktion des Faktischen“ provokativ von der strukturellen Nähe zwischen Geschichtsschreibung und belletristischer Literatur. Beide sind für ihn gleichermaßen auf einer nachträglich konstruierten Plotstruktur beruhende Formen der Fiktionsbildung. Er postuliert, dass „der Diskurs des Historikers und der des Autors fiktionaler Literatur sich überschneiden, Ähnlichkeiten aufweisen und einander entsprechen“ (White, 1986, 145).
Im Bild gesprochen: Klio dichtet. Klio, die griechische Muse der Geschichtsschreibung, wird üblicherweise mit einer Papyrusrolle dargestellt, gelegentlich auch mit einem Griffel. Sie ist Symbol dafür, dass „die Historie nicht allein eine“ – objektive, vorgeblich interessenlose – „Wissenschaft ist, sondern die Kunst der Darstellung des Vergangenen umgreift“ (Hasberg, 1997, 708), und dies stets eben auch poetisch, fiktiv, gestalterisch. Diese Sichtweise hat sich inzwischen in weiten Teilen der → Kirchengeschichtswissenschaft
Von Anfang an wird deutlich: Die Verbindung von Geschichte und Geschichten ist ein heikles Gelände, aber zugleich ein reizvolles Gebiet, um die Chancen und Grenzen von erinnerungsgeleitetem Lernen (→ Erinnerung/Erinnerungslernen
2. Die „Freiamts-Trilogie“ als Beispiel. Narrativer Zugang zum Katholizismus in der Schweiz
An der so genannten „Freiamts-Trilogie“, einem kirchengeschichtlich relevanten Beispiel, können relevante Fragestellungen sowie spezifische Lernchancen literarischen Lernens in (kirchen-)geschichtlichen Kontexten aufgezeigt und verdeutlicht werden.
Der Schweizer Erzähler
Silvio Blatter (*1946) legte diese Trilogie von 1978 bis 1988 vor. In den drei thematisch wie personal eng aufeinander bezogenen Romanen „Zunehmendes Heimweh“ (1978), „Kein schöner Land“ (1983) und „Das sanfte Gesetz“ (1988) entfaltet er einen Zugang zur Geschichte der katholischen Enklave des Schweizer „Freiamts“ im Kanton Aargau um die Orte Bremgarten und Muri. Von Heinrich Böll begrüßt als bedeutender Beitrag zur Gattung „Heimatroman“ – überzeugend gezeichnet „wie alle Romane, in denen Menschen zu Hause sind“ (Böll, 1985, 43) – zeichnet sich die Trilogie aus durch zahlreiche Bezüge auf die katholische Geschichte dieser Region, sowie auf die sich verändernde Bedeutung von → Religion
„Zunehmendes Heimweh“ entfaltet ein Panorama von Lebensschicksalen und verbindet dabei zeitgenössische Lebensläufe nicht nur mit Erinnerungen an die selbsterlebte Vergangenheit, sondern auch mit historischen Rückblicken, die der heutigen Erzählebene eine überzeitliche Tiefendimension verleihen. Eine der Figuren, der Hilfslehrer Hans Villiger, verfasst für eine Regionalzeitschrift einen umfangreichen Aufsatz über den „Freiämtersturm 1841“, in dem die unterdrückten katholischen Bauern gegen eine neue, liberale Verfassung rebellierten, die ihnen signifikante Nachteile bescherte. Dieser Aufsatz wird in mehreren umfangreichen Passagen im Buch in Kursivschrift abgedruckt. Der gegenwärtige Erzählbogen erhält so eine parabolische Durchlässigkeit. Gegenwart und Vergangenheit werden korrelativ (→
Korrelation
Wie folgt charakterisiert Silvio Blatter – gespiegelt in die Innensicht einer seiner weiblichen Figuren, der schwangeren Margrit – sein Erzählverfahren:
„Dazwischen spannt die Zeit einen Bilderbogen, Filmschnitte, Zeitlupe, beschleunigtes Tempo, eine Abfolge von Ereignissen, deren Niederschlag im Gedächtnis schlierte. Sie hatte sich Vergangenheit bisher immer als losgelöst vorgestellt, als abgeschlossen, nun stellten sich Zusammenhänge her. Einem Bild folgte zwangsläufig ein neues und wurde durch das vorangehende mitgeprägt. In diesem Gefüge von Erinnerungen machte sie Plattformen aus, auf denen einzelne Ereignisse verweilten, denn manchmal ruhte das Gedächtnis aus und nahm sich Bild um Bild gemächlich vor, damit umfassendere Gemälde entstehen konnten, gleichsam als Plakate zwischen den kleineren Formaten“ (Blatter, 1978, 138f.).
Im Alltag der Menschen im Freiamt bleibt der Katholizismus zunächst lebensprägend. Er bestimmt das Zeitgefühl, die Rituale, das Bewusstsein von historisch gewachsener Identität (→ Identität, religiöse
Nicht alle Charaktere des Romans teilen diese Einschätzung. Doch selbst Margrit, deren Lebenserinnerungen zahlreiche „katholische Bilder“ (Blatter, 1978, 390) aufblättern, „zweifelt“ (Blatter, 1978, 391). Der Roman endet so mit einer zwar verhaltenen Zuversicht im Blick auf die Zukunft, geprägt vom titelgebenden „zunehmenden Heimweh“. Ob der in seiner langen Geschichte entfaltete Katholizismus darin aber eine Rolle spielen wird, bleibt ungewiss.
Fünf Jahre später – in „Kein schöner Land“ – hat sich das Klima bereits spürbar verändert. Die →
Säkularisierung
Noch einmal fünf Jahre später – in „Das sanfte Gesetz“ – findet sich zwar ein schon im Titel erkennbarer versöhnlicherer Ton als zuvor, erkauft freilich durch die nun erfolgte Verabschiedung einer Tiefenprägung durch den Katholizismus. Doch es gibt ihn bei einigen Zeitgenossen durchaus noch, den Besuch der Sonntagsmesse, aber er „entsprach weniger einem Bedürfnis denn einer gesellschaftlichen Pflicht“ (Blatter, 1988, 44). Andere, wie die als Kind, Jugendliche und junge Frau tiefgläubige Margrit, sinnieren darüber, „wie lange sie keine Kirche mehr betreten hatte[n]“ (Blatter, 1988, 220). Religion spielt im Leben der meisten Charaktere – und auch in Blatters folgenden Romanen – keine prägende Rolle mehr.
In einem großen Bilderbogen zeichnet die Trilogie also nach, wie selbst in der als grundkatholisch geltenden Enklave des Freiamtes innerhalb von zehn Jahren die religiöse Prägung schwindet, sich in Erinnerung oder aufrechterhaltene Routinehandlungen auflöst. Gleichzeitig wird diese Erzählgegenwart mit biographischen wie historischen Grundschichten unterlegt, die den Wandel umso klarer und tiefenschichtiger vor Augen stellen.
3. Literarisch-religionspädagogische Grundprinzipien
Warum und wie kann das Lernen aus Geschichte über das Lernen aus Geschichten möglich werden? Wo und wie kann gerade →
Kirchengeschichte
3.1. Substitution
Die beschriebenen Romane – oder ausgewählte Passagen daraus – lesen sich wie eine Illustration der im Blick auf die Weitergabe von geschichtlichen →
Erfahrungen
3.2. Exemplarische Repräsentativität
Nur zu gut sind sich Religionsdidaktikerinnen und Religionsdidaktiker bewusst, dass Auswahl und →
Elementarisierung
Nach welchen Prinzipien aber sollten solche Fallstudien ausgewählt werden? In der allgemeinen Geschichtsdidaktik plädiert man stark für das Prinzip der „Repräsentativität“. Zeitgeist und Zeitentwicklungen sollen anhand typischer, eben repräsentativer Beispiele erkennbar und reflektierbar werden. Insofern verbindet sich das Prinzip der Repräsentativität mit dem der Exemplarität. Anhand von wenigen Figuren soll ein vergangenes Geschehen zugänglich werden, in dem die gesellschaftlichen Umstände, der Zeitgeist, die Entwicklungen besonders anschaulich werden. Der nebenberufliche Historiker Hans Villiger sowie die angesichts ihrer Schwanger- und dann Mutterschaft über die Entwicklungen der Lebensbedingungen besonders sensible Margrit sind bei Silvio Blatter nicht zufällig die beiden Figuren, die alle drei Romane verbinden. Dass sich in diesen beiden Charakteren die Vielfalt der Entwicklungen und Perspektiven nicht aufzeigen lässt, wird durch das reiche und wechselnde Personal der Nebenfiguren deutlich.
3.3. Personalität
Ein drittes didaktisches Schlagwort schließt sich daran an: die Personalität oder „Personorientierung“ (König, 2003, 190; → Biografisches Lernen
3.4. Authentizität
Eine weitere, über Literatur eigens mögliche Gewinndimension liegt darin, dass in gelungenen Texten Authentizität spürbar werden kann. Nicht in dem Sinne, dass die Schriftstellerinnen und Schriftsteller sich auf eine lückenlose historische Quellenlage verlassen könnten, wohl aber darin, dass die Qualität guter Literatur sich unter anderem gerade darin spiegelt, wie authentisch und überzeugend sich die Autorinnen und Autoren in Lebensgefühle fiktiv hineinversetzen können. Diese Authentizität bestimmt sich zunächst also nicht durch faktenhistorische Stimmigkeit, sondern durch ästhetische Qualität. Silvio Blatters nebenberuflicher Historiker Hans Villiger fasst so seine subjektive Sicht auf die Geschichte und den zeitgenössischen Zustand der katholischen Schweiz zusammen. Nicht absolute historische Validität und Triftigkeit wird deshalb zum Maßstab des Romans, sondern dessen ästhetische Stimmigkeit. Dass diese auf anderer Ebene an historischen Überprüfungen gemessen werden kann, steht auf einem anderen Blatt.
3.5. Multiperspektivität
Die Stimmigkeit der literarischen Porträts ergibt sich unter anderem daraus, dass sie nicht objektiv, auktorial oder mit Allgemeingültigkeitsanspruch präsentiert werden. Das durch die Romane vermittelte Bild setzt sich aus mehreren, von unterschiedlichen Positionen aus vermittelten Bruchstücken der Wahrnehmungen, Zugänge und Erinnerungen zusammen. Blatter hatte sein Kompositionsprinzip ja – wie oben zitiert – genau so bestimmt: „In diesem Gefüge von Erinnerungen“ gibt es „Plattformen [...], auf denen einzelne Ereignisse verweilten, denn manchmal ruhte das Gedächtnis aus und nahm sich Bild um Bild gemächlich vor, damit umfassendere Gemälde entstehen konnten, gleichsam als Plakate zwischen den kleineren Formaten.“
In dieser Poetologie spiegelt sich eine geschichtshermeneutische (→ Hermeneutik
3.6. Beitrag zur Lebensorientierung
Der Ort von Kirchengeschichte im Religionsunterricht (→ Religionsunterricht, evangelisch
Ganz in diesem Sinne wird in der „Freiamts-Trilogie“ die Erinnerung an die katholische Prägung der Region zur Prüffolie gegenwärtiger Fragestellungen. Vor allem die rigide Sexualmoral, die angst- und zwangsbetonte Erziehung, aber auch die skeptische Haltung zur aufkommenden Demokratie werden aus der Geschichte zwar verständlich; derartige Thematiken können aber an der Transformation in gegenwärtige Lebensfragen und Orientierungen scheitern. Geschichte wird hier nicht um ihrer selbst willen erzählt, sondern um zu verstehen, wie und warum eine zu enge Vergangenheitsfixierung die Bewältigung der Gegenwart erschwert. Das nur noch als Ballast empfundene geistige und religiöse Erbgut wird allen ‚zunehmenden Heimwehs‘ zum Trotz zurückgelassen.
Wird der Blick auf Geschichte damit „zum Fundus anschaulicher Beispielfälle degeneriert“ (Hasberg, 2003, 11), so die vielfach formulierte Kritik an derartigen Verfahren? Diese Gefahr kann nur dann bestehen, wenn Geschichte ausschließlich aktualisierend betrachtet wird. Dass sie eben auch moralische, gesellschaftliche, spirituelle und religiöse Probleme, Dilemmata und Entwicklungen veranschaulichen kann, stärkt ihre religionsdidaktischen Potenziale.
3.7. Regionalität
Ein weiterer Aspekt: Vor allem Hubertus Halbfas hat in seiner 1989 erschienenen kirchengeschichtsdidaktischen Studie „Wurzelwerk“ darauf hingewiesen, dass Kirchengeschichte dann nach wie vor auf Interesse stoßen könne, wenn sie regional verankert sei. Diese Beobachtung und Forderung wird inzwischen fast durchgängig in allen neueren kirchengeschichtsdidaktischen Werken erhoben, ohne sie zu verabsolutieren – auch die Geschichte des zeitlich und regional Fremden hat selbstverständlich ihren Ort. Bei Silvio Blatter wird Regionalität zum poetologischen Gestaltungsprinzip. Obwohl er nicht zum Verfremdungsprinzip des Einbaus von ortstypischem Dialekt greift, konzentriert er seine Trilogie brennspiegelartig auf eine ganz bestimmte Region, das Freiamt im schweizerischen Kanton Aargau. Im Schicksal dieser Region und der hier lebenden Menschen, am Beispiel der Entwicklungen an diesem konkreten Fleckchen Erde werden jedoch übertragbare Facetten deutlich: konkret die des Übergangs des Katholizismus von der Vormoderne in die Moderne und dann in die Postmoderne; allgemein Geschichten von Macht und Unterdrückung, Schuld und Opfertum, Liebe und Scheitern, Sinnsuche und dem Ringen um Lebenszuversicht.
3.8. Berücksichtigung der Alltagsgeschichte
Eine weitere Forderung der aktuellen Kirchengeschichtsdidaktik liegt darin, nicht ausschließlich die Herrschergeschichte zu betrachten, das Leben der Monarchen und Fürsten, der Päpste und Bischöfe, sondern das Alltagsleben der ‚gewöhnlichen Menschen‘ (vgl. Lindner/Riegel/Hoffmann, 2013). Die Darstellung des Alltagslebens in historischen Epochen erlebt geradezu eine Hochkonjunktur.
So auch in den vorgestellten Romanen von Silvio Blatter. Das dort entfaltete gegenwärtige Leben spielt sich auf der Ebene der ‚kleinen Leute‘ ab, nicht auf der von gesellschaftsbestimmenden Kräften. Auch die eingespielten historischen Erinnerungen rücken vor allem die einfachen katholischen Bauern ins Zentrum, die gegen die herrschaftlichen Schichten rebellieren. Aus ihrer Sicht erhalten Geschichte und Gegenwart ihr Profil. So wie die Bauern damals, so sind auch die einfachen Leute heute zwar nicht einfach passive Spielfiguren im historischen Geschehen, wohl aber eher Re-Agierende und Betroffene als Strategen und Entscheider. Damit kommt Blatter ungeahnt, aber kaum zufällig der didaktischen Forderung einer Behandlung der – vermeintlichen – „kirchengeschichtlichen ‚Verlierer‘“ (Ruppert/Thierfelder, 1997, 316f.) nach.
3.9. Genderbewusste Geschichtsbetrachtung
Keineswegs allein von feministischer Seite wird seit etwa drei Jahrzehnten eine weitere Forderung erhoben, die der Beseitigung geschlechtsspezifischer Defizite in der Geschichtsbetrachtung und -darstellung (vgl. Bußmann, 1982). Jenseits aller Diskussionen über Reichweite und genaue Ausdifferenzierung des zugrundeliegenden Konzeptes gilt: Ein →
genderbewusstes Lehren und Lernen (→ Gender)
Übertragen auf unser Beispiel: Zwar herrscht in der „Freiamts-Trilogie“ die männliche Perspektive vor: durch die Person des Autors, seine Prägungen und Blickweisen, seinen männlichen Protagonisten Hans Villiger, den Rückblick auf die männlich bestimmte Revolte. Gleichwohl wird dieser Perspektive in Margrit eine weibliche Protagonistin an die Seite gestellt, die auf ihre Weise Erinnerung und Gegenwartswahrnehmung in die Romane einspielt. Das oben aufgenommene Zitat aus dem Buch Deuteronomium entstand in einer weitgehend patriarchal strukturierten Gesellschaft: „Frag deinen Vater, er wird es dir erzählen“. Die Romane weisen auf die Dringlichkeit einer Ergänzung: „Frag deine Mutter, sie wird es dir erzählen“. Zumindest tendenziell „lernen Frauen anders“, in ihrer „Orientierung an Personen und ihren Konflikten, an Beziehungen zwischen historischen und gegenwärtigen Personen und Fragestellungen“, in einer an „Konkretion und Ganzheitlichkeit interessierten Methodik“ (Leewe, 2007, 346) – so lauten erste Zwischenbilanzen der Genderforschung.
3.10. „Gefährliche Erinnerung“
Bei all den genannten literarisch-religionsdidaktischen Prinzipien geht es nicht um Nebensächliches. Geschichtsdeutung und Geschichtsforschung dienen der Gestaltung der Zukunft. Im Sinne von Johann Baptist Metz kann die Besinnung auf Geschichte dabei zur „gefährlichen Erinnerung“ (Metz, 1977, 112) werden, wenn der Blick zurück zur kritisch-herausfordernden Kontrastfolie der Gegenwart wird. Silvio Blatters „Freiamts-Trilogie“ dient so nicht nur der Besinnung auf die Erzählgegenwart der 1970er und 1980er Jahre, sondern allgemein der – einer Figur aus einem jüngeren Roman in den Mund gelegten – Frage, „wie einem der Glaube abhanden gekommen war“ (Blatter, 2004, 38). Und der Möglichkeit, ob nicht das „zunehmende Heimweh“ letztlich doch noch ungeahnte Potenziale entfalten kann.
4. Ausblick: Literarisch erschließbare Themenfelder
Kirchengeschichtliches Lernen durch belletristische Literatur – das ist gewiss kein Patentrezept. Aber es ist eine zu selten genutzte Variante in Ausbildung und Unterricht. Es ist gewiss nicht
der Hauptweg (kirchen-)historischer Forschung und (kirchen-)geschichtlichen Unterrichtens (→ Kirchengeschichtsdidaktik
Beispiele und Anwendungsbereiche dazu finden sich jedenfalls in Fülle. Nur wenige (vgl. Langenhorst, 2014) seien genannt:
- Zur Veranschaulichung der inneren Dramatik der Missionierung Lateinamerikas legt sich eine Passage aus Reinhold Schneiders Erzählung „Las Casas vor Karl V“ (1938) nahe.
- Leben, Wirkung und Prägekraft des heiligen Franziskus lassen sich über Bodo Kirchhoffs Roman „Die Liebe in großen Zügen“ (2012) erschließen.
-
Eine Annäherung an Johanna von Orléans als Repräsentantin der Heiligenverehrung (→ Heilige
) wird herausfordernd möglich über den postmodernen Roman „Johanna“ (2006) der Georg-Büchner-Preisträgerin von 2012, Felicitas Hoppe. - Ein Blick auf Thomas Morus und die Märtyrerproblematik erschießt sich mit Hilfe von T. S. Eliots Drama „Mord im Dom“ (1935).
-
Vielfältig sind die Möglichkeiten einer Annäherung an die Ereignisse der → Reformation
: Sei dies über das Drama „Luther“ von John Osborne (1961), über Waltraudt Lewins „Feuer. Der Luther-Roman“ (2014) oder über den Wiedertäuferroman „Kristus“ des Österreichers Robert Schneider (2004). - Ein Blick auf die Veränderungen im alltagspraktischen Leben von Katholiken im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils wird in den Romanen von Ralf Rothmann – 2014 mit dem „Kulturpreis der Deutschen Katholiken“ ausgezeichnet – möglich, vor allem in „Junges Licht“ (2004).
- Die Entwicklung des Katholizismus im Rheinland in den letzten 100 Jahren lässt sich an den autobiographischen Romanen von Ulla Hahn – von „Das verborgene Wort“ (2001) bis „Spiel der Zeit“ (2014) – nachzeichnen.
- Die Veränderungen des Priesterbildes in den letzten 50 Jahren werden deutlich in dem Roman „Gottesdiener“ (2004) von Petra Morsbach oder in „Der Seiltänzer“ (2011) von Michael Göring.
- Entsprechende Veränderungen im Leben evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer werden erzählt in Dieter Wellershoffs Roman „Der Himmel ist kein Ort“ (2009), oder Ulrike Draesners „Vorliebe“ (2010).
- Das Leben von Juden der jetzigen Generation im deutschsprachigen Raum wird erzählt etwa in Benjamin Steins Roman „Die Leinwand“ (2010), oder Lena Goreliks Roman „Hochzeit in Jerusalem“ (2007).
- Als Beispiel der ganz neu aufblühenden muslimisch-deutschen Literatur (vgl. Gellner/Langenhorst, 2013) legt sich Navid Kermanis 1.000-Seiten-Werk „Dein Name“ (2011) nahe.
Und damit sind nur einige Bereiche möglichen literarisch-kirchengeschichtlichen Lernens benannt. Aus Geschichte lernen, aus Geschichten lernen? Die interdisziplinäre Forschung im Brennspiegel von Kirchengeschichte, Literaturwissenschaft und Religionsdidaktik hat fraglos noch zahlreiche reizvolle Felder vor sich. Das Ausarbeiten konkreter Lernprozesse müsste sicherlich noch einmal neu die Problematik von Literaturdidaktik im Zeitalter wachsenden Widerstands gegen das Lesen und wachsender Unfähigkeit zum Lesen literarischer Texte bedenken. Zudem bedarf das Verhältnis von Fiktion und Faktenorientierung der systematisierenden Klärung. Des Weiteren ginge es darum, die Matrix der oben dargestellten zehn didaktischen Grundprinzipien realistisch und produktiv mit den Bildungsbedürfnissen heutiger Lernender zu korrelieren (→ Korrelation
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