Worte, die ins Herz dringen
Luthers Sprache ist nichts für eilige Leser. Es sind Worte, die Zeit brauchen, damit sie sich entfalten können. Sie wenden sich nicht primär an den Verstand, sondern dringen Wort für Wort ins Herz.
Worte, die haften bleiben und ins Herz dringen
Versucht man, über die Strategien des verständlichen Übersetzens („dem Volk aufs Maul sehen“) hinaus das Besondere, Einmalige der Lutherbibel zu fassen, so wird man eine Eigenart von Luthers Bibelsprache nennen müssen, die uns heute fremd geworden ist und vielleicht gerade deshalb besonders auffällt.
Unter dem Einfluss lateinischer Stilistik ist die deutsche Sprache seit dem 17. Jahrhundert zu einem rationalen Instrument geworden, in dem logische Klarheit den Vorrang erhält gegenüber sinnlicher Unmittelbarkeit. Das kommt zum Ausdruck in den berüchtigten „Schachtelsätzen“: Der Relativsatz muss beispielsweise direkt an das Beziehungswort angeschlossen werden – koste es, was es wolle („In Göttingen wurde der Kutscher von uns gedrängt, die Pferde, die seit dem frühen Morgen eingespannt waren und seither noch keine Pause gehabt hatten, zu wechseln“). Aber es schlägt sich auch schon in ganz einfachen Wortumstellungen nieder. Luther übersetzt Lukas 9,62: „Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück …“. Wer hier nach der gegenwärtigen Regelgrammatik „zurücksieht“ sagt, der hat an die Stelle eines bildhaften Vorgangs einen Begriff gesetzt. Höre ich „sieht zurück“, so sehe ich unmittelbar ein Bild; höre ich „zurücksieht“, so bilde ich den abstrakten Begriff „zurücksehen“ und habe das Bild verstanden, bevor ich es (wenn überhaupt noch) sehe.
Als Beispiel für einen Schachtelsatz „en miniature“ sei ein zentraler Satz des Evangeliums, der Beginn der Aussendungsrede des Auferstandenen in Matthäus 28,18, angeführt. Bei einer früheren Revision der Lutherbibel wollte man ihm zeitweise die Form geben: „Mir ist alle Macht im Himmel und auf der Erde gegeben.“ Das entspricht der grammatischen Regel, nach der in einem Satz mit zusammengesetztem Prädikat „ist gegeben“ das Hauptverb, getrennt vom Hilfsverb, am Ende des Satzes zu stehen hat – über eine je nachdem lange Kette von Zwischengliedern hinweg.
So etwa in dem willkürlich gewählten Beispiel: „Ich habe gestern um fünf Uhr meinen Freund N. mit seiner ganzen Familie am Bahnhof abgeholt.“ Ein solcher Satzbau hat zur Folge, dass die Mitteilung erst mit dem letzten Wort vollständig und eindeutig wird (das letzte Wort könnte in dem gegebenen Beispiel auch lauten: „getroffen“, „verabschiedet“). Bis das letzte Wort fällt, muss ich die ganze Reihe der Teilinformationen in meinem Bewusstsein speichern und zugleich für eine definitive Bestimmung offenhalten. Ich kann mit diesen Teilinformationen nichts „anfangen“, darf z. B. keine Folgerung daraus ziehen (sie könnte ja falsch sein) oder gefühlsmäßig darauf reagieren (die angenommene Situation könnte ja völlig irreal sein). Bei dem ganzen Vorgang ist lediglich mein Verstand beteiligt, der darauf wartet, dass ihm der fehlende Baustein dargereicht wird, der die Information vervollständigt.
Genau dasselbe ist der Fall bei einem Satz wie dem angeführten: „Mir ist alle Macht im Himmel und auf der Erde gegeben.“ Bevor das letzte Wort „gegeben“ gefallen ist, hat der ganze Satz keinen bestimmten Sinn. Wenn Luther dagegen schreibt: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“, so macht er eine Aussage, in der sich Baustein für Baustein zwanglos zusammenfügt, jede Unteraussage ist in sich sinnvoll und lediglich offen für hinzutretende Ergänzungen: Mir ist gegeben – die Frage „wem?“ muss nicht gestellt werden, weil davor steht: „Jesus sprach“, wohl aber die Frage „was?“, Antwort: „alle Gewalt“, und „wo?“, Antwort: „im Himmel und auf Erden“. Das reiht sich auf wie eine Perlenschnur und jede Perle behält ihren eigenen Wert.
Eine in dieser Weise geprägte Sprache ist nichts für eilige Leser, die schnell wissen wollen, was dasteht. Es sind Worte, die Zeit brauchen, damit sie sich entfalten können, in unmittelbarer „sinnlicher“ Gegenwart. Sie wenden sich nicht primär an den Verstand, sondern dringen Wort für Wort in eine tiefere Schicht: in das „Herz“ oder „Gewissen“. Luthers Übersetzung stellt nicht Informationen bereit, sondern bringt das Wort zur Sprache, das im Menschenherzen wirkt und schafft, wie es für Paulus und Luther das Wesen des Evangeliums, der verwandelnden und neu machenden Gnadenbotschaft ist. Mit der bildhaften Unmittelbarkeit von Luthers Bibelsprache hängt im Übrigen eine wohlbekannte Eigenschaft seiner Verdeutschung der Bibel zusammen: Ihr Wortlaut prägt sich sehr leicht dem Gedächtnis ein.
Ein noch so schwer verständlicher Luthersatz lässt sich leichter „behalten“ als die moderne Entsprechung, die auf Anhieb verständlich ist. Denn wie das „Herz“, so ist auch das Gedächtnis eine Sache des Unbewussten; es bevorzugt die bildhaft konkrete Einzelheit und verknüpft seine Inhalte nicht nach Begriffshierarchien, sondern additiv und assoziativ. Die leichte „Memorierbarkeit“ der Lutherbibel hat an ihrer Wirkung zweifellos einen bedeutenden Anteil. So erweist sich Luthers deutsche Bibel in vielerlei Hinsicht als ein Glücksfall. Noch immer belohnt sie in unvergleichlicher Weise jeden, der sich die Mühe macht, sich in sie einzulesen.