Deutsche Bibelgesellschaft

Sacharja 8,20-23 | 10. Sonntag nach Trinitatis – Israelsonntag: Kirche und Israel | 04.08.2024

Einführung in das Sacharjabuch

Das Sacharjabuch gehört zu den späten Prophetenbüchern des Alten Testaments. Es ist – zumindest in Sach 1–8 – eng auf das Haggaibuch bezogen und beide Bücher sind die jüngsten Prophetenbücher, die auf identifizierbare Prophetengestalten zurückgeführt werden können und nicht – wie z.B. Maleachi – rein literarische Bildungen sind. Die beiden Propheten Haggai und Sacharja werden gemeinsam in Esr 5,1 bzw. 6,14 erwähnt. An beiden Stellen geht es um den Bau des zweiten Tempels. Der Tempel und mit der Präsenz Gottes im Jerusalemer Heilig­tum verbundene Heilshoffnungen sind dann auch ein zentrales Thema des Sacharjabuches. Die Texte des Sacharjabuches sind nicht einfach zu verstehen. Das liegt zum einen daran, dass hier prophetische Visionen geschildert werden, deren bizarre Bildwelten befremdlich wirken und sich heutigen Leser*innen – und vielleicht auch damaligen – nicht einfach entschlüsseln. Innerhalb des Buches wird dies dadurch gespiegelt, dass schon der Prophet selbst einen Deuteengel benötigt, der ihm die Bilder erklärt. Zum anderen stecken die Prophetenworte, v.a. in Sach 9–14, voller Anspielungen an politische Gegebenheiten, konkrete Ereignisse und gesellschaftliche Zustände, die mit gut 2500 Jahren Abstand zu weiten Teilen rätselhaft bleiben müssen.

1. Wie ist das Sacharjabuch strukturiert?

In seiner kanonischen Gestalt gehört das Sacharjabuch zum Zwölfprophetenbuch und umfasst 14 Kapitel. Seit dem 19. Jh. hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es zwischen Sach 1–8 und Sach 9–14 eine grundlegende Zäsur gibt. Dies zeigt sich schon an den Überschriften: Sach 1–8 ist in drei Abschnitte gegliedert, die in Sach 1,1; 1,7 und 7,1 mit „Es geschah das Wort JHWHs zu Sacharja …“ eingeleitet und mit exakten Daten aus den ersten Regierungsjahren des Perserkönigs Dareios I. (Regierungszeit 522–486 v. Chr.) versehen sind. In Sach 9,1 und 12,1 lauten die Überschriften „Ausspruch/Last des Wortes JHWHs“ und bleiben ohne Zeitangabe. Sach 9–11 sind weitgehend poetisch gestaltet, Sach 1–8 und 12–14 in Prosa gehalten. Zudem spiegeln die Abschnitte unterschiedliche Zeitverhältnisse (s.u.). Das Sacharjabuch erklärt sich am besten als eine Zusammenstellung von drei Bausteinen, die als Proto-Sacharja (Sach 1–8), Deutero-Sacharja (Sach 9–11) und Trito-Sacharja (Sach 12–14) bezeichnet werden.

Im Zentrum von Proto-Sacharja steht ein großer Visionenzyklus, die „Nachtgesichte Sacharjas“, die der Prophet nach der Überschrift in Sach 1,7 in einer Nacht, datiert auf den 15.02.519 v. Chr., gesehen hat. Die ursprünglich sieben Visionen sind so gestaltet, dass der Prophet ein Bild sieht, dann „den Engel, der mit ihm redet“ nach dessen Bedeutung fragt, und eine Erklärung erhält. Die Visionenkomposition hat eine konzentrische Struktur, in der sich eine dreifache Rahmung um die zentrale Vision des Leuchters und der Ölbäume in Sach 4 gruppiert.

I

II

III

IV

V

VI

VII

1,8–17

2,1–4

2,5–9

4,1–14

5,1–4

5,5–11

6,1–8

Himmlische Reiter

Hörner und Schmiede

Mann mit Maßband

Leuchter u. Ölbäume

Fliegende Schriftrolle

Frau im Getreidekrug

Wagen und Pferde

Auskund-schaftung der Welt

Entmachtung der Welt

Jerusalem als offene Stadt

JHWHs Präsenz

Reinigung des Landes

Entfernung des Götzendienstes

Aussendung in die ganze Welt

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Die Visionen entfalten ein „umfassendes Panorama des Heils“ (Lux, 41) für Jerusalem und die ganze Welt. Ihnen vorangestellt ist in Sach 1,1–6 eine Prophetenrede mit einem Ruf zur Umkehr. Proto-Sacharja endet mit einer weiteren Prophetenrede, der sog. „Fastenrede“, in der der Prophet auf die Anfrage reagiert, ob die Trauergottesdienste und das -fasten zur Erinnerung an die Zerstörung des ersten Tempels beibehalten werden sollen.

Sach 9–11 und 12–14 entwerfen in unterschiedlicher Weise – und nicht immer ganz stimmig zueinander – Heilsbilder für Israel/Juda: JHWH wird sich Jerusalems annehmen, die Exilierten werden heimgeführt, die Völker entmachtet, Jerusalem mittels des göttlichen Gerichts geläutert, die Einzigkeit und Königsherrschaft JHWHs universal anerkannt.

2. Wie ist das Sacharjabuch entstanden?

Auch wenn die Überschriften mit ihren Datierungen nachträglich hinzugefügt wurden, um die Bücher Haggai und Sacharja miteinander zu verknüpfen, ist der Zeithorizont des späten 6. Jh.s v. Chr. für die Entstehung des Visionenzyklus im Proto-Sacharjabuch plausibel. Angesichts der schleppend anlaufenden Rückkehr der Exilierten, der z.T. konfliktträchtigen Neustrukturierung des Gemeinwesens und der mühsamen Wiederherstellung Jerusalems entwirft der Prophet ein Hoffnungsbild, das mit dem Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels und der damit neu ermöglichten Präsenz JHWHs in Jerusalem eine Heilswende verbindet. Wo der Prophet Haggai mit Argumenten überzeugen möchte, versucht Sacharja über Bilder zu motivieren.

Die literarischen Bezüge in Überschriften und Inhalten, v.a. in der Fastenrede Sach 7f., zeigen, dass die Bücher Haggai und Proto-Sacharja schon früh aufeinander bezogen und miteinander verknüpft worden sind. Darüber hinaus hat Proto-Sacharja auch eine eigene literargeschichtliche Dynamik entfaltet und wurde ergänzt und aktualisiert. So kamen etwa die Vision in Sach 3,1–7 und die Zeichenhandlung in Sach 6,9–15 hinzu, in denen es um die theologische Legitimation der judäischen Führungseliten (Joschua und Serubbabel) geht. Deutero- und Trito-Sacharja spiegeln dagegen einen anderen Zeithorizont. Hier stehen bereits die historischen Verhältnisse ab dem späten 4. Jh. v. Chr. (Alexanderzug, Diadochenherrschaft) im Hintergrund und werden reflektiert. Ob diese Texte überhaupt auf spezifische Propheten­gestalten zurückgehen oder nicht vielmehr die Arbeit schriftgelehrter Tradenten darstellen, ist Gegenstand der aktuellen exegetischen Diskussion.

3. Wichtige Themen

Ein zentrales Thema des Sacharjabuches ist die heilsame Gegenwart JHWHs. Unter Rückgriff auf altorientalische Tempeltheologie, die mit der Präsenz der Gottheit im Heiligtum u.a. die Gewährleistung von Fruchtbarkeit des Landes, politischer Stabilität und Schutz vor Feinden verband, ist die Präsenz JHWHs Garant für das Wohlergehens Jerusalems und für den Frieden zwischen den Völkern.

Dabei geht es Sacharja nicht um einen Heilsautomatismus. Insbesondere in der Fastenrede verknüpft er die JHWH-Verehrung mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Hier gibt es Traditionslinien zur klassischen Prophetie des 8. Jh.s (Amos, Micha, Jesaja). Auch wenn die Zuwendung zu seinem Volk in JHWHs souveränem Ratschluss gründet, ist dies kein Persilschein, sondern Israels angemessene Reaktion ist Zuversicht, gegenseitige Fürsorge und das Halten der Gebote (Sach 8).

Das Sacharjabuch argumentiert im Spannungsfeld der universalen Geschichtsmächtigkeit JHWHs über die gesamte Welt und seinem besonderen Verhältnis zu Israel. Letzteres wird festgehalten und Israel gewinnt damit eine besondere Rolle innerhalb der Völkerwelt. Sein Geschick hat Konsequenzen, sein Heil bietet eine Hoffnungsperspektive für alle Welt. Obwohl die zeitgenössischen Sacharjatexte die Ablösung der persischen Herrschaft durch Alexander d. Großen begrüßen, entwerfen sie doch ein Herrscherideal, das sich von jeder Großmachtpropaganda absetzt. Insbesondere Sach 9 zeichnet das Bild eines demütigen Heilskönigs und eines Verzichts auf Waffengewalt als Signum einer nachhaltig friedvollen Herrschaft.

Literatur:

  • Delkurt, H., 2006, Art. Sacharja/Sacharjabuch, WiBiLex, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/25774/
  • Lux, R., 2019, Sacharja 1–8 (HThKAT), Freiburg et al.
  • Schmid, K., 62019, Die Literatur des Alten Testaments. II. Hintere Propheten, in: J. Chr. Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament, Göttingen, 407–410
  • Willi-Plein, I., 2007, Haggai, Sacharja, Maleachi (ZBK), Zürich

A) Exegese kompakt: Sacharja 8,20–23

Israel als Influencer

20כֹּ֥ה אָמַ֖ר יְהוָ֣ה צְבָא֑וֹת עֹ֚ד אֲשֶׁ֣ר יָבֹ֣אוּ עַמִּ֔ים וְיֹשְׁבֵ֖י עָרִ֥ים רַבּֽוֹת׃ 21וְֽהָלְכ֡וּ יֹשְׁבֵי֩ אַחַ֨ת אֶל־אַחַ֜ת לֵאמֹ֗ר נֵלְכָ֤ה הָלוֹךְ֙ לְחַלּוֹת֙ אֶת־פְּנֵ֣י יְהוָ֔ה וּלְבַקֵּ֖שׁ אֶת־יְהוָ֣ה צְבָא֑וֹת אֵלְכָ֖ה גַּם־אָֽנִי׃ 22וּבָ֨אוּ עַמִּ֤ים רַבִּים֙ וְגוֹיִ֣ם עֲצוּמִ֔ים לְבַקֵּ֛שׁ אֶת־יְהוָ֥ה צְבָא֖וֹת בִּירוּשָׁלִָ֑ם וּלְחַלּ֖וֹת אֶת־פְּנֵ֥י יְהוָֽה׃ ס

23כֹּ֥ה אָמַר֮ יְהוָ֣ה צְבָאוֹת֒ בַּיָּמִ֣ים הָהֵ֔מָּה אֲשֶׁ֤ר יַחֲזִ֨יקוּ֙ עֲשָׂרָ֣ה אֲנָשִׁ֔ים מִכֹּ֖ל לְשֹׁנ֣וֹת הַגּוֹיִ֑ם וְֽהֶחֱזִ֡יקוּ בִּכְנַף֩ אִ֨ישׁ יְהוּדִ֜י לֵאמֹ֗ר נֵֽלְכָה֙ עִמָּכֶ֔ם כִּ֥י שָׁמַ֖עְנוּ אֱלֹהִ֥ים עִמָּכֶֽם׃ ס

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Übersetzung

20 So hat JHWH Zebaoth gesprochen:

„Es wird noch so kommen, dass viele Völker kommen und Bewohner vieler Städte.

21 Und die Bewohner einer [Stadt] werden zur anderen gehen und sagen:

‚Wir wollen gehen, ja gehen, um das Angesicht JHWHs milde zu stimmen und JHWH Zebaoth zu suchen! Auch ich will gehen!‘

22 Und viele Völker werden kommen und starke Nationen, um JHWH Zebaoth in Jerusalem zu suchen und das Angesicht JHWHs milde zu stimmen.“

23 So hat JHWH Zebaoth gesprochen:

„In jenen Tagen wird es sein, dass ergreifen werden zehn Männer/Menschen aus allen Sprachen der Nationen, und ergreifen werden sie den Gewandzipfel eines judäischen Mannes/Menschen und sagen:

‚Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.‘“

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V.20: „Es wird noch so kommen, dass“. Der Anfang des Satzes ist mit עוד אשר ‛od ’ašer, wörtlich: „noch, dass“ sehr knapp und elliptisch formuliert. Das Phänomen wiederholt sich in V.23 בימים ההם אשר bejamīm hahem ’ašer „in jenen Tagen, dass“.

V.20ff.: JHWH trägt hier fast durchgängig das Epitheton „Zebaoth“, das etymologisch mit צבא ṣaba’ (Heer, Heerscharen) verwandt ist und auf den himmlischen Hofstaat, aber auch die militärische Stärke anspielt, die den Göttern nach altorientalischem Verständnis zukam. Die Vision gründet in der Überzeugung der Wirkungsmacht JHWHs über die ganze Welt und alle Völker.

V.21.22: „das Angesicht JHWHs milde stimmen“. Die hebräische Wurzel חלה ḥlh hat die Grundbedeutung „süß sein/machen“. JHWHs Zuwendung oder auch Zorn werden häufig mit entsprechenden Gesichtsausdrücken bezeichnet. Entsprechend bedeutet das hebräische אף ’af sowohl „Nase“ als auch „Zorn“.

V.23: „judäisch“, hebr. יהודי jehudi ist ein Gentilizium und bezeichnet Angehörige des Stammes Juda oder aber Personen, die aus der Region Juda bzw. der persischen Provinz Jehud stammen bzw. judäisch sprechen (Neh 13,24). Es ist nicht einfach gleichzusetzen mit einer primär religiös konnotierten Bezeichnung, wie es eine Übersetzung mit „jüdisch“ (fälschlicherweise) nahelegen könnte.

2. Literarische Gestaltung

Sach 8,20–23 setzt sich aus zwei Gottesworten zusammen (V.20–22 und V.23), die beide parallel mit der Botenformel eingeleitet sind. Sie sind zudem analog gestaltet: In die JHWH-Rede ist jeweils eine Rede von Angehörigen der Völker eingebettet. Beide Gottesreden sind trotzdem keine Dubletten, sondern eröffnen unterschiedliche Perspektiven auf dasselbe Geschehen; es geht um die zwei Seiten einer Medaille.

Der inhaltliche Fokus liegt auf einem Kommunikationsgeschehen, das JHWH für eine Zukunft ankündigt, über deren genauere Eingrenzung freilich weder das „noch“ (V.20) noch das „in jenen Tagen“ (V.23) Auskunft gibt. Jenes Geschehen ist eingebettet in das Bild der Völkerwallfahrt zum Zion , das auch aus anderen Texten, v.a. Jes 2,2–5 und Mi 4,1–5 (vgl. Jes 56,6–8; Jes 60,1–9 u.a.m.), bekannt ist. Danach kommen die Völker nach Jerusalem und zum Zion, nicht um es zu erobern, wie es in der Geschichte der Stadt immer wieder geschehen war, sondern um JHWH zu suchen, seine Weisung zu lernen, ihn zu verehren, die Israeliten aus der Diaspora zurückzubringen etc. In den unterschiedlichen Ausprägungen geht es stets um eine Hinwendung von Nicht-Israeliten zu JHWH, dem Gott Israels.

Sach 8 nennt als Motivation der Völker, dass sie JHWH milde stimmen und ihn befragen wollen. Beide Aspekte erscheinen sowohl in V.21 in der zitierten Rede der Angehörigen der Völker wie auch in der Rede JHWHs in V.22, die die Umsetzung des Gesagten ankündigt. Sie sind in umgekehrter Reihenfolge (chiastischer Verschränkung) aufgenommen, was häufig zur Markierung von Zitaten bzw. der Wiederaufnahme eines Gedankens dient.

Worum es hier genauer geht, erschließt sich nur aus dem Vorkontext: Sach 8,20–23 schließen die sog. Fastenrede in Sach 7–8 ab. In Sach 7,1 wird eine Delegation zu JHWH gesandt, um zu erfragen, ob JHWH durch ein bestimmtes Fasten milde gestimmt (חלה ḥlh) werden kann. Die Antwort ist diese: Nicht das Fasten, sondern die Fürsorge für die sozial Schwachen und Benachteiligten ist entscheidend. Daran ist Israel gescheitert. Erst JHWHs eigene Initiative einer erneuten Zuwendung (8,2f.) bringt die Heilswende für Jerusalem und den Zion, inkl. einem gelingendem Leben in Jerusalem, das Sach 8,4–19 in schönen Bildern ausmalt. Juda und Israel, die zuvor in ihrer Exilierung den Völkern illustrierten, was die Folgen von JHWHs Fluch sind, werden nun zum Sinnbild des göttlichen Segens (8,13). Eben dies veranlasst den ‚Rest der Welt‘, nun ebenfalls JHWH suchen und seinerseits milde stimmen zu wollen. Die Suche verweist sie auf Israel bzw. die Judäer als Bild des göttlichen Segens und nun auch als Führer zu Gott. All dies wird hier aber nicht noch einmal erklärt, sondern im Vordergrund steht, wie das Vorhaben von Mund zu Mund geht und die Kunde sich ausbreitet. Die Bewohner der einen Stadt laufen zu anderen, um es dort zu erzählen. Sie rufen einander und jede/r sich selbst zum Aufbruch. Die Dynamik ist so durchschlagend, dass sich die Menschen in Scharen aufmachen und die Zahl dieser JHWH-Sucher aus den Völkern die Zahl der Judäer um das Zehnfache übersteigt.

3. Literarischer Kontext und historische Einordnung

Sach 8,20–23 bildet den Abschluss von Proto-Sacharja. Mit Sach 9 beginnt eine neue literarische Komposition, die anders gestaltet ist und auch in einen anderen historischen Horizont gehört. Inhaltlich kommt hier ein Themenkomplex zum Abschluss, der Sach 1–8 insgesamt prägt und auch im Visionenzyklus in Sach 2–6 immer wieder in unterschiedlichen Facetten durchgespielt wird: das Gottesverhältnis Israels und das Verhältnis von Israel und den Völkern. Sach 8,20–23 bündelt die Linien und führt sie zu einem Höhepunkt, der sowohl die besondere Beziehung JHWHs zu Israel wie auch seine universale Bedeutsamkeit für alle Völker festhält.

Historisch gehört Sach 8,20–23 mit dem Proto-Sacharjabuch in die fortgeschrittene Perserzeit (5./4. Jh. v. Chr.), wobei nicht zuletzt der Horizont dieses aus damaliger Perspektive nahezu die gesamte Welt umspannenden Großreiches prägend wirkt. Im engeren Umfeld Judas spielt zudem das Phänomen von nicht-israelitischen JHWH-Verehrern eine Rolle, das in vielfältigen perserzeitlichen Texten reflektiert wird (Rahab in Jos 2, Na’aman in 2Kön 5, Rut u.a.). Die Erfahrung, dass die JHWH-Verehrung auch auf Nicht-Israeliten eine Anziehungskraft haben konnte, mag weitgespannten Hoffnungen wie jener in Sach 8,20–23 einen zusätzlichen Anhalt in der Lebenswelt gegeben haben. Der Text weist eine große Nähe zu Jes 2,2–5 und Mi 4,1–5 auf und baut mit diesen ebenfalls perserzeitlichen Texten literarische Brücken zur Verknüpfung der verschiedenen Prophetenbücher.

4. Schwerpunkte der Interpretation und theologische Perspektivierung

Modern gesprochen, könnte man sagen: Hier geht etwas viral. Eine Nachricht, ein Bild vom segensreichen Leben des JHWH-Volkes Israel in Jerusalem breitet sich aus, geht von Mund zu Mund, weckt Hoffnungen, setzt Menschen in Bewegung und führt sie in Richtung Jerusalem. Der Weg führt über Israel bzw. die judäischen Menschen, die nun gesucht und gefragt sind, da sie in einer besonderen Nähe zu Gott wahrgenommen werden.

Was aber heißt es, am Rockzipfel Israels zu gehen? Der Text lässt offen, was jene JHWH-Sucher erleben. Sach 8,20–23 kommt es v.a. auf die spezifische Rolle Israels, sein besonderes Gottesverhältnis an. Dieses gründet aber, das betonen die alttestamentlichen Texte immer wieder (vgl. Dtn 7,6–8 u.ö.), nicht in einer herausragenden Macht oder Größe Israels, sondern in der Erwählung und bleibenden Bindung JHWHs an sein Volk.

Im Zusammenhang mit Sach 7f. gelesen entwickelt der Text aber dennoch eine feine Pointe. Israel hatte lernen müssen, dass sich JHWH nicht durch Fasten milde stimmen lässt und milde stimmen lassen will. Wenn die Völker sich aufmachen, um ihn nun ihrerseits durch eigenes Tun milde stimmen zu wollen, sitzen sie falschen Hoffnungen auf. Dass Hoffnungen in verzerrte Bahnen gelenkt werden können, ist ein Phänomen, das uns in der Rezeption von millionenfach geklickten InfluencerInnen und ihren Angeboten nicht fremd sein dürfte. Am Rockzipfel Israels gehen, heißt nämlich sich nicht von schönen Bildern blenden zu lassen, sondern vielmehr Israels Erfahrung teilen, dass die Rettung nicht selbst gemacht werden kann, sondern von JHWH nach eigenem Ratschluss kommt. Aber auch, dass man in zuversichtlicher Erwartung darauf hoffen kann, dass sie kommt.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Der Bibeltext und seine Exegese versetzen mich in eine fremde Welt. Ich gehe in eine Zeit, an einen Ort und in eine Gesamtkonstellation, die ich mir erst erschließen muss. Zunächst einmal geht es um das Volk Israel, um sein Verhältnis zu JHWH, um sein Selbstverständnis und um seine Verortung in der gesamten Welt. In alledem ist die Gegenwart JHWHs geradezu selbstverständlich gegeben. Zumindest wird sie im Text uneingeschränkt vorausgesetzt. Sie erfüllt alle Lebensbereiche und entfaltet eine umfassende segensvolle Wirkung. Dazu gehören Fruchtbarkeit und Wohlergehen genauso wie politische Stabilität und Schutz vor Feinden. Das gilt nicht nur für Jerusalem, sondern auch für die Völker, die sich außerhalb der Erwählung bewegen. Auch sie können und werden Anteil haben an JHWHs segensvoller Zuwendung. Der Weg dorthin führt über Israel, bildlich gesprochen über seinen Rockzipfel, den es zu ergreifen gilt. Umfassendes Wohlergehen zu erlangen, heißt sich an Israel zu orientierten, sich an seinen Gott zu hängen. Das vom Exil traumatisierte und durchgeschüttelte Land erhält eine neue, universale Bedeutung. Die Verhältnisse werden sich umkehren. Die Völker, die Israel so zugesetzt haben, werden entmachtet. Im Endeffekt wird JHWHs Herrschaft universal anerkannt. Und der Weg dorthin führt über Israel.

Das Heil, von dem hier die Rede ist, ergibt sich allerdings nicht automatisch. JHWHs Gegenwart ist nur im Kontext sozialer Gerechtigkeit sinnvoll zu denken. Sie verlangt nach einer angemessenen Reaktion. Angemessen sind Zuversicht, gegenseitige Fürsorge und das Halten der Gebote. Ist von Israel die Rede, dann in der Spannung aus unverbrüchlicher Erwählungszusage und der bleibenden Herausforderung, diesem Zuspruch zu genügen. Diejenigen, die daran teilhaben wollen (und werden), haben sich genau in diesem Spannungsfeld zu bewegen. Dazu gehört auch, die eigenen Vorstellungen und Sehnsüchte immer wieder neu auszurichten. Sacharja zeichnet eben nicht das erwartbare Bild des machtvollen Herrschers, sondern irritiert mit der Vision eines demütigen Heilskönigs. Israel zu folgen, heißt damit auch, sich auf Neuausrichtungen einzulassen und bereit zu sein, sich erwartungswidrig überraschen zu lassen. Letztlich geht es um eine heilsame Irritation, nicht nur für Israel selbst, sondern auch für die Völker.

Hilfreich dafür ist das Bild des Auf-dem-Weg-Seins. Im Blick ist ein dynamisches Geschehen. Was Menschen genau dazu motiviert, sich auf einen solchen Weg zu machen, bleibt im Verborgenen. Aber es hängt mit JHWH und seiner segensvollen Wirkung zusammen. Ihn gilt es zu suchen. Und: Ihn gilt es milde zu stimmen. Während Ersteres gut zu dem passt, was wir als unerlässliche Aufgabe in der Vielfalt der Optionsgesellschaft markieren können, irritiert mich Letzteres. Wenn ich mir allerdings die universelle Dimension vor Augen führe, die hier angesprochen wird, kann ich das besser nachvollziehen: JHWH, der die Geschicke der Welt lenkt, ist unverfügbar. Ein milde gestimmter Gott ist die Voraussetzung dafür, um von seiner Weisung lernen zu können. Zugleich aber lässt sich das menschlich nicht einfach herstellen. JHWH selbst ist es, der die Initiative ergreift und die Heilswende bringt. Auf diese Weise wird Jerusalem zum Ort gelingenden Lebens. Hier lässt sich sehen und erleben, was Gottes Segen bedeutet. Das spricht sich herum. Das lässt Menschen aufbrechen. Sie machen das von sich aus und ermutigen sich gegenseitig. Die Dynamik ist atemberaubend: Zehnmal mehr Suchende aus den Völkern als Einheimische aus Judäa. Das ist beeindruckend und zugleich auch ein wenig beängstigend. Kann das gut gehen? Aber das ist hier nicht das Thema. Hier geht es um etwas anderes: Gottes heilsame Gegenwart und sein segensvolles Wirken sind so offensichtlich, dass nicht nur Israel sie erleben und sich daran freuen können, sondern auch die Völker daran Anteil haben wollen. Mehr geht kaum im Blick nach vorn.

2. Thematische Fokussierung

Sacharja hat eine konkrete Situation im Blick mit spezifischen Herausforderungen, die mit den Stichworten Exil, schleppende Rückkehr der Exilierten sowie mühsame Wiederherstellung Jerusalems skizziert werden können. Eingebettet sind sie in eigenen Plausibilitäten, die sich deutlich von den unsrigen unterscheiden. Nicht, ob man an Gott glaubt, ist beispielsweise die Frage, sondern in welcher Weise man das tut. Dabei werden grundlegende Weichenstellungen vorausgesetzt. JHWH ist nicht nur der Gott Israels, sondern letztlich auch derjenige aller Völker. Nur er kann Heil geben und erfahrbar werden lassen. Das mag in der Erzählsituation des Textes nicht für alle gleichermaßen deutlich vor Augen stehen, wird sich aber in der Zukunft ganz deutlich zeigen. Das ist dann so offensichtlich, dass auch die Völker daran Anteil haben wollen, so dass sie sich an den Rockzipfel der judäischen Menschen hängen. Das ist ein starkes Hoffnungsbild. Es richtet den Blick nach vorn, weil es an Sehnsüchte anknüpft. Sie werden allerdings nicht „nur“ erfüllt, sondern neu ausrichtet. So etwas brauchen wir. Bilder können deutlich mehr erreichen als Fakten oder Argumentationsketten, weil sie die emotionale Dimension unseres Lebens einbeziehen und ansprechen. Die Exegese bietet mir hier wichtige Impulse für die Gestaltung der Predigt.

Zugleich erinnert sie an die Unverfügbarkeit JHWHs. Seine Verheißungen lassen sich nicht domestizieren, indem sie an verinnerlichte Ideale gekettet und darin eingesperrt werden. Sie reichen vielmehr darüber hinaus. Der verheißene Heilskönig setzt sich zwar durch, macht es aber anders als erwartet. Anstatt mit Waffen seine Herrschaft zu realisieren, verzichtet er ausdrücklich darauf und erweist sich gerade so als mächtig und universal bestimmend. „Es wird noch so kommen“ (Sach 8,20), d.h., es wird noch viel besser und eindrücklicher werden, als es gegenwärtig zu erwarten steht. Das sichtbare Zeichen dafür kommt von außen. Von denjenigen, die nicht per se zum auserwählten Volk gehören. Sie lassen sich bewegen. Damit wird auch die Thematik von Erwählung und Nichterwählung neu interpretiert. Die Völker stehen nicht mehr gegen oder neben den Erwählten. Sie finden einen Weg zu Gott, weil Gott sich auch ihnen unverstellt zeigt. Noch so eine Irritation.

3. Theologische Aktualisierung

Eine, wenn nicht gar die zentrale Frage aus christlicher Perspektive ist diejenige, nach der eigenen Verortung. Wo stehen wir? Aus der Perspektive des Textes scheint die Sache klar. Als Christinnen und Christen gehören wir zu den Völkern und sind hineingenommen in die Suchbewegung am Rockzipfel der judäischen Menschen. Das ist eine wichtige Erinnerung. Zugleich hat der Jude Jesus von Nazareth in diesem Traditionsstrom eigene Akzente gesetzt, die sich im Laufe der Zeit als eigener Weg zur heilvollen Gegenwart Gottes verdichteten. Im Glauben an Jesus als den Christus, also den verheißenen Messias, sehen sich die an ihn Glaubenden im Fluchtpunkt des Heilsgeschehens und verstehen sich selbst als diejenigen, an deren Rockzipfeln andere daran Anteil haben können. Wie lässt sich das miteinander in Verbindung bringen, ohne einerseits übergriffig zu werden und andererseits eigene Geltungshorizonte zu verlassen? Sacharja erinnert uns an die bleibende Erwählung Israels durch JHWH, die universal eröffnend zu denken ist. So gesehen hängen christliche Menschen am Rockzipfel jüdischer. Gerade auch im Blick auf Ab- und Irrwege im Laufe der Christentumsgeschichte ist das ein ganz wichtiger Aspekt. Zugleich ergeben sich in der Auseinandersetzung mit Jesus von Nazareth eigene Akzente im Weg zu Gottes Heil. In Auseinandersetzung mit Sacharja werden Fragen umrissen, denen sich alle zu stellen haben, die sich auf dem Weg zu Gott sehen und von anderen daraufhin „abgeklopft“ werden.

„Wir wollen gehen ..., um JHWH zu suchen“ (Sach 8,21), heißt es aus den Völkern. Wie lässt sich dieses Suchen unterstützen? Indem sich die Völker denjenigen anschließen können, die bereits in dieser Richtung unterwegs sind. Dass das auch Auswirkungen auf deren Suchen haben wird, wird nicht ausdrücklich thematisiert. Einerseits bestätigt es das Suchen. Andererseits bleibt es nicht folgenlos, wenn 10 Suchende aus anderen Völkern am eigenen Rockzipfel hängen. Interessanterweise wird das nicht thematisiert. Es wird auch nicht gefragt, ob die angesprochenen Judäer „Mittler“ sein wollen, wie es ihnen damit geht, ob sie sich dadurch bedrängt fühlen.

„Wir haben gehört, dass Gott mit euch ist“ (Sach 8,23). Dieser Satz ist von Erfahrungen des Segens und der Gerechtigkeit geprägt, von denen vor dem ausgewählten Textausschnitt die Rede ist. Wo liegen die Orte solcher segensreichen Erfahrungen? Hier werden nicht nur Richtigkeiten postuliert. Vielmehr ereignet sich das, von dem die Rede ist. Wo liegen diese Orte, an denen es für alle Suchenden etwas zu holen gibt? Sie scheinen eine Dynamik freizusetzen, die nicht bei sich selbst bleibt.

Sach 8,20–23 ist als Predigttext für den Israelsonntag vorgesehen, an dem in besonderer Weise das heutige Miteinander von Juden und Christen bedacht wird. Lebensweltlich unweigerlich aufgerufen werden Fragen nach der Einschätzung politischer Aktivitäten im heutigen Staat Israel. Hier ist sehr präzise zu unterscheiden zwischen dem Volk Israel und dem Staat Israel. Das theologisch bestimmte Bild von den Völkern am Rockzipfel judäischer Menschen heißt nicht, allen Entscheidungen des Staates Israel folgen zu müssen. Entscheidend ist es, die eröffnende Perspektive stark machen. Es handelt sich um einen Hoffnungstext. Gottes heilvolles Handeln geht nicht im Gegenwärtigen auf. Es gibt mehr über die Welt zu sagen, als das, was unmittelbar vor Augen steht.

4. Anregungen

Sacharja zeichnet ein Hoffnungsbild. Seine Kraft ergibt sich aus der unglaublichen Gewissheit („So wird es kommen“) und der knappen Skizze des Verheißenen („Wir wollen JHWH suchen“). Menschen, die bisher nicht zum Kreis der Erwählten gehört haben, machen sich auf den Weg, fragen an, wenden sich an Glaubende und sagen: „Wir wollen mit euch gehen“. Die Begründung ist so einfach wie überzeugend zugleich: „Wir haben gehört, dass Gott mit euch ist“. Was für eine Gesprächseröffnung: Interessiert, lernbereit und mit der Möglichkeit, dass das Gegenüber sich zeigen kann, mit dem, was ihm wichtig ist und einen trägt. „Glauben wird personal übertragen“, so hat es Karl Ernst Nipkow pointiert formuliert. Es heißt zunächst einmal, sich von anderen davon erzählen und sich von dem berühren zu lassen, was anderen wichtig geworden ist. Es heißt ein Stück des Weges gemeinsam zurückzulegen. So wird es möglich, von Erfahrungen anderer zu profitieren. Nicht immer muss dabei alles erklärt werden. Manchmal reicht es aus, einfach „nur“ mitzugehen und dabei zu sein auf dem Weg zur unverstellten Gegenwart Gottes. Wir bewegen uns in solchen Übertragungsketten. Wir suchen, wo wir etwas zu fassen bekommen, was uns hilft auf unseren eigenen Wegen. Besonders wichtig ist das, wenn Situationen verfahren, lähmend und zerstörend sind. Das gilt für uns persönlich, aber auch überindividuell. Das jüdische Erbe im Christsein ist bleibend wichtig.

Autoren

  • Prof. Dr. Kristin Weingart (Einführung und Exegese)
  • Prof. Dr. Michael Domsgen (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500054

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