Asyl / Asylrecht (AT)
(erstellt: Januar 2009)
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→ Flucht
Während das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland politisch Verfolgten – aber auch nur diesen – unter bestimmten Umständen Asyl zugesteht (§16a), regeln die Gesetzessammlungen des Alten Testaments speziell das Asyl für Menschen, die jemanden versehentlich, d.h. bei einem Unfall, getötet haben (3.1.; 4.3.); das Asyl für Schutzsuchende aus anderen Gründen wird dagegen in sittlichen und religiösen Appellen behandelt (3.2. und 3.3.).
Traditionell werden die „Wurzeln des A[sylrechts] … im sakralen und magischen Bereich“ vermutet (so Henßler, 243, als Beispiel für viele). Das gilt auch für das alttestamentliche Israel: „Es ist eine alte und weitverbreitete Überzeugung der Forschung, daß zunächst die Ortsheiligtümer als Asyle gedient hätten; deren Liquidierung durch die josianische Reform habe es erforderlich gemacht, einen Ersatz zu schaffen, und zu diesem Zwecke seien die Freistädte ersonnen worden“ (Traulsen, 19 mit Literaturhinweisen). Soweit sich die Geschichte des israelitischen Asylrechts mit Hilfe der im Alten Testament bewahrten Überlieferungen nachzeichnen lässt, ist die Entwicklung jedoch gerade andersherum verlaufen: Während sich relativ glaubwürdige Nachrichten über erfolgreiche Asylsuche bei Personen (2.) und Kommunen (3.) sowie die Einrichtung der (profanen) Asylstädte (3.1.2.) in die Königszeit Israels und Judas verorten lassen, finden sich Hinweise auf ein Asyl an sakralen Orten erst in Texten aus bzw. für die nachexilische Zeit (4.3. und 4.4.). Im alttestamentlichen Israel steht das Altar- bzw. Tempelasyl am Ende der überschaubaren Entwicklung. Und das war in der alten Welt wohl auch kein Sonderfall, denn der früher als so selbstverständlich angenommene sakrale Ursprung des Asyls im antiken Griechenland ist mittlerweile fraglich geworden (5.1.). Sollten die israelitischen Asylvorstellungen dennoch sakrale oder magische Wurzeln haben, müssten diese in einer historisch sehr weit zurückliegenden Epoche gesucht werden, aus der den Verfassern der alttestamentlichen Schriften keine Traditionen mehr zur Verfügung standen.
1. Einleitung
1.1. Das Rechtsinstitut Asyl
Das Asyl ist eine Spezialform der → Gastfreundschaft
Formen und Anlässe der Asylsuche sind vielfältig. Zu unterscheiden ist (vgl. Traulsen, 1; die alttestamentlichen Belege sind in den angegebenen Abschnitten besprochen):
● zwischen der Asylsuche innerhalb des eigenen Staatsgebietes (2. bis 4.) oder im Ausland (6.),
● zwischen der Asylgewährung aufgrund profaner Macht (2.; 3.) oder religiöser Furchterregung (4.),
● zwischen der Beschränkung des Asylschutzes auf einen Ort (3.1.; 4.), auf den Kontakt zu einer Persönlichkeit (2.) oder auf einen Zeitraum (4.2.) und nicht zuletzt
● zwischen den unterschiedlichen Asylgründen, zu denen eine (selbst- oder unverschuldete) Verfolgung durch die Staatsmacht (2.; 4.1.; 6.), ein Versuch der Befreiung aus Schuldverhältnissen (4.4.) wie auch der Sklavenschaft (3.3.), die Flucht vor einer drohenden Strafe wegen Kapitalverbrechen (3.1.; 4.1.; 4.3.1.; 4.3.2.) oder vor Krieg (3.2.; 4.1.; 6.) bzw. Wirtschafts- (3.2.; 6.) und Naturkatastrophen zu zählen sind.
1.2. Die Verbindlichkeit des Asylschutzes im Alten Testament
Einen individuellen Rechtsanspruch auf Asyl gab und gibt es im Allgemeinen nicht (Auffahrt, 864), auch war und ist die Akzeptanz des Asyls und damit die Wirksamkeit seines Schutzes seitens der politisch Mächtigen oder auch der öffentlichen Meinung abgestuft.
Im Grundsatz dokumentieren das auch die einschlägigen alttestamentlichen Quellen. Allerdings finden sich hier – in der Umwelt Israels beispiellos (vgl. aber auch unten 5.1.) – gesetzliche Regelungen für die Asylberechtigung bzw. den Asylmissbrauch im Falle der Tötung eines Menschen (Ex 21,13-14
Da Israel die Lage der Fremden aus eigener Erfahrung kennt, sollen sie nicht bedrückt (Ex 22,20-21
1.3. Die Ausdrücke für Asyl im Alten Testament
Einen dem deutschen (Fremd)wort „Asyl“ entsprechenden Begriff gibt es im Alten Testament nicht. Wenn das hebräische Wort מקלט miqlāṭ zuweilen mit „Asyl“ übersetzt worden ist, so sind doch die Grundbedeutungen der beiden Begriffe und damit auch das jeweils zugrundeliegende Asylkonzept auffällig verschieden: Das Substantiv מקלט miqlāṭ ist von dem Verb קלט qlṭ II „aufnehmen“ abgeleitet (HALAT, 593), so dass der Aspekt der Aufnahme in eine Stadt und in die Mitte der dortigen Bevölkerung semantisch im Vordergrund steht. Demgegenüber dominiert in dem griechischen Adjektiv ásylos „ungeplündert / unberaubt“, geworden zu „unverletzlich / sicher / unangefochten“ (Menge, 115) die Vorstellung, „daß keine Maßnahme der gewaltsamen Selbsthilfe an der sylonlosen Person oder Sache vorgenommen werden darf“ (Schlesinger, 28). Dieser Unterschied wird auch der Grund dafür sein, dass die Übersetzer der → Septuaginta
In den deutschsprachigen Bibelübersetzungen findet sich für עיר מקלט ‘îr miqlāṭ „Freistadt“ (so die Lutherbibel, dort in Jos 20,3
Zur Beschreibung der Flucht eines Asylsuchenden, seines Fluchtzieles und des Aufenthalts am Asylort verwendet das Alte Testament keine speziell dafür ausgewählten Wörter. Auffällig ist nur, dass die Flucht aufgrund des gewaltsamen Todes eines Menschen mit Ausnahme von 2Sam 13,37
2. Das personelle Asyl
Einzelpersonen können Schutz bieten, wenn ihnen eine überdurchschnittliche Macht zur Verfügung steht. Dementsprechend sind es Könige oder Personen, die unbeschadet ihres tatsächlichen Ranges so genannt sind, die in den Überlieferungen um Asyl angegangen werden (Löhr, 188), aber auch hochangesehene Bürger aus anderen sozialen Schichten wie → Samuel
So erzählt 1Sam 19,18-19
Laut 1Sam 22,3-4
Nachdem → Absalom
Auch flüchteten nach 1Kön 2,39-40
3. Das kommunale Asyl
Crüsemann hat einen Aufsatz zum Asylwesen im Alten Testament mit „Das Gottesvolk als Schutzraum“ überschrieben (Crüsemann, op. cit.). Dieser Titel spiegelt den Befund wider, dass Asyl in den eindeutigsten und auch ältesten Belegen in der hebräischen Bibel weniger auf persönlicher Macht einzelner Personen und schon gar nicht auf der Unverletzlichkeit sakraler Institutionen, sondern in der Bereitschaft von Stadtgemeinden beruht, Flüchtlinge aufzunehmen und zu schützen. Was Falk „auf örtlicher Basis fundierte[s] Asylrecht“ nennt (Falk, 318), soll hier kommunales Asyl genannt werden.
3.1. Das kommunale Asyl bei Tötungsdelikten
3.1.1. Die Texte und ihre Tatbestandsdifferenzierung
Das älteste Asylgesetz des Alten Testaments findet sich in Dtn 19,11-12
Der Paragraph gehört zu einem Kodextorso, der das Grundgerüst für die Normensammlung Dtn 19-25
Dtn 19,11-12
Dtn 19,1-10
3.1.2. Die Asylstädte und ihr Charakter
In Dtn 19,2.9
Die Notiz Dtn 4,41-43
Schmid will die Entstehung der Asylstadtinstitution im Nordosten des israelitischen Siedlungsgebietes mit der Tatsache in Verbindung bringen, dass die alttestamentliche Überlieferung über Heiligtümer in dieser Region nichts zu berichten weiß, durch deren Fehlen es aber eben auch keine Tempelasyle gegeben haben könnte und die Asylstädte vielleicht als Ersatz dafür angeboten worden seien (Schmid, 134). Doch ist das Schweigen der Quellen ein unsicheres Argument; zudem war das Heiligtumsasyl in der ersten Hälfte des 1. Jt.s in Israel wohl noch gar nicht akzeptiert (vgl. unten 4.).
Dass man zum Schutz vor der Blutrache ein Asyl in Städten angeboten hat, könnte zwei Gründe haben: Zum einen mag man das persönliche Asyl (oben 2.) gegenüber einem aufgebrachten Bluträcher als nicht ausreichend, unter Umständen sogar den Asylgeber selbst gefährdend betrachtet haben; demgegenüber bot eine Stadt, befestigt durch eine Mauer und ausgerüstet mit kollektiver Verteidungskraft, einen viel wirksameren Schutz. Zum anderen sollte vielleicht „ein[] Exil[] im Land … die Flucht ins Ausland ersetze[n]“ (Schenker, 866). Die Flucht über die Grenze aber bot ja auch nur bei einem ausreichenden Grenzregime des Fluchtlandes Sicherheit, und dieses war im Alten Orient nicht überall vorhanden: Während aus dem antiken Ägypten zahlreiche Nachrichten über Grenzbefestigungen gegenüber Palästina vorliegen (Helck, 896), waren Assyrien und Babylonien außerhalb von Krisenzeiten wohl für jedermann (Grayson, 640) und eben auch für den Verfolger eines Flüchtlings ziemlich frei zugänglich, was auch für die → Aramäerstaaten
Ein sakrales Element lassen weder die Asylstädte (Schenker, 865, hatte wenigstens für Sichem ein berühmtes Heiligtum, Löhr, 209, eine sakrale Bedeutung der Städte in ferner vorisraelitischer Zeit vermutet) noch die im Asylverfahren beteiligten Personen (die Rechtsgemeinde mit ihren → Ältesten
Die verbreitete Hypothese, die Asylstädte seien in Folge der deuteronomischen Forderung nach → Kultzentralisierung
3.1.3. Das Asylverfahren
Dtn 19,1-13
3.2. Das kommunale Asyl für Fremde
In den israelitischen und judäischen Kommunen lebten Fremde in- und ausländischer Herkunft. Einige Erzählungen und Notizen des Alten Testaments dokumentieren, dass darunter auch Asylanten waren, die dort Schutz gesucht und gefunden hatten.
1. Asylanten werden in der bibelhebräischen Sprache von Fremden, die ohne einen Hintergrund von Not oder Verfolgung ihren Ort verlassen haben und fern ihrer Heimat leben und arbeiten, wie etwa einige der Leviten (vgl. z.B. Ri 17,7-12
2. Ein Immigrationshintergrund des → Fremden
1. Inländische Flüchtlinge. Mindestens zwei Stellen im Alten Testament lassen Flüchtlinge im eigenen Lande erkennen: Nach einer isoliert stehenden Nachricht in 2Sam 4,3
Zuweilen wird in der Literatur mit einem Flüchtlingsstrom aus dem Nordreich nach Juda aufgrund der assyrischen Eroberung im Jahre 722 v. Chr. gerechnet (z.B. Krapf, 375). Schriftliche oder archäologische Zeugnisse gibt es darüber nicht (Bultmann, 213). Und dass sich die häufige Ermahnung zur gerechten Behandlung und ausreichenden Unterstützung der Fremden im → Deuteronomium
2. Ausländische Flüchtlinge. Gen 23
Es gibt eine Stelle im Alten Testament, die den Beginn eines Asylverfahrens für ausländische (Kriegs-?)flüchtlinge dokumentiert: Nach Jes 16,1
3.3. Ein kommunales Asyl für Sklaven?
Zum Sklavenasyl gibt es im Alten Testament nur zwei Belege, die kein klares Bild vermitteln.
Nach 1Kön 2,39-40
Dtn 23,16-17
Sklavenflucht war in der altorientalischen Epoche trotz aller Vorkehrungen, die dagegen getroffen wurden, ein häufiges Ereignis. Im Zweistromland wurden die Sanktionen gegen jemanden, der bei der Flucht eines Sklaven behilflich war oder einen flüchtigen Sklaven in seinem Hause zurückhielt, zwar im Laufe der Zeit gemildert bzw. ganz ausgesetzt, dennoch war die Pflicht zur Rückführung an den Eigentümer unumstritten (Ebeling, 90). In diesem rechtsgeschichtlichen Kontext ist der Aufruf von Dtn 23,16
4. Die Suche nach dem sakralen Asyl
In religionsgeschichtlichen und völkerkundlichen Abhandlungen über das Asyl wird meist die Flucht an heilige Orte wie Haine, Altäre oder Tempel als die Ur- und Ausgangsform aller Asylformen betrachtet (siehe z.B. Wißmann, 315-316; Chaniotis, 143; Quack, 1116-1117; differenzierter allein Douma, 147). Die im Alten Testament bewahrten Traditionen stützen diese Hypothese für Israel nicht (vgl. aber auch unten 5.1. zur Geschichte des Asyls in Griechenland). Zwar hat die Überlieferung einzelne Versuche, an einem → Altar
Dass es nur schwache und späte Hinweise auf ein sakrales Asyl im alttestamentlichen Israel gibt, wird mehrere Gründe haben. Erstens stand Israel zu einem guten Teil in der altorientalischen Tradition, in der ein Heiligtumsasyl unbekannt gewesen zu sein scheint (vgl. 5.2. und 5.3.). Zum anderen setzt das sakrale Asyl eine bestimmte Bauart und Infrastruktur der Heiligtümer voraus, die einem Flüchtling Sicherheit vor Verfolgung, Unterhalt zum Leben und Schutz vor der Witterung bieten konnten; über das Land verteilte feste und ausgedehntere Tempelanlagen haben sich archäologisch aber in Israel bisher so gut nicht nachweisen lassen (Zwickel, 1994, 236-239, 281-284) und sind für die nachexilische Zeit mit ihrer Kultzentralisierung auf Jerusalem ohnehin auszuschließen. Drittens ist ein ungehinderter und schneller Zutritt zur heiligen Stätte Voraussetzung für ein sakrales Asyl; die Erinnerungen an „Tempeleinlassliturgien“ in den Psalmen oder auch in Jes 33,14-16
4.1. Erzählungen über die Geschichte der vorexilischen Zeit
Nach Ri 9,46-49
1Kön 1,50-53
1Kön 2,28-34
Das Verhalten Salomos in letzterem Falle ist unterschiedlich erklärt und gewertet worden (vgl. Delekat, 272; Falk, 318; Schmid, 1133; Crüsemann, 52; Schenker, 865; Traulsen, 21-28; Staszak, 191). Alle diese Auslegungs- oder gar Rechtfertigungsversuche verschleiern aber die eindeutige Aussage der beiden Texte: Die Erzähler wissen aus den überkommenden Traditionen oder aus Erfahrungen ihrer eigenen Zeit, dass Menschen die Scheu ihrer Feinde vor heiligen Stätten dazu auszunutzen versuchten, sich ihnen dort zu entziehen, ihre Gegner diese Scheu aber nicht hatten und die Verfolgung auch am Altar bzw. im Tempel fortsetzten. Offensichtlich wurde im alttestamentlichen Israel der ersten Jahrhunderte des 1. Jt.s das Altar- oder Tempelasyl genauso wenig akzeptiert wie in den zeitgleichen benachbarten Kulturen (siehe dazu unten Kapitel 5.).
4.2. Prophetische Texte
Es ist gesagt worden, dass einige → Propheten
Jeremia spricht in der „Tempelrede“ Jer 7,1-15
Als Kritik am Altarasyl ist auch Am 3,14-15
4.3. Späte Bearbeitungsschichten des Pentateuchs
Zusätze zum → Bundesbuch
1. Ex 21,13-14. Innerhalb des Bundesbuches Ex 21,1-23,19
Manche Autoren betrachten den Abschnitt als die älteste alttestamentliche Asylgesetzgebung, doch liegt er nicht nur in sekundär bearbeiteter Form vor, sondern ist auch sein literarischer Grundbestand bereits als relativ jung einzuschätzen: Die beiden Protasen leiten die Darstellung des jeweiligen Tatbestandes mit „Wer …“ (Ex 21,13
Die beiden Protasen Ex 21,13
Derjenige, der in Ex 21,13
Ruwe hat Ex 21,13
2. Num 35,25b.28.32 (sowie Jos 20,6). Auf ein Tempelasyl weisen auch Zusätze zu Num 35
Num 35,25
3. Vom kommunalen Asyl zum Tempelasyl. Die beschriebenen Bearbeitungen von Ex 21
4.4. Erzählungen über die Geschichte der nachexilischen Zeit
→ Nehemia
Weitere, aber recht widersprüchliche Nachrichten über das Asyl an Heiligtümern kommen dann erst wieder aus der hellenistischen Zeit. 2Makk 4,33-34
4.5. Psalmen
Sollte es in der nachexilischen Zeit möglich gewesen sein, im Jerusalemer Tempel Schutz vor Verfolgung zu suchen, könnte sich das in den → Psalmen
Von der Flucht eines Asylsuchenden in ein oder das Heiligtum ist expressis verbis in keinem einzigen Psalm die Rede; das Verb חזה ḥzh „Zuflucht suchen“, das in den zur Debatte stehenden Liedern als Prädikat oder im Substantiv מחסה maḥsæh „Zuflucht / Zufluchtsort“ verwendet wird (Ps 2,12
Der zuletzt genannte Psalm gehört zu der Gruppe, in denen sich das Bild von „dem Flügel / den Flügeln Jahwes, in deren Schatten / unter denen sich der Beter geborgen fühlt,“ findet (siehe auch Ps 17,8
Wo auch immer die Exegese Spuren eines Altar- oder Tempelasyls in den Psalmen anerkennen mag, wird die Auslegung letztlich dadurch fragwürdig, dass „diese Interpretationen keine Bestätigung in den israelitischen Rechtsquellen [finden]“ (Falk, 318).
5. Der Vergleich mit dem Asylrecht der benachbarten Kulturen
Ein Vergleich der Asylmöglichkeiten und Asylrechte zwischen Israel und den Israel in alttestamentlicher Zeit, d.h. dem 1. Jt. v. Chr. umgebenden Kulturen zeigt ein auffälliges West-Ost-Gefälle. Für Griechenland und Israel dokumentieren die Quellen für den ersten Teil des Jahrtausends ein persönliches und – in Israel stärker vertreten – kommunales Asyl. Im Laufe des Jahrtausends gewinnt in beiden Bereichen – in Griechenland deutlicher als in Israel – das sakrale Asyl an Bedeutung. Dagegen lassen sich im gleichzeitigen östlichen Bereich des Alten Orients kaum oder gar keine Spuren einer Asylkultur entdecken. (Das östliche Nordafrika lässt sich mangels eindeutiger Überlieferungen nicht sicher einordnen.)
5.1. Griechenland
In Griechenland war das sakrale Asyl sowohl in der klassischen (ca. 500-323 v. Chr.) als auch vor allem hellenistischen Epoche (nach 323 v. Chr.) von großer Bedeutung. Aber es ist zu bezweifeln, dass es sich dabei um eine „seit der Frühzeit gut belegte Institution“ (Chaniotis, 143) handelt. Vielmehr lassen sich im archaischen Griechenland (1. Hälfte des 1. Jt.s v. Chr.) Verhältnisse beobachten, die denen im alttestamentlichen Israel stark ähneln: „Für Homer sind Schutz und Zuflucht eine Sache persönlicher Beziehungen … . Wer des Schutzes, wer der Zuflucht bedarf, wendet sich immer an einen Menschen“ (Traulsen, 128-129; als Beispiele können Ilias 16,571-577; Odyssee 7,138-169; 15,271-280; 22,330-380 gelten). Auch Aischylos geht davon aus, dass sich die „Schutzflehenden“ (geschrieben zwischen 465 und 469 v. Chr.) seinerzeit zuerst an den König von Argos wenden mussten, bevor sie ihre Zweige am Altar niederlegen konnten; Asyl bekamen sie letztlich aber erst, nachdem die Bevölkerung der Stadt dem zugestimmt hatte und sie „in die wohlumhegte Stadt, die ihrer Türme hoher Bau kunstvoll umschließt“, aufnahm (Zimmermann, 600-605). Vergleichbar mit 1Kön 1,50-53
Crüsemann (58) verweist auf die Differenzierung der Tötungsdelikte in Drakons Gesetz (621/620 v. Chr., erhalten in einer Neuveröffentlichung von 409/408 v.Chr.) und vermutet, dass danach „unschuldige Täter ins Ausland entkommen“ durften. Letzteres geht aus dem Wortlaut (siehe etwa Koerner, 28-29) allerdings nicht hervor; hier kann durchaus auch ein inländisches Fluchtziel gemeint sein. Vergleichbar mit dem israelitischen Asylrecht ist aber, dass der unvorsätzliche Täter in die Heimat zurückkehren darf. Dies allerdings wird von der Zustimmung der näheren Verwandten des Opfers abhängig gemacht, und solange auch nur einer dagegen votiert, muss der geflohene Täter im Asyl bleiben.
5.2. Aramäischer Norden der Levante
Im aramäischen Norden der Levante waren die Chancen der Asylsuchenden offenbar weit geringer. Zwar gibt es mit dem Vertrag zwischen Bar-Gaja von Ktk und Mati-El von Arpad aus der Mitte des 8. Jh.s v. Chr. (→ Sfire-Stele III
5.3. Zweistromland
Für den Alten Orient im engeren Sinne als dem nördlichen und südlichen Teil des „Fruchtbaren Halbmondes“ schweigen sich die mit dem Alten Testament gleichzeitigen Nachrichten trotz des fast unüberschauberen Umfangs der Keilschriftliteratur des 1. Jt.s v. Chr. über jegliche Form von Asyl aus. Dabei ist das Fehlen von Hinweisen auf ein sakrales Asyl besonders aufschlussreich, drängen sich doch die die Tempel und den Tempelbetrieb betreffenden archäologischen und epigraphischen Quellen gerade in dieser Region so auffällig in den Vordergrund, doch hat eine eventuelle Asylpraxis darin auch nicht die geringste Spur hinterlassen (Crüsemann, 52). Der Asylgedanke war wohl mit der traditionellen, ausgeprägt monarchischen Gesellschaftsstruktur Mesopotamiens unvereinbar.
Für das 2. Jt. v. Chr. scheint es allerdings schwache Hinweise auf ein personelles Asyl für flüchtige Sklaven zu geben (vgl. Löhr, 206, unter Hinweis auf P. Koschaker, op. cit.). Wie weit diese Tradition aber in das 1. Jt. v. Chr. hinein lebendig war, ist unbekannt.
5.4. Ägypten
Nachrichten über ein personelles oder ein kommunales Asyl im Ägypten des 1. Jt.s v. Chr. liegen nicht vor. Erste Belege über die Flucht in Heiligtümer stammen aus der Spät- (664-323 v. Chr.) und dann verstärkt aus ptolemäischer Zeit (seit 323 v. Chr.; Lüddeckens, 514); hier dürfte zunehmender griechischer Einfluss nicht auszuschließen sein. Doch wie weit dem eine ältere ägyptische Praxis entgegengekommen sein mag (diskutierbare Argumente dafür bei Lüddekens, 514), ist umstritten. Die zu erhebenden Fluchtgründe der Asylsuchenden liegen im wirtschaftlichen Bereich. Politische oder strafrechtliche Gründe führten zur Landesflucht in die Oasen oder nach Palästina und Syrien (Schenkel, 276).
Letztere Sitte dokumentiert auch die Erzählung von → Moses
6. Asylsuche von Israeliten im Ausland
Flucht ins Ausland bedeutet nicht nur Eintritt in einen Landstrich, in dem ein anderes Klima herrscht und der durch eine andere Administration verwaltet wird, sondern auch Übertritt über eine in gewissem Maße gesicherte und damit Sicherheit spendende Grenze. Während der zweite Aspekt bei Flucht aufgrund politischer oder strafrechtlicher Verfolgung von entscheidender Bedeutung ist (2.), spielt im Falle einer → Hungersnot
1. Wegen einer Hungersnot soll sich → Elia
Jer 40,11-12
2. Als ausländisches Fluchtziel aufgrund politischer oder strafrechtlicher Verfolgung galt vornehmlich Ägypten mit seinem restriktiven Grenzregime (Helck, 896). Als → Jojakim
→ Jismael
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