Bibelauslegung, historisch-kritische (AT)
(erstellt: Februar 2008)
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1. Definition
Exegese ist das analytische Bemühen, durch Anwendung philologischer und historischer Methoden die kanonischen Schriften des Alten und Neuen Testaments zu verstehen. Als Leitmethode wissenschaftlicher Bibelauslegung bemüht sich die historisch-kritische Exegese zu ermitteln, welchen Sinn ein biblischer Text zur Zeit seiner Abfassung hatte. Sie berücksichtigt dabei, dass sich dieser Sinn durch Erweiterungen und Veränderungen gewandelt haben kann.
Wie alle Zugänge zur Schriftinterpretation nehmen die Methoden historisch-kritischer Exegese ihren Ausgang in Fragen, die beim aufmerksamen Lesen des Textes entstehen (vgl. Barton, 23). Bei der systematischen und reflektierten Suche nach Antworten auf diese Fragen entstehen Methoden, die im Laufe der Forschungsgeschichte stetig ergänzt und verfeinert werden. Schematisch lässt sich dieser Umstand wie folgt darstellen:
Text / Leser => Fragen => reflektierte Antwort => Methode.
Die methodisch reflektierte Suche nach Antworten geschieht bei der historisch-kritischen Exegese innerhalb eines Rahmens, der die realgeschichtlichen Kontexte der Texte betont. Bei allen Methoden der historisch-kritischen Exegese ist ein historisches Interesse von maßgeblicher Bedeutung. Denn neben der Texterklärung wollen diese Methoden auch einen Beitrag zur Erforschung der Geschichte Israels in ihrem altorientalischen Kontext leisten (Rendtorff). So entstanden Methodenschritte, die mittlerweile zum Kanon der historisch-kritischen Exegese gehören: Textkritik, Literarkritik, Überlieferungskritik, Redaktionskritik, Formkritik, Traditionskritik und die Frage nach dem historischen Ort.
2. Textkritik
Der ursprüngliche Text der Bibel liegt uns nicht einheitlich vor, sondern in einer Vielzahl von Manuskripten, die sich durch mehr oder minder große Varianten unterscheiden. Die Textkritik bemüht sich, aus dieser Vielzahl den Text zu finden, der gelesen werden soll. Spätestens seit dem Fund der → Qumranschriften
Eine erste textkritische Entscheidung ist die Entscheidung für eine bestimmte Textgestalt. Diese Entscheidung hat u.a. einen starken Einfluss auf die kanonische Exegese (→ Bibelauslegung, christliche
3. Literarkritik
Viele biblische Texte enthalten Merkmale, die ihre Einheitlichkeit in Frage stellen. Dazu gehören inhaltliche Spannungen und Widersprüche, Verdoppelungen des Inhalts in einem Abschnitt (Dubletten), Mehrfachüberlieferungen desselben Inhaltes in unterschiedlichen Texten oder abrupte Unterbrechungen in Erzählfortläufen, Wechsel in der Sprachverwendung, z.B. in Bezug auf den Gottesnamen, und andere syntaktische und semantische Auffälligkeiten. Diese Merkmale sind Hinweise darauf, dass viele biblische Texte nicht auf einen einzelnen Autor zurückgehen, sondern im Laufe ihrer Entstehungsgeschichte bearbeitet und ergänzt worden sind. Die Literarkritik bemüht sich, diesen diachronen Prozess der Textgenese von der Erstverschriftung bis zur Kanonisierung zu beschreiben und die unterschiedlichen Stufen des Textwachstums herauszuarbeiten.
Ist das Wachstum eines Textabschnitts verstanden, stellt sich die Frage nach den größeren literarischen Zusammenhängen der in sich einheitlichen Textabschnitte. „Indem die Literarkritik den größeren literarischen Zusammenhang eines Textstücks aufweist und seine Stellung in ihm bestimmt, macht sie die Bearbeitung der Frage nach Verfasser, Ort und Zeit seiner literarischen Fassung möglich“ (Steck, 1993, 60). Drei Basismodelle haben Hypothesen zur Textentstehung, vor allem im Bereich des → Pentateuchs
● Nach der Fragmentenhypothese nahm die Textgenese in der Verschriftung vieler kleiner Einzelepisoden ihren Anfang. Diese Einzelepisoden wurden im Verlauf der Zeit zu jeweils größeren Erzählkränzen kombiniert, die schließlich zu dem Text in seiner Endgestalt führten.
● Nach der Ergänzungshypothese (z.B. bei → de Wette
● Eine Quellen- oder Urkundenhypothese geht davon aus, dass mehrere ursprünglich selbständige Schriften zum vorliegenden Text ineinander gearbeitet worden sind.
Für die → Genesis
Ein schönes Beispiel für die Verbindung von textkritischer und literarkritischer Arbeit bietet die Auslegung von 1Sam 17
4. Überlieferungskritik / Überlieferungsgeschichte
Die Frage nach der Gattung eines Textes und dem dazugehörenden Sitz im Leben lässt schnell deutlich werden, dass viele Gattungen nicht in einem schriftlichen, sondern in einem mündlichen Kontext ihren Ursprung haben. Überlieferungskritik bzw. Überlieferungsgeschichte entstammt der methodischen Orientierung der Religionsgeschichtlichen Schule und ihrem kulturvergleichenden Interesse an der vorschriftlichen Weitergabe von Inhalten. Aufgabe der Überlieferungskritik ist es, mögliche Gestalt und Werdegang eines Inhaltes in der mündlichen Überlieferungsphase vor der Erstverschriftung zu erörtern. Beim Fehlen mündlicher Quellen müssen diese Überlegungen stark hypothetisch bleiben. Der Redaktionskritik kommt aber in diesem Kontext eine zusätzliche Bedeutung zu, da die Erstverschriftung eines mündlichen Inhalts bereits eine Redaktion dieses Inhaltes darstellt. Damit verschwimmen die Grenzen zwischen Autor und Redaktor.
Die Frage nach der mündlichen Vorstufe eines Textes wird besonders dann angestoßen, wenn ein Text in ähnlicher Fassung mehrfach im Alten Testament oder in der Umwelt Israels überliefert ist (sog. Doppel- oder Mehrfachüberlieferungen). Zu solchen Mehrfachüberlieferungen innerhalb des Alten Testaments gehören die Erzählungen von der → Gefährdung der Ahnfrau
Lässt neben einer solchen Mehrfachüberlieferung auch die Gattung die Frage nach der möglichen mündlichen Vorgeschichte eines Textes laut werden, so bestimmt diese Gattung auch die anzunehmenden Transformationsprozesse, die bei der Erstverschriftung der mündlichen Vorgabe anzunehmen sind. Volkstümliches Erzählgut, Legenden, Sagen, Anekdoten sind relativ offen für Veränderungen in der Wortwahl und der Gestaltung bei der Erstverschriftung. Dagegen werden Sprichwörter, Kultlieder, Rechtssätze und teilweise auch Prophetenworte schon in mündlicher Form weitgehend die Sprachform gehabt haben, die uns jetzt in schriftlicher Form vorliegt.
5. Redaktionskritik / Redaktionsgeschichte
Das Gegenstück zur Literarkritik ist die Redaktionskritik bzw. Redaktionsgeschichte. Wo Texte ergänzt und miteinander kombiniert wurden, muss es auch eine Instanz gegeben haben, die diese Arbeit vollzogen hat. Die Redaktionskritik spürt der Arbeit dieses → Redaktors
Durch redaktionelle Zusammenstellung erhielten biblische Texte neue Kontexte und damit neue Bedeutungsrahmen, innerhalb derer theologische Inhalte in einem Prozess innerbiblischer Exegese weitergedacht und neu interpretiert wurden. Die bloße Zusammenstellung von Texten wurde vielfach auch durch Eigenformulierungen des Redaktors ergänzt und verstärkt. Dazu gehören u.a. Glossen (Interpolationen), d.h. Redeformeln oder sachlich-theologische Ergänzungen, die thematisch und sprachlich an die nähere Textumgebung anknüpfen und diese präzisieren, erläutern oder erweitern (vgl. z.B. Gen 32,32
6. Formkritik / Formgeschichte
Formkritische Fragestellungen sind eng mit dem Namen → Hermann Gunkel
Auch die Bestimmung der Textgattung als überindividuelles, in unterschiedlichen Texten wiederkehrendes Sprachmuster ist ein wesentlicher Aspekt der sprachlichen Analyse. Gunkel hat richtungsweisend postuliert, dass biblische Texte nach typischen Sprachmustern mit ihrer je eigenen geprägten Formensprache gestaltet sind. Im Hinblick auf die Psalmen werden nach Gunkel diese Sprachmuster bzw. Gattungen von drei Faktoren bestimmt: 1) Eine bestimmte Gelegenheit im Gottesdienst, 2) ein gemeinsamer Schatz von Gedanken und Stimmungen und 3) eine gemeinsame Formensprache (Gunkel, 1933, 22f.). Einige Gattungen in hebräischer Eigenbezeichnung sind die → Totenklage
Die → Gattung
Vgl. → Gattungen
7. Traditionskritik / Traditionsgeschichte
Der Begriff der Tradition wird in der historisch-kritischen Exegese in unterschiedlicher Weise verwendet. Auf der einen Seite bezeichnet Tradition den Vorgang der Überlieferung, was man im Englischen als „transmission history“ bezeichnen würde. Ausgehend von diesem Verständnis wäre die Fragestellung der Traditionskritik nahezu deckungsgleich mit dem der Überlieferungs- oder der Redaktionskritik.
Mit dem Begriff der Tradition wird vielfach jedoch nicht der Überlieferungsprozess (traditio) bezeichnet, sondern das Überlieferte selbst (traditum). Eine traditionskritische Untersuchung bzw. der Versuch, die Traditionsgeschichte eines Textes zu verstehen, konzentriert sich auf die geistige Welt, die den Kontext der Textinhalte ausmacht, mit all ihren geistes-, theologie- und religionsgeschichtlichen Zusammenhängen (vgl. Steck, 1982). Da eine Tradition selten in detaillierter Breite in einem Text aufgenommen wird, stützt sich das Erkennen einer Tradition zumeist auf auffällige Leitbegriffe, Bilder, Redewendungen oder Wortensembles, die den Exegeten an Inhaltskomplexe erinnern und die ihn auf Parallelen in anderen Texten aufmerksam machen.
Folgende Fragen geben oft die Richtung für eine traditionsgeschichtliche Untersuchung vor: a) Greift ein Text eine Vorstellung auf? b) In welchen größeren Zusammenhang gehört diese Vorstellung? c) Mit welcher Intention wird die Vorstellung in einem bestimmten Text aufgenommen? d) In welcher Weise schreitet der Text gegebenenfalls über seine vorgegebene geistige Welt hinaus? (Steck 1993, 134f.).
In dieser Weise wird der Schatz an Wissen und Kenntnissen analysiert, der einem Verfasser bekannt war und den er bei der Abfassung seines Textes verwendete. Gerade im Alten Testament stoßen wir auf ähnliche Inhaltskomplexe in Texten, für die keine mündliche oder literarische Abhängigkeit konstatiert werden kann. Hier kann die Erfassung und Beschreibung der Tradition, die diese unterschiedlichen Texte speist, einen wesentlichen Beitrag zum Textverständnis leisten. Dabei zeigt es sich, dass Traditionen immer wieder neu aktualisiert und auch uminterpretiert werden. So wird z.B. in Ps 78
Auch wenn methodische Unsicherheiten manche Exegeten die Erkennbarkeit geprägter Vorstellungen in Frage stellen lassen (vgl. Rösel), so führen diese Untersuchungen doch zu einer Erhellung der Geistesgeschichte, die den Rahmen für die Textwerdung alttestamentlicher Texte gebildet hat. Dass die Vernetzung biblischer Texte durch traditionsgeschichtliche Verknüpfungen letztendlich auch in eine kanonische Exegese münden kann, zeigt die Biographie von Brevard Childs (1923-2007), der als Traditionskritiker begann, bevor er die Grundlagen eines kanonischen Zugangs legte (→ Bibelauslegung, christliche
8. Historischer Ort
Bei der Beschreibung des historischen Ortes eines Textes fließen Forschungsergebnisse aus den oben skizzierten Methodenschritten zusammen. Der historische Ort umfasst die Datierung eines Textes in allen seinen Werdestufen und die Ermittlung seines realhistorischen Umfeldes mit seinen geistig-religiösen, politischen, militärischen und ökonomischen Faktoren. Es ist meist weniger von Interesse, da auch kaum möglich, den oder die Verfasser eines Textes namentlich zu bestimmen, als vielmehr eine Beschreibung des historischen Umfeldes und der Bedingungen der Textabfassung zu leisten. Hinweise auf den historischen Ort eines Textes können sein: Die Erwähnung zeitgenössischer oder zurückliegender Ereignisse, kulturgeschichtliche Gegebenheiten, die sich historisch verorten lassen, die Aufnahme und das Vorhandensein anderer datierbarer Textelemente, eine Einordnung in eine Gattungsgeschichte (s. Formkritik), das relative chronologische Verhältnis zu anderen Schichten des Textabschnitts (s. Literarkritik), geistes-, theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Prägungen (siehe Traditionskritik), archäologische und epigraphische Informationen.
9. Zur Kritik an der historisch-kritischen Bibelauslegung
War die historisch-kritische Exegese lange Zeit die Leitwissenschaft der alttestamentlichen Forschung, so wurden in den letzten 30 Jahren zunehmend auch Stimmen laut, die auf die Limitationen der historisch-kritischen Exegese hinweisen (→ christliche Bibelauslegung
Literaturverzeichnis
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