Deutsche Bibelgesellschaft

Bibeltext / Textkritik (AT)

(erstellt: März 2018)

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1. Der wissenschaftliche Text der Hebräischen Bibel

1.1. Einleitung

Der hebräische Text ist die Grundlage für Übersetzung und Auslegung des Alten Testaments. Da wir von ihm kein „Original“ besitzen, sondern nur durch die Geschichte seiner Überlieferung vermittelte Abschriften und Übersetzungen, ist der hebräische Text selbst Gegenstand seiner historischen Erforschung. Aufgabe der Textkritik ist es, die im Vollzug des Abschreibens entstandenen Textfehler und absichtlichen Veränderungen festzustellen und rückgängig zu machen. Dazu benötigt man eine wissenschaftliche Textausgabe des Alten Testaments. Grundsätzlich lassen sich bei der Bereitstellung antiker Texte zwei Editionsprinzipien unterscheiden: das eklektische und das diplomatische Verfahren.

Der Grundsatz einer eklektischen Textausgabe besteht in einer wissenschaftlich begründeten Auswahl der besten Lesarten aus (allen) verfügbaren Handschriften. Sie bilden den Text, der in der Ausgabe abgedruckt wird. Die jeweils getroffenen textkritischen Entscheidungen werden dann im wissenschaftlichen Apparat durch Auflistung und Gewichtung der Textzeugen sowie durch Anführung alternativer Lesarten dokumentiert und nachvollziehbar gemacht. Ein nach dem eklektischen Editionsprinzip erstellter Gesamttext bietet mithin die Summe aller textkritischen Entscheidungen und ist genau genommen ein künstlich geschaffener Text. Beispiele eklektischer Textausgaben sind für den griechischen Text des Alten Testaments die vom Göttinger Septuaginta-Unternehmen herausgegebenen Einzelbände und für das Neue Testament das Novum Testamentum Graece.

Die diplomatische Textausgabe folgt dagegen dem Grundsatz der Urkundentreue. Eine als besonders zuverlässig geltende Handschrift wird ausgewählt und ihr Text möglichst originalgetreu abgedruckt. Sie heißt diplomatisch, weil sie zum Zwecke ihrer wissenschaftlichen Handhabung kleine Veränderungen des ursprünglichen Layouts gestattet wie beispielsweise die Eintragung der Kapitel- und Versziffern. Von Fall zu Fall sind bei Unleserlichkeit oder Lückenhaftigkeit der Texturkunde auch kleinste Berichtigungen oder Ergänzungen nötig. Hinzu kommt der textkritische Apparat. Bei urkundengetreuen Editionen spielt er eine grundsätzlich andere Rolle als die der Dokumentation. Seine Aufgabe besteht darin, durch Nennung von Textzeugen und Lesarten diejenigen Informationen zu liefern, die seine Benutzer umfassend in den Stand setzen, die Urkunde auf ihre Textüberlieferung hin zu befragen. Im Gegensatz zur eklektischen Textausgabe muss also bei einem diplomatischen Text die eigentliche textkritische Arbeit erst noch geleistet werden. Ein Beispiel für eine diplomatische Textausgabe ist die Biblia Hebraica Stuttgartensia.

1.2. Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS)

Die BHS ist gegenwärtig die einzige wissenschaftliche Ausgabe, die den gesamten Text der Hebräischen Bibel bietet. Sie wird als vierte Auflage der Biblia Hebraica-Ausgaben aus Stuttgart gezählt. Bereits ihre Vorgängerin, die 1937 von Rudolf Kittel herausgegebene dritte Auflage, begründete das urkundengetreue Editionsprinzip, indem sie anstelle des bis dahin üblichen Textus receptus erstmalig einen originalen Ben-Ascher-Text aus dem Mittelalter bot. Das wesentliche Verdienst gebührte dabei → Paul Kahle (1875-1964), der die in St. Petersburg aufbewahrte Bibelhandschrift B 19a (Codex Leningradensis) untersuchte und ihre vorübergehende Entleihung an die Universität Leipzig vermittelt hat. Der Kodex ist von hoher Qualität, aber wie jede Bibelhandschrift nicht frei von Textfehlern. In den meisten Fällen resultieren sie aus dem Prozess der Textüberlieferung. Um solche zweifelhaften Stellen in der Durchführung der Textkritik (s.u. 5.) aufklären zu können, bietet der Apparat der BHS eine Auswahl von Varianten, die in hebräischen Manuskripten und alten Übersetzungen belegt sind. Darüber hinaus finden sich sogenannte Handlungsanweisungen, die zu einer bestimmten textkritischen Entscheidung hinführen sollen (z.B. delendum „es ist zu tilgen“ oder transponendum „es ist umzustellen“).

1.3. Biblia Hebraica Quinta (BHQ)

Mit der Biblia Hebraica Quinta ist die fünfte Auflage der Biblia Hebraica-Ausgaben in Vorbereitung. Das auf zwanzig Einzelbände konzipierte Gesamtwerk ist nicht nur die Nachfolgerin der BHS, sondern entwickelt auch ein eigenes Profil: Als diplomatische Edition bietet sie wie die BHS den Text des Codex Leningradensis. Dabei bemüht sie sich um einen noch engeren Anschluss an die mittelalterliche Bibelhandschrift. Bei der Apparatsprache ist man vom Lateinischen zum Englischen übergegangen. Außerdem werden wichtige Textzeugen nicht mehr nur bei Abweichungen und Varianten benannt. Es werden auch positive Zeugen für die im Text stehende masoretische Lesart vermerkt. Die Angaben beschränken sich im Wesentlichen auf die Dokumentation, Beschreibung und Bewertung einer Lesart. Die typischen Handlungsanweisungen des BHS-Apparats sind weitgehend verschwunden. Neben dem Apparat bietet die BHQ (wie bereits die BHS) am äußeren Rand die Kleine Masora (masora parva; s.u. 2.4.) und unter dem Text erstmals auch die Große Masora (masora magna; s.u. 2.4.). Damit wird der Text des Codex Leningradensis vollständig dokumentiert. Jeder Einzelband enthält ferner einen dreifachen Anhang, in dem die Bearbeiter Anmerkungen und Erklärungen zur kleinen Masora, zur großen Masora und zum textkritischen Apparat geben. Bis 2017 sind in der BHQ-Reihe erschienen: Genesis, Deuteronomium, Richter, Hosea–Maleachi (Zwölf Propheten), Sprüche, Rut–Ester (Megilloth), Esra und Nehemia.

1.4. Hebrew University Bible (HUB)

Eine Alternative zu den in Stuttgart hergestellten Ausgaben der Biblia Hebraica bietet die in Jerusalem vorbereitete Hebrew University Bible. Bei ihr handelt es sich ebenfalls um eine diplomatische Edition. Ihr Text basiert auf dem sehr sorgfältig gearbeiteten Musterkodex von Aleppo, der im Mittelalter auch zur Kontrolle von Handschriften benutzt worden ist (www.aleppocodex.org). Er ist noch zuverlässiger als der Codex Leningradensis. Sein einziger Nachteil besteht darin, dass fast der gesamte Pentateuch der Handschrift fehlt. (Etwa 1/3 der wertvollen Handschrift wurde nach der Teilung Palästinas 1947 bei antijüdischen Ausschreitungen vernichtet.) Deshalb wurde das Unternehmen der Hebrew University Bible mit der Herausgabe der hinteren Propheten begonnen. Im Unterschied zur BHS verzichtet der Apparat der HUB ganz auf textkritische Wertungen der Lesarten und bietet auch keine Konjekturvorschläge. Sein Schwer­punkt liegt auf einer umfassenden Dokumentation der Textüberlieferung. Aufgrund der umfänglichen Informationen werden die Textzeugen zweckmäßig in vier Sparten notiert: erstens alte Übersetzungen, zweitens Texte aus der Wüste Juda und Zitate aus der rabbinischen Literatur, drittens eine Auswahl mittelalterlicher Handschriften mit Varianten zum Konsonantentext, viertens eine Auswahl mittelalterlicher Handschriften mit Varianten zur Vokalisation und zu den Akzenten. Schließlich gestattet ein „fünfter Apparat“ dem Herausgeber, seine eigenen Beobachtungen zu den dokumentierten Lesarten und Textproblemen zu notieren. Bis 2017 sind in der HUB-Reihe erschienen: Jesaja, Jeremia, Ezechiel.

1.5. Hebrew Bible: A Critical Edition (HBCE)

Mit dieser neuen Textedition wird erstmals der Versuch unternommen, eine eklektische Textausgabe der Hebräischen Bibel herzustellen. Das Projekt wurde 2008 unter der Leitung von Ronald Hendel, Berkeley-Universität in Kalifornien, mit ersten konzeptionellen Überlegungen begonnen, damals noch unter dem Namen „The Oxford Hebrew Bible“ (Hendel, 324-351). Für den Benutzer hat eine solche eklektische Textedition den Vorzug, dass der abgedruckte hebräische Text bereits das Ergebnis einer alle Aspekte der Textüberlieferung berücksichtigenden Textkritik darstellt. Änderungen gegenüber dem Codex Leningradensis werden im Text durch halbe eckige Klammern markiert, die textkritischen Entscheidungen im Apparat nachvollziehbar dokumentiert.

Kritisch gesehen wird die Durchführbarkeit eines solchen Unternehmens, weil die Herstellung eines eklektischen Textes mit dem umstrittenen Problem notwendiger Rückübersetzungen konfrontiert ist. Hat nämlich allein die Septuaginta oder eine andere Übersetzung eine zuverlässige ältere Lesart bewahrt, kann man nicht das griechische, lateinische oder syrische Wort in den Text aufnehmen, sondern muss dafür eine entsprechende hebräische Vokabel oder hebräische Phrase einsetzen. Obwohl sich entsprechende Rückübersetzungen dabei auf spezielle Untersuchungen zu den Übersetzungstechniken stützen können, bleiben sie hypothetisch und lassen fragen, ob sie nicht besser in einem Kommentar aufgehoben seien (Williamson, 168).

2015 ist ein erster Band in der HBCE-Reihe erschienen, der den eklektischen Text des Proverbienbuches mit Apparat, aber ohne Masora, darbietet und die textkritischen Entscheidungen ausführlich kommentiert (Fox, 83-399). Die Qualität ist beeindruckend und die Begründungen für die ausgeführte Textrekonstruktion können in vielen Fällen überzeugen, auch wenn die grundsätzlichen Anfragen an eine eklektische Textausgabe bestehen bleiben. Der Gewinn des Bandes liegt darin, dass insbesondere die Benutzer einer diplomatischen Textausgabe zu einer intensiven textkritischen Diskussion herausgefordert sind.

2. Der mittelalterliche Text des Codex Leningradensis

2.1. Grundsätzliches

Der hebräische Text des Alten Testaments wird im Allgemeinen als Masoretentext (M oder MT) bezeichnet. Die Bezeichnung bezieht sich zum einen auf den durch die Masoreten überlieferten mittelalterlichen Bibeltext mit Verseinteilung, Vokalisation, Akzenten und der am Rand notierten Masora. Zum anderen verwendet man sie für den etwa im 2. Jh. n. Chr. feststehenden Konsonantentext, der im Wesentlichen mit den mittelalterlichen Textzeugen übereinstimmt. Dabei handelt es sich bei dem masoretischen Konsonantentext um eine bereits vereinheitlichte Textform, die sich aus der protomasoretischen Textgruppe (3. Jh. v. Chr. – 1. Jh. n. Chr.; s.u. 3.2.1.) entwickelt und sich als autoritative Textfassung im Judentum durchgesetzt hat (Fischer, 22-27; Brotzman / Tully, 30f). Die Leistung der Masoreten – jüdische Gelehrte des Mittelalters – bestand darin, dass sie diesen autoritativen Text nicht nur durch eine möglichst korrekte Wiedergabe seines Konsonantentextes für die Nachwelt sicherten, sondern auch seinen Textsinn durch ein um 750-1000 n. Chr. entwickeltes Akzent- und Vokalisationssystem sowie durch Lesehilfen (Ketib und Qere; s.u. 2.5.5.) genau festgelegt haben.

Neben den in Babylonien wirkenden Masoreten des Ostens (Or für Orient) entwickelte sich im Westen in Galiläa ein weiteres Zentrum masoretischer Gelehrsamkeit. Zu den in der Stadt Tiberias wirkenden Masoreten des Westens (Occ für Okzident) zählten die beiden Familien Ben-Ascher und Ben-Naftali, die sich über mehrere Generationen mit der Feststellung des überlieferten Konsonantentextes beschäftigt haben. Die von beiden Familien hergestellten Handschriften gelten als besonders zuverlässig. Auch der Codex Leningradensis (L) geht auf eine von Aaron ben Mose ben Ascher korrigierte Textfassung zurück. Er wurde von Samuel ben Jakob um 1008 n. Chr. in Alt-Kairo angefertigt. Am Beispiel dieser Handschrift lässt sich die Textpräsentation der Masoreten beschreiben, deren Kenntnis für die textkritische Arbeit unverzichtbar ist.

2.2. Texteinteilung und Akzente

Für die → Tora überliefern die Masoreten eine durchlaufende Einteilung in wöchentliche Leseabschnitte. Dabei lassen sich zwei verschiedene Systeme unterscheiden. Nach dem jährlichen babylonischen Lesezyklus, der sich seit dem 3. Jh. n. Chr. nachweisen lässt, wird die Tora in 54 Wochenabschnitte eingeteilt, die Paraschen (deutsch: „Abschnitte“) genannt werden. Der Codex Leningradensis markiert ihren Beginn am Rand durch פרש. Nach dem palästinischen Lesezyklus wird die Tora in drei Jahren durchgelesen und dazu in 167 Wochenabschnitte gegliedert. Diese heißen Sedarim (deutsch: „Reihen“) und werden am Rand durch den hebräischen Buchstaben ס Samech (für Seder) gekennzeichnet. Der Codex Leningradensis und andere mittelalterlichen Handschriften führen die Sedarim-Gliederung auch bei den Propheten und Schriften durch, so dass sich eine Einteilung der gesamten Hebräischen Bibel in 452 Sedarim ergibt.

Im Judentum sind den wöchentlichen Lesungen aus der Tora die Haftarot (deutsch: „Abschließungen“) zugeordnet. Darunter versteht man festgelegte Leseabschnitte aus den vorderen und hinteren Propheten, die den Toratexten als abschließende Lesungen folgen.

Neben den wöchentlichen Leseabschnitten bieten die Masoreten eine Einteilung in größere und kleinere Sinnabschnitte, die das Textverständnis unterstützen sollen. Die größeren heißen → Petucha (deutsch: „geöffnet“). Sie werden so genannt, weil an ihrem Ende der Raum bis zum Zeilenende „offen“ bleibt, also nicht beschrieben wird. BHS und BHQ markieren den offenen Sinnabschnitt durch den Buchstaben פ Pe (für Petucha), den sie in die Lücke zwischen Ende und Beginn eines neuen Sinnabschnitts setzen. Die kleineren Sinnabschnitte heißen → Setuma (deutsch: „verstopft“). Sie werden durch einen Zwischenraum innerhalb der Zeile gekennzeichnet. Nach dem Spatium wird die Zeile jedoch weiter beschrieben, sozusagen bis zum Zeilenende „verstopft“. BHS und BHQ kennzeichnen den geschlossenen Sinnabschnitt durch den Buchstaben ס Samech (für Setuma).

Die Sinnabschnitte werden weiter in Verse unterteilt. Dabei scheinen sich die Masoreten auf ältere Überlieferungen zu stützen, zumal schon in einigen Qumranhandschriften erste Ansätze einer Verseinteilung zu beobachten sind (4QDana, 4QtgLev). Im Codex Leningradensis wie auch in anderen mittelalterlichen Handschriften wird das Versende doppelt markiert. Zum einen durch den Akzent Silluq, der bei der letzten betonten Silbe des Verses gesetzt wird, zum anderen durch den Sof Pasuq, einen aus zwei übereinander gesetzten Rauten bestehenden Doppelpunkt.

Aber auch innerhalb eines Verses organisieren die Masoreten eine weitergehende Sinngliederung mit Hilfe des Akzentsystems. Dabei spielen die trennenden Akzente (distinctivi) eine entscheidende Rolle. Sie werden nach der Dauer ihrer Pause in vier Gruppen, bei den poetischen Büchern in drei Gruppen eingeteilt (vgl. die Akzenttafeln der BHQ, abgedruckt in: Fischer, 44f). Die erste Gruppe umfasst jeweils die Haupttrenner: den Silluq am Versende und den Atnah, der den Vers in zwei Hälften teilt (a + b). Bei den poetischen Büchern tritt noch der Doppelakzent Olä wejored als weiterer Haupttrenner hinzu, so dass sich auch Trikola resp. dreigliedrige Verse sachgerecht darstellen lassen (a + b + c). Aus der zweiten Gruppe sind als wichtigste Trenner zu nennen: Segolta und Zaqeph qaton. Sie unterteilen die beiden Vershälften in zwei oder drei Teile (aα + aβ + aγ).

Neben den trennenden Akzenten gibt es auch verbindende Akzente (conjunctivi), die zusammengehörige Wörter und Satzteile anzeigen. Das Akzentsystem dient also nicht nur zur Kennzeichnung betonter Silben, sondern auch zur Festlegung syntaktischer Beziehungen innerhalb eines Verses. Für die Textkritik sind die Akzente insofern bedeutsam, als sie nicht nur das Textverständnis der Masoreten wiedergeben, sondern auch von Fall zu Fall ein durch die Tradition vermitteltes Verständnis des überlieferten Konsonantentextes dokumentieren.

2.3. Vokalisation

Der Textsinn des hebräischen Konsonantentextes wird erst durch seine Aussprache im Einzelnen festgelegt. Da das Hebräische als gesprochene Sprache bereits im 3. Jh. v. Chr. durch das Aramäische abgelöst und seitdem nur noch als heilige Sprache gelesen und geschrieben wurde, sahen sich die Masoreten vor die Aufgabe gestellt, nicht nur den Konsonantentext, sondern auch seine Aussprache zu sichern. Von den drei Vokalisationssystemen, die im frühen Mittelalter erfunden wurden, setzte sich die im Westen entwickelte tiberische Vokalisation durch, bei der die Vokalzeichen unter die Konsonanten gesetzt und damit zwischen die Zeilen geschrieben wurden (infralinear). Das tiberische Vokalisationssystem hatte den Vorzug, dass es nicht nur die Vollvokale, sondern auch die Murmellaute darstellen konnte (Schwa mobile, Schwa quieszens und bei den Laryngalen die Chateph-Laute). Darüber hinaus kennzeichnete es durch einen in den Buchstaben gesetzten Dagesch-Punkt eine geschärfte Aussprache und bei bestimmten, zu den Verschlusslauten gehörenden Konsonanten eine explosive statt einer spirantischen Aussprache.

Für die textkritische Evaluation des vokalisierten Masoretentextes sind verschiedene Gesichtspunkte zu beachten: Erstens stützt sich die Vokalisation auf die mündliche Lesetradition, die jedoch sprachgeschichtlichen Wandlungen unterworfen und deshalb jünger als der überlieferte Konsonantentext einzustufen ist. Zweitens erfordert die Vokalisation und damit die genaue Festlegung der grammatischen Formen ein sprachliches Regelwerk, das erst von den Masoreten geschaffen werden musste. Hinter der Festlegung der Aussprache stehen deshalb nicht nur die älteren Aussprachetraditionen, sondern auch grammatische Regeln. Das bedeutet, dass die Punktatoren in manchen Fällen eine zwar grammatisch korrekte, aber künstliche Vokalisation geschaffen haben. Drittens bietet der Konsonantentext, beispielsweise bei Verbformen und defektiven Schreibweisen, unterschiedliche Lesemöglichkeiten. Zur Textsicherung mussten sich die Masoreten daher zwingend für eine bestimmte Aussprache und damit für einen einzigen möglichen Textsinn entscheiden. Dabei stützten sich die Masoreten auf die rabbinische Auslegungstradition, konnten aber auch von Fall zu Fall eigene exegetische Entscheidungen treffen. Man muss deshalb immer mit der Möglichkeit rechnen, dass hinter der Vokalisation eine bestimmte Auslegung der Masoreten steht.

2.4. Kleine und große Masora

Unter der Masora (deutsch: „Überlieferung“) versteht man bestimmte Hinweise zu einzelnen Wörtern oder Wortverbindungen, die im Wesentlichen dem Schutz ungewöhnlicher Schreibweisen dienen. Diese Hinweise sind im Falle der kleinen Masora (Mp = Masora parva) am Seitenrand notiert, im Falle der großen Masora (Mm = Masora magna) am oberen und unteren Rand. So wird beispielsweise in der kleinen Masora notiert, wenn ein Wort nur ein einziges Mal in der heiligen Schrift vorkommt (Hapaxlegomenon) oder, wenn ein Wort defektiv geschrieben ist, wie oft es in dieser Schreibweise belegt ist. In der Masora magna werden dann dazu alle Belegstellen angegeben, wodurch der gesamte Bibeltext vernetzt und dadurch verhindert wird, dass irgendein Wort im Konsonantentext anders geschrieben werden könnte, als in der Masora magna dokumentiert. Dabei beeindruckt, dass den Masoreten bei ihren Stellenangaben eine kurze hebräische Phrase genügte, um den betreffenden Vers in einem bestimmten Kapitel eines biblischen Buches exakt zu identifizieren. Im Einzelnen sind freilich die Angaben in der kleinen und großen Masora durch die verwendeten Abkürzungen schwer zu entschlüsseln. Der Benutzer ist daher auf die Kommentarteile in der BHQ angewiesen, in der die Abkürzungen aufgelöst und sämtliche Belegstellen nach der modernen Kapitel- und Verszählung angegeben sind.

Die moderne Kapiteleinteilung stammt aus dem 12. Jh. und wurde durch Stephan Langton, dem Erzbischof von Canterbury, in der Vulgata vorgenommen. Die Durchnummerierung der Verse erfolgte im 16. Jh. durch den Pariser Buchdrucker Robert Stephanus. Für die hebräischen Bibelausgaben waren gleichwohl die Editionen des Amsterdamer Buchdruckers Athias von 1661 und 1667 maßgebend. Dessen Kapitelabgrenzung und Verszählung, die in einigen Fällen von Langton und Stephanus abweichen, haben sich allgemein durchgesetzt. Sie wurden auch in die wissenschaftlichen Textausgaben der Biblia Hebraica übernommen und wirkten von dort auf die Kapitelabgrenzung und Verszählung moderner Bibelübersetzungen zurück (Haug, 622f).

2.5. Überlieferung und Korrekturen

Der Codex Leningradensis wie auch andere mittelalterliche Handschriften zeigen einige Besonderheiten in ihrer Textpräsentation, die teils auf den überlieferten Konsonantentext zurückgehen, teils durch die Masoreten eingetragen wurden:

2.5.1. Puncta extraordinaria (außergewöhnliche Punkte)

An 15 Stellen sind über einzelne Buchstaben oder ganze Wörter Punkte gesetzt: Gen 16,5; Gen 18,9; Gen 19,33; Gen 33,4; Gen 37,12; Num 3,39; Num 9,10; Num 21,30; Num 29,15; Dtn 29,28; 2Sam 19,20; Jes 44,9; Ez 41,20; Ez 46,22; Ps 27,13. In einigen Fällen lassen sich diese Punkte als Tilgungszeichen verstehen, in anderen Fällen kennzeichnen sie vielleicht eine vermutete Fehlschreibung.

2.5.2. Nun inversum (umgekehrtes Nun)

Das umgekehrte Nun begegnet im Codex Leningradensis neunmal: Num 10,35 (am Anfang); Num 10,36 (am Ende); Ps 107,21-26; Ps 107,40 (jeweils am Anfang). Im Falle von Num 10,35-36 dient das umgekehrte Nun dazu, durch Einklammerung der Textstelle anzuzeigen, dass sie nicht an ihrem ursprünglichen Platz steht. Die Funktion des Nun inversum bei Ps 107 ist nicht bekannt.

2.5.3. Litterae suspensae (aufgehängte Buchstaben)

Vier Wörter im Codex Leningradensis zeigen einen hochgestellten oder „aufgehängten“ Buchstaben: Ri 18,30; Ps 80,14; Hi 38,13.15. Im ersten Fall handelt es sich um ein hochgestelltes Nun. Nach Ansicht der Masoreten soll es hier eingefügt und danach „Manasse“ anstelle von „Mose“ gelesen werden. In den anderen drei Fällen wird mit dem aufgehängten Buchstaben auf ein mutmaßlich fehlendes Ajin hingewiesen.

2.5.4. Litterae majusculae (vergrößerte Buchstaben)

Vergrößerte Buchstaben können in mittelalterlichen Handschriften in unterschiedlichen Funktionen verwendet werden. Sie können am Beginn eines Abschnitts oder Buches stehen oder dessen statistische Mitte kennzeichnen (z.B. Lev 11,42 als Mitte der Tora). Im Codex Leningradensis wird das „Schema Jisrael“ in Dtn 6,4 durch vergrößerte Endbuchstaben beim ersten und letzten Wort hervorgehoben.

2.5.5. Ketib und Qere (Geschriebenes und zu Lesendes)

Beim Ketib und Qere handelt es sich um ein von den Masoreten angewandtes Verfahren zur Textverbesserung, bei dem die Randvermerke der Masoreten direkt mit dem Konsonantentext vernetzt werden: Am Rand wird ein anderes Wort oder häufiger eine andere Wortform als im Konsonantentext notiert und durch ein daruntergesetztes ק Qof mit diakritischem Punkt als Qere (deutsch: „es ist zu lesen“) ausgewiesen. Die Notation soll anstelle des im Konsonantentext geschriebenen Wortes gelesen werden und damit lautsprachlich das Ketib (deutsch: „es ist geschrieben“) „ersetzen“. Dazu werden die zum Qere-Wort gehörenden Vokale im Konsonantentext beim Ketib-Wort geschrieben, während das am Rand vermerkte Qere-Wort unvokalisiert bleibt. Die Zuordnung des Qere-Wortes wird in der BHS zusätzlich durch einen Circellus (o) markiert, der über das im Konsonantentext geschriebene Bezugswort gesetzt wird. In den über 1300 Fällen, in denen das Ketib-Qere zur Anwendung kommt, wird also der Konsonantentext nicht angetastet, aber eine Korrektur vorgeschlagen oder auch nur eine Variante notiert, die in der Überlieferung oder an einer anderen Bibelstelle vorgefunden wurde.

Ein Sonderfall des Ketib-Qere ist das sogenannte Qere perpetuum. Es betrifft drei Wörter, die in der Biblia Hebraica besonders häufig vorkommen: den Gottesnamen, die Aussprache von Jerusalem und das Personalpronomen 3. Sing. fem. (nur in der Tora). Dabei wird vorausgesetzt, dass das Ketib-Wort mit den Vokalen des Qere-Wortes korrekt gelesen wird, ohne dass das Qere-Wort am Rand extra vermerkt ist. So wird beispielsweise das Tetragramm mit den Vokalen von „Adonaj“ punktiert und danach als „Adonaj“ (deutsch: → „Herr“) gelesen oder mit den Vokalen des aramäischen Wortes „Schema“ versehen und hebräisch als „Ha-Schem“ (deutsch: „der Name“) gelesen.

2.5.6. Sebirin (Meinungen)

Dem Ketib-Qere ähneln zahlreiche Fälle, in denen für ein im Text stehendes und als schwierig empfundenes Wort eine einfachere oder gewöhnlichere Wortform am Rand vorgeschlagen wird, wobei der Randvermerk durch ein vorangestelltes סביר (deutsch: „es ist zu vermuten“) als eine Meinung oder Vermutung gekennzeichnet wird. Die Funktion der Sebirin-Anmerkungen ist allerdings umstritten: Man kann sie so verstehen, dass die als Meinung gekennzeichnete Lesart dort gesetzt wird, wo die im Konsonantentext vorgefundene Lesart als unrichtig angesehen wird (Meyer, § 17.3). Es wird aber auch die entgegengesetzte Auffassung vertreten, dass die Sebirin-Anmerkungen als eine Warnung zu verstehen seien, den Konsonantentext nicht im Sinne der fälschlicherweise vermuteten, am Rand notierten Lesart zu ändern (Tov 1997, 51).

3. Die frühe Textgeschichte der Hebräischen Bibel

3.1. Die Schriftrollen vom Toten Meer

Bis ins 20. Jahrhundert waren die mittelalterlichen Handschriften und Codizes die wichtigsten Textzeugen für die Hebräische Bibel, obwohl sie mehr als 1000 Jahre vom Entstehungszeitraum der alttestamentlichen Bücher trennte. Mit der Entdeckung der Texte in den Höhlen von Qumran und den anderen Fundorten am Toten Meer hat sich die Situation jedoch grundlegend verändert. Es wurden biblische Schriftrollen aus dem 3. Jh. v. Chr. bis 1. Jh. n. Chr. gefunden, die einen Einblick in die frühe Textgeschichte geben (→ Qumran).

3.1.1. Bezeichnung

Jede biblische Schriftrolle aus der Wüste Juda wird nach einem bestimmten System gekennzeichnet: Nummer der Höhle, Fundort (Q = Qumran, Hev = Nahal Hever, Mas = Masada, Mur = Wadi Murabba‘at), Bibeltext (Gen = Genesis, etc., XII = Zwölfprophetenbuch), Unterscheidung der Handschriften eines bestimmten Buches durch hochgestelltes a, b, c. Weitere Kennzeichnungen können hinzutreten (pap = Papyrusfragment, palaeo = althebräische Schrift, LXX = Septuaginta, tg = Targum, p = Pescher, RP = Reworked Pentateuch). Danach bedeutet 4QpalaeoExm: Handschrift „m“ des Exodusbuches in althebräischer Schrift aus Höhle 4 von Qumran. Neben diesem System wurden den Handschriften und Handschriftenfragmenten aus Qumran eindeutige Nummern zugeordnet, um so auch die kleinsten Fragmente in Textausgaben mit numerischer Anordnung schneller auffinden zu können: 4QpalaeoExm = 4Q22 (vgl. dazu die Übersicht bei Fischer, 79 Abb. 6).

3.1.2. Bestand

Unter den Qumran-Handschriften befinden sich rund 200 Bibelhandschriften. Bis auf das Buch Ester sind alle Bücher der Hebräischen Bibel vertreten. Am häufigsten belegt sind Psalmenrollen (36 Exemplare), die teilweise in Reihenfolge und Auswahl vom biblischen → Psalter abweichen und dadurch als liturgische Sammlungen zu erkennen sind (oder zeigen, dass die Reihenfolge der → Psalmen zumindest in Teilen noch schwanken konnte). Den Psalmen folgen das Deuteronomium (30) und das Jesajabuch (21), ferner aus dem Pentateuch die Bücher → Genesis (19-20), → Exodus (17), → Leviticus (13) und → Numeri (7). Nur mit einem Exemplar sind → Esra / Nehemia und die → Chronik vertreten. Von den deuterokanonischen Büchern sind → Tobit, → Baruch und → Sirach belegt. Hinzu kommen die fortlaufenden Kommentare zu biblischen Texten. Sie bestehen aus Bibelzitaten und ihrer dazwischen eingeschobenen Auslegung. Unter den Qumranrollen lassen sich etwa 30 Pescharim zählen, die vornehmlich zu den Prophetenbüchern verfasst worden sind (vgl. Text und Übersetzung von 1QpHab in: Lohse, 227-243). Wichtig für die Textkritik sind außerdem eine Reihe von Texten, die als „rewritten biblical compositions“ bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um paraphrasierende Fortschreibungen biblischer Texte. Manche folgen erkennbar dem biblischen Grundtext, den sie ausdeuten und ergänzen (z.B. 4QRPa-e = 4Q158, 4Q364-367). Andere ent­fernen sich weiter von ihrem biblischen Bezugstext, so dass ihnen nur noch die Behandlung ähnlicher Stoffe gemeinsam ist.

Die Summe der rund 200 Bibelhandschriften darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass kaum mehr als 20 Schriftrollen vollständig erhalten sind. Viele Manuskripte sind nur durch Fragmente und teilweise sogar nur durch wenige Versteile repräsentiert. Alle Bibelhandschriften sind mit Angabe der in ihnen enthaltenen Textstücke im „Handbuch der Textfunde vom Toten Meer“ ausführlich beschrieben. Im Anhang ist ein Bibelstellenregister beigegeben, durch das sich feststellen lässt, welche Bibeltexte durch Qumranhandschriften belegt sind (Lange 2009, 533-559).

3.1.3. Alter

Die Hauptmasse der Qumranhandschriften datiert in einen Zeitraum zwischen dem 1. Jh. v. Chr. und dem 1. Jh. n. Chr. Eine Reihe von Manuskripten aus dieser Zeit zeigt einen bestimmten Schreibstil (qumranische Schreiberpraxis), der auf ihre Beschriftung in der antiken Siedlung von Qumran hinweisen könnte. Es gibt aber auch einige Bibelhandschriften, die bis in das 3. Jh. v. Chr. hinaufreichen. Sie müssen also vor der Gründung der Qumransiedlung entstanden sein. Woher sie stammen – manche denken an die Jerusalemer Tempelbibliothek – und wie sie nach Qumran gekommen sind, lässt sich nicht mehr ermitteln. Für die äußere Textkritik und damit die Bewertung der Textzeugen bietet das Alter einer Handschrift ein wichtiges, aber noch kein ausschlaggebendes Kriterium. Denn eine alte Handschrift kann schlampig oder fehlerhaft ausgeführt sein, während eine junge Handschrift (als Kopie einer älteren zuverlässigen Handschrift) einen besseren Text bewahrt haben kann.

Die ältesten Schriftrollen aus Qumran stammen aus der Mitte des 3. Jh.s v. Chr.: 4QEx–Levf (4Q17), 4QpalaeoDtns (4Q46) und 4QSamb (4Q52). Noch ins 3. Jh. oder bereits ins 2. Jh. v. Chr. gehören: 6QpalaeoGen (6Q1), 6QpalaeoLev (6Q2), 4QExd (4Q15); 4QDtna (4Q28); 4QJera (4Q70); 4QJerb (4Q71); 4QPsa (4Q83); 4QpalaeoJobc (4Q101); 4QQoha (4Q109). Die älteste griechische Handschrift stammt aus dem Beginn oder der Mitte des 2. Jh.s v. Chr.: 4QLXXDtn (4Q122).

3.2. Die Klassifizierung der Handschriften

Kurz nach der Entdeckung und ersten Sichtung der Qumranhandschriften wurde festgestellt, dass die Funde die genaue Überlieferung „des“ Bibeltextes glänzend bestätigen. Das Urteil ist aber in dieser Verallgemeinerung nicht zutreffend: Erstens wurde nur ein wichtiger Hauptstrom der Textüberlieferung, nämlich die masoretische Texttradition, bestätigt. Zweitens stützte sich das Urteil auf knapp die Hälfte der in Qumran gefundenen Bibelhandschriften. Die andere Hälfte bezeugte dagegen Lesarten, die vom Masoretentext deutlich abwichen oder bislang unbekannt gewesen sind. Am Anfang der Qumranforschung wurde freilich diese Hälfte der Textüberlieferung weitgehend vernachlässigt, zumal eine Reihe der betreffenden Manuskripte noch nicht untersucht und publiziert waren. Heute überschaut man den gesamten Textbefund und kann der Frage nachgehen, warum es in diesem Frühstadium der Textgeschichte so viele vom Masoretentext abweichende Lesarten gibt und wie sie sich erklären. Dabei erhärtet sich die Vermutung, dass die Textüberlieferung noch bis ins 2. Jh. n. Chr. im Fluss gewesen ist und man davor nicht mit einem festgestellten, unveränderbaren Text rechnen darf.

Ein wichtiger Schritt zu einem neuen Gesamtbild der frühen Textgeschichte bildet die Klassifizierung aller im Bereich des Toten Meeres gefundener Bibelhandschriften. Danach lassen sich vier Gruppen beschreiben, die jeweils eine bestimmte Texttradition repräsentieren. Dabei orientiert sich die Gruppeneinteilung an dem Grad ihrer Nähe zu den späteren Textzeugengruppen: Masoretentext (M oder MT), Samaritanus (Smr), Septuaginta (G oder LXX). Im Überblick ergibt sich folgendes grobe Raster, in das sich 128 Bibelhandschriften einordnen lassen (vgl. Tov 2002, 153): Ca. 50% der Handschriften stehen dem späteren masoretischen Konsonantentext nahe und bilden die protomasoretische Textgruppe. 5% der Handschriften bieten Lesarten, die sich auch im samaritanischen Pentateuch finden, und gehören damit zur Gruppe der präsamaritanischen Texte. 5% der Handschriften haben Lesarten, die gegen M mit G zusammengehen. Sie lassen sich als hebräische Vorlagetexte einzelner Bücher der Septuagintaübersetzung ansprechen. Zu den restlichen 40% gehören Handschriften, die zahlreiche unabhängige und unbekannte Lesarten bieten und sich keiner der drei benannten Texttraditionen zuordnen lassen. Diese Gruppe umfasst damit Handschriften, die teils einen eigenständigen Text präsentieren, teils einen freien Umgang mit ihren Schriftvorlagen zeigen.

Wie schwierig eine eindeutige Klassifizierung ist, zeigt das prominente Beispiel der Jesajarolle 1QJesa. Sie wurde zunächst der protomasoretischen Gruppe zugeordnet und damit als M nahestehend charakterisiert. Eine genauere Untersuchung konnte jedoch auf eine Vielzahl von Varianten verweisen, die nicht nur auf sprachlichen Eigentümlichkeiten beruhen, sondern auch auf einer aktualisierenden Tendenz. Offenbar war ihr Schreiber nicht nur als Kopist, sondern auch als Schriftgelehrter tätig, der von Fall zu Fall an einer interpretativen Fassung seiner protomasoretischen Textvorlage interessiert gewesen ist (Steck 1998, 18).

3.2.1. Die protomasoretische Textgruppe

Die zu dieser Gruppe gehörenden Handschriften stehen dem masoretischen Konsonantentext nahe, der sich etwa im 2. Jh. n. Chr. als Standardtext im Judentum durchgesetzt hat. Es ist vorstellbar, dass diese Handschriften im Umkreis des Tempels entstanden und gepflegt worden sind. Neben der hohen Übereinstimmung mit dem späteren Standardtext kennzeichnen diese Texte überraschend viele kleine und kleinste Abweichungen von M, zumeist in der Rechtschreibung. Gelegentlich variieren sie aber auch im Satzbau und in ihrer Wortwahl, ohne dass sich dadurch eine wesentliche Sinndifferenz zu M ergibt. Damit ist deutlich, dass die masoretische Texttradition in diesem Textstadium noch einigermaßen im Fluss gewesen ist und der spätere Standardtext als Ergebnis eines Vereinheitlichungsprozesses beurteilt werden muss. Keine der protomasoretischen Handschriften hat den Text eines biblischen Buches so enthalten, wie er dann im masoretischen Konsonantentext festgeschrieben und von den Masoreten übernommen worden ist. Zu der protomasoretischen Textgruppe gehören interessanterweise auch fast alle Handschriften in althebräischer Schrift (abgesehen von 4QpalaeoExm = 4Q22). Insgesamt lassen sich 57 Qumranhandschriften der protomasoretischen Textgruppe zuordnen. Außerhalb von Qumran kommen noch Bibelhandschriften dazu, die aus der herodianischen Festung Masada stammen und in die Zeit um 66-74 n. Chr. datieren.

In der jüngeren Forschung wird vorgeschlagen, die protomasoretische Textgruppe nochmals zu differenzieren, und zwar in Handschriften, die sich nur geringfügig von M unterscheiden (protomasoretisch), und solche, die lediglich eine Nähe zu M aufweisen (semimasoretisch). Die Grenzziehung wird dabei statistisch vorgenommen und auf weniger als 2% bzw. mehr als 2% Abweichungen von M festgelegt. Danach verbleiben nur noch 7 bzw. 8 protomasoretische Handschriften. (In der Übersicht von Lange 2009, 16, wurde 4QGenb nicht aufgeführt.) Diese Differenzierung ist jedoch für die Textkritik nicht zielführend, weil auch kleine und kleinste Abweichungen in die Statistik einfließen, die sich als Varianten zu M deuten lassen und damit der oben vorgenommenen Charakterisierung der protomasoretischen Textgruppe entsprechen. Auch die Bezeichnung „semimasoretisch“ ist problematisch, weil sie das Missverständnis evoziert, dass die Handschriften dieser Gruppe nur zur Hälfte die Lesarten des masoretischen Konsonantentextes bestätigen würden. Das ist nicht der Fall.

3.2.2. Die präsamaritanische Textgruppe

Die Handschriften dieser Gruppe kennzeichnen Gemeinsamkeiten mit dem später entstandenen samaritanischen Pentateuch (Samaritanus). Sie enthalten jedoch noch keine der typisch samaritanischen Lesarten, die sich aus der Loslösung der samaritanischen Gemeinschaft vom Judentum erklären. (Das Schisma lässt sich mit der Zerstörung des Heiligtums auf dem → Garizim und der Eroberung Sichems durch Johannes Hyrkan I. (→ Hasmonäer) um 110 v. Chr. in Verbindung bringen.) So fehlt in ihnen beispielsweise die Einschaltung eines Gebots in den → Dekalog, das im Samaritanus als zehntes Gebot gezählt wird und die Errichtung eines Heiligtums auf dem Berg Garizim anordnet (Dexinger, 111-133). Die präsamaritanischen Texte zeigen mithin ein Stadium, in dem die samaritanische Kultgemeinschaft noch nicht substanziell in die Überlieferung eingegriffen hat. Die Unterschiede zur protomasoretischen Texttradition liegen daher auf einer anderen Ebene: Die präsamaritanischen Manuskripte zeigen eine deutliche Tendenz zur sprachlichen Vereinfachung einerseits und zur inhaltlichen Harmonisierung andererseits. Beispielsweise versuchen sie durch verschiedene Änderungen und Korrekturen, die Darstellung der → Heilsgeschichte im → Deuteronomium enger an die → Exodusfassung anzuschließen und dadurch mögliche Widersprüche im Gesamttext des Pentateuchs auszugleichen. Überraschenderweise hat sich herausgestellt, dass es im 2. Jh. v. Chr. noch weitere Textzeugen gibt, die zwar nicht zur Gruppe der präsamaritanischen Texte zählen, aber sich in ähnlicher Weise um sprachliche Vereinfachungen bemühten und Spannungen zu glätten versuchten (vgl. 4QRPa-e). Man darf deshalb mit der Möglichkeit rechnen, dass die Garizim-Gemeinschaft noch vor dem samaritanisch-jüdischen Schisma auf solche harmonisierende Pentateuchtexte zurückgegriffen und daraus einen Basistext geschaffen hat, aus dem später der samaritanische Pentateuch hervorgegangen ist. Wie dem auch sei, beleuchtet die präsamaritanische Texttradition in einzigartiger Weise die Vorgeschichte des Samaritanus und gibt zweierlei zu erkennen: Erstens stützt sich ihr Basistext auf eine gegenüber der protomasoretischen Textgruppe eigenständige Texttradition. Zweitens erklären sich die meisten Abweichungen vom jüdischen Masoretentext nicht als nachträgliche Korrekturen, sondern durch die Eigenart einer im 2. Jh. v. Chr. geübten Schreiberpraxis, die den Bibeltext unmittelbar verständlich und ohne größere Widersprüche überliefern wollte. Zur Gruppe der präsamaritanischen Texte zählen 5 Handschriften: 4QpaläoExm (4Q22), 4QEx-Levf (4Q17), 4QLevd (4Q26), 4QNumb (4Q27), 4QDtnn (4Q41).

3.2.3. Die Vorlagetexte der Septuaginta

Die Handschriften dieser Gruppe (→ Septuaginta) sind für die frühe Textgeschichte insofern von herausragender Bedeutung, als sie einen lange anhaltenden Streit entscheiden. Vor den Qumranfunden konnte nämlich nicht geklärt werden, ob die teilweise erheblich vom Masoretentext abweichende griechische Überlieferung – beispielsweise im Jeremiabuch oder in den Samuelbüchern – ihren Übersetzern anzulasten ist oder auf hebräische Vorlagetexte zurückgehen, die sich von der masoretischen Texttradition unterscheiden. Letzteres ist der Fall. Das bedeutet, dass sich die Septuagintatexte tatsächlich auf eine eigenständige frühe hebräische Textversion zurückführen lassen. Bei den Samuelbüchern scheint die griechische Fassung sogar zuverlässiger zu sein als der teilweise schlecht überlieferte Masoretentext (vgl. 4QSamb = 4Q52). Leider haben sich solche der Septuaginta nahestehenden hebräischen Texte nur in geringem Umfang in Qumran gefunden, so dass sich das Verhältnis dieser Textgruppe zur Septuaginta nur begrenzt erforschen lässt. Auch wurde bislang kein einziges hebräisches Manuskript entdeckt, das sich eindeutig als die eine Textvorlage einer Septuagintaübersetzung identifizieren lässt. Das ist allerdings auch kaum verwunderlich. Denn die Übersetzung der griechischen Bibel erfolgte Buch für Buch, und zwar aus Einzelmanuskripten (single copies), so dass es schon einen glücklichen Zufall darstellen würde, wenn gerade eine solche Handschrift erhalten geblieben wäre. Zwei Schlussfolgerungen lassen sich aus dem Befund ziehen: Erstens gewinnt die Septuaginta durch die mutmaßlichen hebräischen Textvorlagen zusätzlich an Glaubwürdigkeit als Textzeugin. Zweitens ist damit wahrscheinlich, dass in diesem frühen Stadium der Texteditionen nicht nur eine einzige, sondern unterschiedliche Fassungen des Bibeltextes existierten. Zu den Vorlagetexten der Septuaginta gehören: 4QExb (4Q13), 4QLevd (4Q26), 4QDtnq (4Q44), 4QSamb (4Q52), 4QJerb (4Q71), eingeschränkt auch 4QSama (4Q51), 4QJerd (4Q72a).

3.2.4. Freie und unabhängige Texte

Zu dieser Gruppe gehören in gewisser Weise alle diejenigen Handschriften, die sich nicht eindeutig eine der drei bereits beschriebenen hebräischen Texttraditionen zuordnen lassen und deren Schreiber einen freieren Umgang mit ihren Textvorlagen praktizierten. Ihre Kennzeichen sind einerseits die wechselweise Bezeugung von Lesarten, die mit dem Masoretentext, dem Samaritanus oder den Vorlagetexten der Septuaginta zusammengehen, und das ohne erkennbaren Grund. Andererseits finden sich in ihnen zahlreiche unabhängige und unbekannte Lesarten. Das zuletzt genannte Merkmal macht diese Gruppe für die Textkritik besonders bedeutsam, und zwar in zweifacher Hinsicht: Erstens können in ihr tatsächlich auch ältere oder ursprüngliche Lesarten bewahrt worden sein. Zweitens bezeugen sie eine Vielfalt von unterschied­lichen Textfassungen biblischer Bücher und widerlegen dadurch mindestens für die vormasoretische Textgeschichte – also für die frühe Phase (!) der Textentwicklung – die These eines dreifachen Stroms der Schriftüberlieferung (M, Smr, G). Im Einzelfall ist freilich schwer zu entscheiden, ob sich in den Abweichungen frei erfundene Varianten oder ältere Lesarten widerspiegeln. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass es sich bei vielen dieser Texte um sogenannte „Vulgärtexte“ handelt. Darunter versteht man „inoffizielle“ Texte, die weit verbreitet waren und deren Schreiber sich viele Änderungen und Verbesserungen in den Text einzutragen erlaubten. Die Deponierung dieser freien unabhängigen Texte in den Qumranhöhlen bedeutete schließlich die Stilllegung ihrer Textfassungen. Sie konnten auf die weitere Textentwicklung keinen Einfluss mehr nehmen.

3.3. Ein Modell der frühen Textgeschichte

Die vorgenommene Klassifizierung der Bibelhandschriften gibt zu erkennen, dass die bekannten drei Texttraditionen (M, Smr, G) nicht am Anfang der Textgeschichte stehen, sondern als das Ergebnis einer Entwicklung darzustellen sind, die eine Vereinheitlichung ihrer Textformen innerhalb des betreffenden Traditionsstroms erreichen konnte. Dabei brachten die Qumranfunde ans Licht, dass es sich auch beim masoretischen Konsonantentext um einen bereits vereinheitlichten und schließlich im 2. Jh. n. Chr. standardisierten Text handelt. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels waren die Tradenten offenbar darauf bedacht, die Anzahl orthographischer Abweichungen und inhaltlicher Textvarianten zu verringern. Als Beleg dafür lässt sich die in Murabba‘at gefundene Zwölfpropheten-Rolle (MurXII) anführen, die aus dem 2. Jh. n. Chr. stammt und fast vollständig den mittelalterlichen Konsonantentext widerspiegelt. Dagegen zeigen die frühen protomasoretischen Texte untereinander noch eine relativ hohe Zahl an Unterschieden, die sich in der Regel auf abweichende Schreibweisen und – bei inhaltlichen Differenzen – auf einzelne Wörter oder Phrasen beschränken.

Für die frühe Textgeschichte mit ihrer Vielfalt unterschiedlicher Textversionen ist deshalb folgendes Entstehungsmodell anzunehmen (vgl. Tov 1997, 133-135; Fischer, 86-89 mit Abb. 8): Für jedes biblische Buch wie auch für jedes Textcorpus (z.B. Tora, Zwölfprophetenbuch) gibt es eine Phase der produktiven Textgestaltung, die seine Abfassung, Bearbeitung, Fortschreibung und Aktualisierung umfasst. Diese Phase kommt jedoch nicht abrupt zum Ende, sondern findet erst allmählich seine abgeschlossene Form. Deshalb ist bei dem Prozess der Veröffentlichung mit einem Übergabezeitraum etwa zwischen dem 4. und 2. Jh. v. Chr. zu rechnen, in dem ein biblisches Buch oder Textcorpus durch Abschriften publiziert wird, obwohl es noch nicht seine endgültige Form erreicht hat. Mithin vermehren solche Abschriften die Textversionen, wie die Handschriftenfunde vom Toten Meer belegen. In der Konsequenz bedeutet dies für die frühe resp. vormasoretische Textgeschichte: Es gibt nicht den einen „Urtext“ eines biblischen Buches oder Textcorpus, sondern „Urtexte“ bzw. Editionen in einer gewissen Bandbreite, die aus dem Übergabebereich hervorgegangen sind. Oder noch einmal anders formuliert: Die Phase des produktiven Textwachstums kommt erst langsam zum Erliegen, während die Phase schriftlicher Über­lieferung bereits eingesetzt hat und eine Vielzahl von Text­fassungen (textual variety) mit sich bringt. In diese Richtung weisen jedenfalls die zur Gruppe der unabhängigen Texte gehörenden Textzeugen, die immerhin ca. 40% der in Qumran und Umgebung aufgefundenen Bibelhandschriften ausmachen.

Die skizzierte Entwicklung war zu Anfang noch überschaubar und deshalb nicht problematisch. Für die weitere Überlieferung, Bewahrung und Verwendung biblischer Schriften war sie allerdings weder wünschenswert noch zweckdienlich, weil man einmal in Umlauf gesetzte Abschriften nicht mehr zurückziehen konnte. Es wurde deshalb notwendig, die Diffusion der Textüberlieferung mehr und mehr einzudämmen. Verantwortlich dafür waren die Gruppen der Tradenten, also die Schreiber der Kultgemeinschaften, die sich an ihre Texttradition hielten. Diese bedeutsame Zwischenstufe der frühen Textgeschichte ist die Voraussetzung dafür, dass sich jeweils ein einheitlicher hebräischer, samaritanischer und griechischer Bibeltext herausbilden konnte. Das bedeutet in grober Vereinfachung: Der heute vorliegende Masoretentext ist nicht mit dem sogenannten „Urtext“ gleichzusetzen. Er ist vielmehr das Ergebnis eines Vereinheitlichungsprozesses, der durch die rabbinischen Tradenten bewerkstelligt wurde und etwa im 2. Jh. n. Chr. zu einem Standardtext führte, der autoritatives Ansehen gewinnen konnte. Für die Textkritik bedeutet das, dass der Masoretentext nicht anders als die übrigen Textzeugen zu behandeln ist, wenn es darum geht, einen älteren, zuverlässigen, an das Ende der produktiven Textgestaltung heranreichenden und ggf. als frühe Edition existierenden Textes (archetypal text) wiederherzustellen.

4. Die Methode der Textkritik

4.1. Aufgabe und Ziel

Die Textkritik ist ein methodisches Verfahren, das die Textüberlieferung eines literarischen Werkes überprüft, Textfehler identifiziert und berichtigt. Das Verfahren wird auf biblische Schriften in gleicher Weise angewendet wie auf antike Texte (z.B. Werke von Homer oder Platon). Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass die Zahl der den Bibeltext bezeugenden Manuskripte und Übersetzungen den Bestand an Textzeugen antiker Schriften um ein Vielfaches übersteigt. Insbesondere die textkritische Arbeit am Alten Testament ist eine sehr komplexe Angelegenheit, weil sie es nicht nur mit der hebräischen Textüberlieferung zu tun hat, sondern auch mit den verschiedenen Übersetzungen, deren Text sie feststellen und daraufhin befragen muss, welche Rückschlüsse auf einen hebräischen Ausgangstext gezogen werden können. Sie muss sich deshalb auch mit der je eigenen Textgeschichte der griechischen Übersetzungen (→ Septuaginta), der lateinischen (→ Vulgata), syrischen (Peschitta) und aramäischen Übersetzungen (Targum) befassen.

Die Aufgabe der Textkritik besteht darin, durch Vergleichung und Gewichtung der Textzeugen (äußere Textkritik; s.u. 5.3.) und durch Identifizierung von Lese- und Schreibfehlern sowie absichtlichen Änderungen (innere Textkritik; s.u. 5.4.) die Textüberlieferung zu prüfen, die im Vollzug des Abschreibens entstandenen Textfehler und Abweichungen rückgängig zu machen und zur Kontrolle der textkritischen Entscheidungen die Entstehung der Varianten zu erklären. Auf eine kurze Formel gebracht lautet die Aufgabe: „Herstellung des ursprünglichen Textes“ (Jepsen, 332). Damit ist die Textkritik auf das Ziel ausgerichtet, einen zuverlässigen und wissenschaftlich verantworteten Text herzustellen, der annäherungsweise einem vormals vorhandenen, aber nicht überlieferten „Urtext“ entspricht. Die Rede von einem ursprünglichen Text resp. Urtext – und sei es auch nur im Sinne eines Postulats – wird jedoch in der neueren Diskussion eher vermieden, weil sie das Missverständnis befördert, als habe es bei den alttestamentlichen Schriften wie in der modernen Autorenliteratur einen originalen, vom Verfasser selbst festgelegten und autorisierten Urtext gegeben. Dies ist nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich bei den Büchern des Alten Testaments um Traditionsliteratur. (So sind beispielsweise Jesaja, Jeremia, etc. nicht Autoren, sondern Namensgeber der betreffenden Prophetenbücher.) Danach durchläuft jedes biblische Buch resp. seine Urfassung eine Phase produktiver Textgestaltung (literary growth), in der sein Text bearbeitet, fortgeschrieben, erweitert oder auch umgestaltet wird. Mit diesen Textphänomenen beschäftigen sich die Literarkritik und Redaktionsgeschichte (→ Bibelauslegung, historisch-kritische). Dagegen bezieht sich die textkritische Arbeit am Alten Testament auf diejenige abgeschlossene Textgestalt, die eine biblische Schrift oder Schriftengruppe durch ihre End- oder Schlussredaktion erhalten hat und anschließend durch Edition zum Traditum der Textgeschichte (textual transmission) geworden ist. Ziel der Textkritik ist somit die Wiederherstellung derjenigen Textgestalt, die ein biblisches Buch am Ende seines produktiven Textwachstums erreicht hat, wobei dieser redaktionelle Endtext – wenn man so will – dem „Urtext“ entspricht resp. dem am Beginn der Textgeschichte stehenden, frühest erreichbaren Ausgangstext (vgl. Hendel, 329: „the textual ‘archetype’, by which I mean the ‘earliest inferable textual state’“.)

Die angenommene Zäsur zwischen dem Ende des produktiven Textwachstums und dem Beginn einer sich verfestigenden Textüberlieferung ist zwar hilfreich, um das Aufgabengebiet der Textkritik gegenüber der Literarkritik und Redaktionsgeschichte abzugrenzen, aber nicht unproblematisch (Fischer, 196f). Denn nach dem oben skizzierten Modell der frühen Textgeschichte ist davon auszugehen, dass die Übergänge von der Endredaktion zur Textüberlieferung fließend sind und demzufolge in einem gewissen Übergabebereich manche Texte oder Textteile eines biblischen Buches in mehr als einer Edition vorliegen (vgl. beispielsweise Richter, 1. und 2. Samuel, 1. und 2. Könige, Jeremia, Ezechiel, Daniel). In diesen Fällen darf sich die Textkritik nicht auf die Herstellung einer einzigen abgeschlossenen literarischen Textkomposition beschränken, sondern muss die jeweils ältere und jüngere Ausgabe textlich feststellen und ihre Textgestalt für die weitere Untersuchung durch die Literarkritik und Redaktionsgeschichte bereitstellen (Schenker 2003, 203).

Der redaktionelle Endtext eines biblischen Buches, der hier als Ziel der Textkritik definiert wird und wiederherzustellen ist, darf nicht mit dem kanonischen Endtext verwechselt werden. Dieser hat in der Textüberlieferung bereits einen Prozess der Vereinheitlichung durchlaufen, bis er seinen auf den Kanon bezogenen Gesamttext etwa im 2. Jh. n. Chr. erreicht hat und als eine normative Größe feststeht. Die Beschränkung beispielsweise auf die Wiederherstellung des autoritativ festgestellten resp. kanonischen Masoretentextes kann für die Textkritik keine Option sein, weil sie dann den gesamten Prozess der frühen Textgeschichte (3. Jh. v. Chr. – 2. Jh. n. Chr.) ausblenden müsste. Damit würde sich die Textkritik einseitig auf eine bestimmte Texttradition festlegen und die in sie eingeflossenen Textverderbnisse und sinnverändernden, ggf. auch antisamaritanischen Korrekturen sanktionieren.

4.2. Lese- und Schreibfehler

Es gibt unterschiedliche Ursachen, die im Prozess des Abschreibens zu versehentlichen Textfehlern oder auch zu Textverderbnissen führen: Ein Wort wird vergessen, vertauscht, ersetzt oder verkehrt geschrieben. Durch Müdigkeit, Unachtsamkeit, Schnelligkeit oder Ablenkung des Kopisten kommt es zu fehlerhaften Schreibungen. Aber auch die Textvorlagen können in einem so schlechten Zustand sein, dass manche Wörter durch die Kopisten erraten werden müssen und ggf. dadurch entstellt werden. Erfolgt die Niederschrift durch Diktat, können sich Fehler durch ungenaues Zuhören einschleichen und dadurch weitere Missverständnisse verursachen. Obwohl oft der Zufall im Spiel ist, belegt die Textgeschichte eine Reihe typischer Lese- und Schreibfehler, die auch bei unterschiedlichen Kopisten immer wieder zu ähnlichen Verschreibungen führen. In methodischer Hinsicht ist die Kenntnis solcher Fehlerquellen notwendig, um mögliche Textfehler identifizieren zu können. Eine Klassifizierung solcher häufig vorkommender, mechanischer Schreibversehen hat Friedrich Delitzsch vorgelegt (Die Lese- und Schreibfehler im Alten Testament, Berlin 1920). Das Werk ist zwar in seinen Einzelentscheidungen veraltet, aber in Hinsicht auf seine Zusammenstellung der Fehlerklassen noch immer nützlich.

4.2.1. Verwechslung graphisch ähnlicher Buchstaben und Buchstabengruppen

In der hebräischen Quadratschrift ähneln sich eine Reihe von Buchstaben. Sie können leicht verwechselt werden, insbesondere wenn die Buchstaben im Vorlagetext ungenau geschrieben oder ihre Konturen durch Abrieb oder Beschädigung des Manuskripts nicht mehr deutlich erkennbar sind. Häufig belegt sind Verwechslungen von ב und כ (Bet / Kaph), ד und ר (Daled / Resch), ה und ת / ח (He / Het / Taw), ו und י (Waw / Jod), ע und צ (Aijn / Sade), יו und ה (Jod-Waw / He), וי und מ (Waw-Jod / Mem).

4.2.2. Verwechslung phonetisch ähnlicher Buchstaben

Im Hebräischen wie auch in anderen semitischen Sprachen können vor allem Kehllaute (Guturale) und Lippenlaute (Labiale) aufgrund ihres ähnlichen Klangs verwechselt werden. Grund für die Verwechslung kann ein Hörfehler sein. Es ist aber auch damit zu rechnen, dass ein Schreiber seinen Vorlagetext vor Augen hatte, sich bei der Niederschrift den Text laut vorsagte und dabei den ähnlich klingenden, aber falschen Buchstaben in das Manuskript eintrug. Häufig verwechselt werden die Kehllaute א und ע (Aleph / Ajin), die Lippenlaute (in weicher Aussprache) ב und פ (Bet / Pe), die Gaumenlaute (in harter Aussprache) כּ und ק (Kaph / Qoph) sowie die Zischlaute שׂ / ס / ז und שׁ (Zajin / Samech / Sin / Schin).

4.2.3. Umstellung von Buchstaben (Metathese)

Ohne graphische oder phonetische Ähnlichkeit kommt es immer wieder zur fehlerhaften Vertauschung von Buchstaben innerhalb eines Wortes, die umgangssprachlich als Buchstabendreher bezeichnet werden. Beim hebräischen Konsonantentext kann eine solche Metathese entweder durch gedankenloses Abschreiben verursacht werden oder durch ein dem Buchstabendreher entsprechendes Parallelwort beeinflusst sein.

4.2.4. Einfachschreibung (Haplographie)

Zu den typischen Flüchtigkeitsfehlern gehört die Auslassung eines von zwei gleichen Buchstaben, Buchstabengruppen oder Wörtern, die unmittelbar aufeinander folgen. Dieser Fall kann auch bei einander ähnlichen Buchstaben oder Buchstabenfolgen auftreten.

4.2.5. Doppelschreibung (Dittographie)

Der umgekehrte Fall der Einfachschreibung ist die versehentliche Doppelschreibung von Buchstaben, Buchstabengruppen oder Wörtern.

4.2.6. Auslassung bei gleichlautendem Wortende (Homoioteleuton)

Auslassungen in einem Text können rein zufallsbedingt sein, sodass sie sich ohne Textzeugen nicht verifizieren lassen. Es gibt aber auch Fälle, in denen Auslassungen durch den abzuschreibenden Text befördert werden. Recht häufig beruhen solche Auslassungen auf dem gleichlautenden Ende eines Wortes, das im Kontext noch einmal vorkommt. Beim Abschreiben springt das Auge des Schreibers vom ersten zum zweiten gleichlautenden Wortende (aberratio oculi). Der gesamte dazwischen stehende Text wird übersprungen und die Abschrift nach dem zweiten gleichlautenden Wortende fortgesetzt. Auslassungen, die auf einem solchen Irrtum beruhen, sind in einigen Bibelhandschriften dadurch dokumentiert, dass ihr Schreiber oder ein Korrektor den Fehler bemerkt und den fehlenden Text zwischen den Zeilen nachgetragen hat.

Die erste Jesajarolle aus Qumran (1QJesa) bietet in Jes 40,7-8 folgenden Text: „... die Blume verwelkt, [wenn der Sturmwind des HERRN darüber bläst. Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt,] aber das Wort unseres Gottes bleibt für alle Zeit bestehen.“ Der in eckigen Klammern stehende Text fehlte zunächst in der Handschrift und wurde später in unschöner Schrift zwischen den Zeilen und am linken Rand der Kolumne nachgetrage­n. Der Textfehler ist offensichtlich durch das Abirren des Auges verursacht, das vom ersten „die Blume verwelkt“ zum zweiten sprang.

4.2.7. Auslassung bei gleichlautendem Wortanfang (Homoioarkton)

Der gleiche Fall einer Auslassung durch Abirren des Auges kann auch durch gleichlautende Wort- oder Satzanfänge bedingt sein.

4.2.8. Fehlerhafte Worttrennung oder Wortverbindung

In der Quadratschrift werden die Wörter in der Regel durch Zwischenräume voneinander getrennt. Da die Kolumnenbreite in den Handschriften festgelegt ist, muss von Fall zu Fall eine bestimmte Wortfolge in einer Zeile untergebracht werden. Dadurch können die Wortzwischenräume manchmal sehr gering ausfallen, sodass nicht mehr sicher zu erkennen ist, wo ein Wort endet und ein neues beginnt. Aber nicht nur zu geringe Wortabstände verursachen beim Abschreiben fehlerhafte Worttrennungen oder -verbindungen. Auch Flüchtigkeit des Kopisten oder mangelndes Textverständnis können dazu führen, dass zwei aufeinander folgende Wörter an der falschen Stelle getrennt oder im umgekehrten Fall zwei einzelne Wörter fehlerhaft zusammengeschrieben werden.

4.2.9. Fehler durch Vokalbuchstaben

Im Hebräischen können bestimmte Konsonantenzeichen wie Waw und Jod, teilweise auch Aleph und He zur Andeutung von Vokalen verwendet werden (matres lectionis). Da die hebräischen Texte bis ins Mittelalter ohne Punktation wiedergegeben werden, kommen solche Lesefehler immer dann in Betracht, wenn ein als Vokalzeichen gedachter Buchstabe als ein Stammkonsonant missverstanden werden kann.

Die Kenntnis solcher typischen Fehlerquellen hilft nicht nur bei der Feststellung von versehentlichen Textfehlern. Sie leistet auch einen wichtigen Dienst bei der Kontrolle einer getroffenen textkritischen Entscheidung, indem sie von Fall zu Fall abweichende und zugleich gut bezeugte Lesarten als Lese- oder Schreibfehler zu identifizieren hilft und damit ihre Entstehung erklären kann. Weiterführende Informationen mit Textbeispielen finden sich in den Lehrbüchern (vgl. Tov 1997, 192-214; Fischer, 205-209; Brotzman / Tully, 118-125; zu den Fehlerquellen in griechischen Handschriften vgl. Quast, 194-207).

4.3. Absichtliche Textänderungen

In der frühen Textgeschichte wurde (noch) nicht der exakte Wortlaut einer biblischen Schrift oder Schriftengruppe, sondern ihr Inhalt als autoritativ betrachtet. Manche Schreiber pflegten deshalb einen freieren Umgang mit ihren Textvorlagen und konnten deshalb auch kleine Veränderungen am Text vornehmen, wenn sie dadurch den Inhalt „besser“ zum Ausdruck gebracht sahen. Bei solchen Lesarten handelt es sich darum nicht um „Textfehler“ im eigentlichen Sinn, sondern um bewusste und ggf. sinnfällige Änderungen. Schreiber, die in dieser Weise von ihrem Ausgangstext abwichen, vermehrten demzufolge auch die Anzahl der Varianten in der Textüberlieferung. Gegenüber den auf einem mechanischen Versehen beruhenden Lese- und Schreibfehler sind solche absichtlichen Textänderungen schwerer zu erkennen, weil sie für gewöhnlich keine Unebenheit im Text hinterlassen haben. Gleichwohl lassen sich die dahinter stehenden Motive über die Eigenart der Schreiber hinweg klassifizieren. In methodischer Hinsicht kann die Kenntnis der unterschiedlichen Gründe dazu beitragen, bewusst vorgenommene Veränderungen aufzuspüren und die Abweichungen von ihrem Ausgangstext zu erklären.

4.3.1. Angleichung an den üblichen Wortschatz

Biblische Schriften, die durch Veröffentlichung (Edition) und Vervielfältigung (Kopie) in Umlauf gebracht wurden, sind für ein Publikum bestimmt. Ihr Text soll nicht nur gelesen bzw. vorgelesen, sondern auch verstanden werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, dass im Prozess des Abschreibens hier und dort ein schwieriges durch ein einfacheres Wort ersetzt werden konnte, um den Text den sprachlichen Bedürfnissen seiner Hörer anzupassen. Dies betrifft insbesondere Wörter, die in den alttestamentlichen Schriften und damit im Biblischen Hebräisch nur ein einziges Mal belegt sind (→ Hapaxlegomenon). Solche Wörter, deren exakte Bedeutung heute kaum noch bestimmt werden kann, waren schon damals schwer verständlich. Begegnet in der Textüberlieferung ein solches Hapaxlegomenon, ein ungewöhnliches Wort oder eine seltene Wortbedeutung, während die Versionen dafür eine geläufige Vokabel bieten, ist mit einer Angleichung an den üblichen Wortschatz zu rechnen. In diesen Fällen hat sich die Textkritik für die schwierigere Lesart (lectio difficilior) zu entscheiden.

4.3.2. Grammatische Änderung

Gelegentlich begegnen in den biblischen Texten auch schwierige oder grammatisch ungewöhnliche Formulierungen, die den Schreibern Anlass boten, vermeintlich fehlerhafte Formen zu korrigieren. Darunter fallen besonders die Inkongruenzen, bei denen Subjekt und Prädikat in Numerus oder Genus voneinander abweichen. Aber auch andere Erscheinungen gehören hierher wie beispielsweise die nachträgliche Einfügung des Relativpronomens (אשׁר ’šr) in eine als zweifelhaft empfundene Satzkonstruktion.

4.3.3. Stilistische Änderung

In der Regel zielen stilistische Korrekturen auf einen flüssig lesbaren und gut verstehbaren Text. Dabei werden Veränderungen an Wortformen, Wörtern und Wendungen vorgenommen, wenn sie nach Auffassung des Schreibers besser in den Satz- und Sinnzusammenhang passen. Bewusste und intuitive Änderungen lassen sich dabei nicht immer auseinanderhalten. Zu nennen sind beispielsweise die Ersetzung einer Qalform durch die gebräuchlichere Hifilform oder des Infinitivus absolutus durch einen Imperativ. Häufig werden auch kleine Wörter wie ו „und“, כל „alle“, אחד „einer“, עתה „jetzt“, לאמר „[Redeeinleitung]“ in den Text eingeschoben, die nicht nur dem stilistischen Empfinden des Schreibers geschuldet sind, sondern auch seine Absicht verraten, den Textsinn in eine bestimmte Richtung zu lenken. In vielen Fällen sind solche auf Verdeutlichung zielende Lesarten als bewusste Textverbesserungen zu erkennen.

4.3.4. Beeinflussung durch Parallelstellen (Harmonisierung)

Je genauer ein Kopist mit dem Inhalt biblischer Schriften vertraut war, desto stärker ist auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass er sich beim Abschreiben an eine Parallelstelle erinnerte und sich durch diese beeinflussen ließ. Solche Anpassungen an ähnliche Textstellen im engeren und weiteren Kontext oder an doppelt überlieferte Abschnitte im Alten Testament werden auch als Harmonisierung bezeichnet. Viele Harmonisierungen – wie beispielsweise in den präsamaritanischen Texten – wurden ganz bewusst vorgenommen, andere scheinen auch nebenbei in die Abschriften eingeflossen zu sein.

4.3.5. Beseitigung von Anstößigem (Euphemismus)

Manche biblischen Texte ent­halten Stellen, die ein Schreiber als anstößig betrachten konnte oder dem sittlich-religiösen Empfinden der jüdischen Gemeinde nicht zumuten wollte. Um den Anstoß zu beseitigen, wird ein als unangenehm empfundenes Wort durch eine abmildernde oder verhüllende Umschreibung wiedergegeben oder durch einen beschönigenden Ausdruck ersetzt (→ Euphemismus). Manche Euphemismen begegnen im Bereich der → Sexualität, andere betreffen Formulierungen, die sich direkt auf Gott beziehen. Da Euphemismen als literarische Ausdrucksmittel auch sonst in den biblischen Schriften verwendet werden, sind sie nur dann Gegenstand der Textkritik, wenn sie in die Phase der Textüberlieferung gehören und offensichtlich eine ältere Lesart ersetzen sollen.

4.3.6. Dogmatische, ideologische oder nomistische Korrektur

Den euphemistischen Änderungen stehen die dogmatischen Korrekturen nahe, die aus theologischen Gründen in den überlieferten Text eingreifen. Von ideologischen Änderungen wird besonders im Zusammenhang mit dem samaritanischen Pentateuch gesprochen. In ihm finden sich eine Reihe von Textstellen, die aus samaritanischer Sicht die Erwählung der zentralen Kultstätte Jahwes mit dem Berg Garizim verbinden. Hierher gehört auch die Umwandlung der deuteronomistischen Formel „der Ort, den Jahwe erwählen wird“ in die Vergangenheitsform. Dadurch ließen sich Textstellen, die auf die künftige Erwählung → Jerusalems zielten, auf die schon in der Vätergeschichte erwähnte Kultstätte von → Sichem und im Anschluss daran auf den bei Sichem auf dem → Garizim errichteten Tempel der Samaritaner beziehen (vgl. Ex 20,24; Dtn 12,5). Wiederum anders verhält es sich mit Korrekturen, hinter denen ein wachsender Einfluss der in der → Tora enthaltenen Gesetzgebung zu erkennen ist. Danach erklären sich manche Bemühungen der Schreiber, bestimmte Textstellen mit den gesetzlichen Ausführungen der Tora in Übereinstimmung zu bringen. Solche Änderungen lassen sich dann als nomistisch bezeichnen.

4.3.7. Änderung infolge einer Fehlinterpretation

Hin und wieder lässt sich beobachten, dass ein Schreiber ein Wort oder eine Wendung falsch versteht. Hat er im Vollzug des Abschreibens eine (fehlerbedingte) Sinnentstellung des Textes bemerkt, aber nicht die Ursache dafür erkannt, kann es vorkommen, dass er selbst den vermeintlichen Sinn zu erraten oder einen besser verständlichen Text herzustellen versucht. Im Ergebnis sieht es dann so aus, als ob zwei voneinander unabhängige Varianten existierten. Lässt sich jedoch eine der beiden Lesarten als eine durch einen Fehler oder ein Missverständnis hervorgerufene und bewusste Verbesserung erklären, ist sie damit als sekundär identifiziert.

4.3.8. Erklärende Zusätze und Glossen

Einen Grenzfall der Textkritik bilden die Glossen. Unter einer Glosse versteht man die Erläuterung eines erklärungsbedürf­tigen Ausdrucks, die entweder in den Text geschrieben (Interpolation), zwischen die Zeilen gesetzt (Infralinearglosse) oder am Rand vermerkt wurde (Marginal­glosse). Allgemein gesprochen bezeichnet man sie auch als erklärende Zusätze (add = additum). Solche Zusätze können vom Verfasser selbst stammen oder auch von Redaktoren eingefügt worden sein, die beispielsweise einen Ortsnamen näher erläutern wollten. Nach der oben gezogenen Grenzlinie zwischen den Methodenschritten gehören dann solche Glossen in das Gebiet der Redaktionsgeschichte (vgl. Jes 6,13bβ). Die Textkritik befasst sich nur mit denjenigen Fällen, in denen eine Infralinear- und Randglosse im Vollzug des Abschreibens – versehentlich oder absichtlich – in den Text hineingezogen wurde. Solche Fälle lassen sich textkritisch identifizieren, insbesondere dann, wenn die Glossen syntaktisch ungeschickt eingeführt, an unpassender Stelle eingesetzt oder durch ihre der Textintention widersprechende Erläuterung als späterer Zusatz zu einem bereits abgeschlossenen Text zu erkennen sind.

Die unterschiedlichen Klassen absichtlicher Textänderungen dienen dazu, ein vorliegendes Textproblem daraufhin zu befragen, ob es sich durch die Annahme einer absichtlichen Korrektur erklären lässt. In allen Fällen, bei denen sich Varianten auf bewusste Texteingriffe zurückführen lassen, handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um sekundäre Lesarten. Weiterführende Informationen mit Textbeispielen finden sich in den Lehrbüchern (vgl. Tov 1997, 214-238; Fischer, 209-217; Brotzman / Tully, 126-129).

5. Die Durchführung der Textkritik

5.1. Die Arbeitsschritte der Textkritik

Obwohl in den Kommentaren und exegetischen Abhandlungen zum Alten Testament häufig nur einzelne, besonders relevante Aspekte aus der textkritischen Untersuchung notiert werden, gehören zur Textkritik sechs Arbeitsschritte, die bei jedem einzelnen Textproblem durchzuführen sind (Fischer, 232 Abb. 12):

Vorbereitung (deskriptiv)

1. Dechiffrierung des textkritischen Apparats;

2. Beschreibung des Textproblems mit Übersetzung der Varianten;

Durchführung (analytisch)

3. äußere Textkritik: Sichtung der Textzeugen, Ordnung in Zeugengruppen, Gewichtung und Abwägung der Textzeugen bzw. Textzeugengruppen;

4. innere Textkritik: sprachliche und sachliche Prüfung der Varianten, ggf. Klassifizierung als versehentliche Textfehler oder absichtliche Änderung, ggf. Konjekturvorschlag;

Entscheidung (kritisch)

5. Abwägung der Beobachtungen aus der äußeren und inneren Textkritik, Entscheidungsfindung mit Hilfe textkritischer Regeln;

6. Kontrolle der Entscheidung durch Erklärung der übrigen Varianten.

Bei der Textkritik gilt der Grundsatz der Einzelfallprüfung. Deshalb darf sich die textkritische Arbeit nicht durchgängig einer als besonders zuverlässig beurteilten Handschrift oder Handschriftengruppe anschließen, weil auch in sorgfältig ausgeführten Manuskripten von Fall zu Fall Textfehler enthalten sein können. Ferner darf die Textkritik auch nicht bloß als ein „Ausbesserungsverfahren“ betrachtet und nur auf diejenigen Textstellen angewendet werden, mit denen man grammatisch oder sachlich nicht zurecht kommt.

5.2. Entschlüsselung des Apparats der BHS

Die zu einem bestimmten Textproblem angegebenen Informationen werden im textkritischen Apparat gleichsam stenographisch mitgeteilt. Um sie zu entschlüsseln und zu verstehen, ist die Kenntnis und Bedeutung der verwendeten Kurzzeichen (Sigel) und lateinischen Abkürzungen unerlässlich. Sie sind in der Einleitung der BHS in einer Liste zusammengestellt. Dabei lassen sich die im Apparat verwendeten Kürzel in drei Gruppen einteilen: 1) Die Sigel stehen für einen bestimmten Textzeugen (Handschrift) oder für eine Textzeugengruppe. 2) Die lateinischen Abkürzungen dienen dazu, die Art eines Textproblems näher zu kennzeichnen und ggf. zu bewerten. 3) Die lateinischen Abkürzungen im Imperativ oder Gerundivum bieten Handlungsanweisungen des Bearbeiters, die auf eine mögliche (!) Lösung des Textproblems hinweisen. (Zur ausführlichen Darstellung der Apparatsprache vgl. Wonneberger, 33-78; zur Auflösung lateinischer Abkürzungen vgl. auch Fischer, 352-354; Brotzman / Tully, 194-218.)

5.2.1. Sigel für Textzeugen(gruppen)

Am häufigsten wird im Apparat auf die Hauptgruppenzeugen ver­wiesen. Streng genommen handelt es sich dabei um Sammelausdrücke, die Handschriften einer bestimmten Texttradition oder Übersetzungstradition zusammenfassen. Mit Ausnahme des Samaritanischen Pentateuchs (abgekürzt durch ein samaritanisches Schin) werden die Hauptgruppenzeugen im BHS-Apparat durch lateinische Großbuchstaben in Frakturschrift gekennzeichnet (hier ersatzweise in Normalschrift):

  • G = Altgriechische Übersetzung / Septuaginta,
  • L = altlateinische Übersetzung / Vetus Latina,
  • M = Masoretischer Text,
  • Q = Texte aus Qumran,
  • S = Syrische Übersetzung / Peschitta,
  • T = Aramäische Targume,
  • V = Lateinische Übersetzung des Hieronymus / Vulgata.

Hinzu kommen noch die jüdischen Rezensionen der griechischen Übersetzung, die traditionell mit griechischen Kleinbuchstaben angegeben werden:

  • α' = Aquila,
  • θ' = Theodotion / Kaige-Theodotion,
  • σ' = Symmachus.

Ist die Überlieferung innerhalb eines Hauptgruppenzeugen gespalten, wird eine weitere Differenzierung vorgenommen. Zu diesem Zweck wird dem Sigel die Abkürzung von Untergruppen oder Kodizes als hochgestellter Buchstabe (Exponent) beigegeben. Wird etwa eine Variante der → Septuaginta nur durch den Codex Alexandrinus (A) bezeugt, steht im Apparat die Abkürzung GA. Steht vor dem Exponenten ein Minuszeichen G-A, bietet der Hauptgruppenzeuge die betreffende Lesart mit Ausnahme des Codex Alexandrinus. Schließlich begegnen auch unspezifische Sammelbegriffe wie Ms (= ein handschriftliches Manuskript) bzw. Mss (= mehrere Handschriften), die ebenfalls dem Sigel eines Hauptgruppenzeugen als Exponent beigegeben werden können. Oft ist es dann erforderlich, durch Hauptgruppenzeugen ausgewiesene Lesarten in den betreffenden wissenschaftlichen Textausgaben nachzuschlagen.

Bei der Benutzung des Apparats ist zu berücksichtigen, dass im Bearbeitungszeitraum der BHS (1967-1977) nur ein Teil der Schriftrollen aus den Höhlen von Qumran und ihrem Umkreis veröffentlicht waren. Wichtige Textzeugen aus Qumran können deshalb im BHS-Apparat fehlen. Es empfiehlt sich darum die Beiziehung eines BHQ-Bandes, eines textkritischen Kommentars oder eines Bibelstellenregisters zu den Qumranhandschriften (Lange 2009, 533-559).

5.2.2. Bewertungsausdrücke

Neben den Sigeln für die Textzeugen bieten lateinische Abkürzungen weitere Informationen, die dem Benutzer das Erfassen und Beschreiben des betreffenden Textproblems erleichtern und ggf. einzelne Varianten erklären sollen. Neben grammatischen, masoretischen und sonstigen Angaben finden sich häufig auch sogenannte Bewertungsausdrücke, die einen bestimmten Sachverhalt im Überlieferungsbefund feststellen und ggf. eine Gewichtung vornehmen. Häufig verwendete Bewertungsausdrücke sind:

  • add (additum) = Zusatz (vgl. das Symbol +),
  • crrp (corruptum) = verderbte Textstelle,
  • dttg (dittographice) = Doppelschreibung,
  • dub (dubium) = zweifelhaft,
  • frt (fortasse) = vielleicht,
  • gl (glossatum) = Glosse, Randbemerkung,
  • om (omittit) = Auslassung (vgl. das Symbol >),
  • prb (probabilior) = wahrscheinlich,
  • tr (transponit) = Umstellung.

Das zuletzt genannte Beispiel wie auch eine Reihe vergleichbarer Ausdrücke sind in der BHS doppeldeutig: So kann die Abkürzung „tr“ als finite Verbform verstanden werden, wodurch festgestellt wird, dass ein bestimmter Textzeuge ein Wort oder eine Wortgruppe umgestellt hat (transponit „er stellt um“). Oder „tr“ wird als eine Aufforderung verstanden, wodurch empfohlen wird, dass zur Lösung des vorliegenden Textproblems eine Umstellung vorzunehmen ist (transpone „stelle um!“). In diesem zweiten Fall handelt es sich nicht um einen Bewertungsausdruck, sondern um eine Handlungsanweisung resp. um einen Korrekturvorschlag des BHS-Bearbeiters.

5.2.3. Handlungsanweisungen

Lateinische Abkürzungen, die im Sinne eines Imperativs oder Gerundivums aufzulösen sind, bieten Handlungsanweisungen. Diese zielen auf die Textwiederherstellung und sind darum bereits als ein Ergebnis textkritischer Überlegungen zu betrachten, das der BHS-Bearbeiter in direktiver Kurzform mitteilt. Auch wenn sich die Gründe für die Korrekturanweisung oft nicht unmittelbar nachvollziehen lassen, handelt es sich dabei nicht um Mutmaßungen. Vielmehr bezieht sich der BHS-Bearbeiter in der Regel auf Korrekturvorschläge, die in der damals zur Verfügung stehenden Kommentarliteratur ausführlich diskutiert und begründet worden sind. Beispiele für solche Handlungsanweisungen sind:

  • cj (conjungendum) = es ist zu verbinden,
  • dl (delendum) = es ist zu tilgen,
  • ins (inserendum) = es ist einzufügen,
  • l (legendum) = es ist zu lesen,
  • tr (transponendum) = es ist umzustellen.

Es versteht sich von selbst, dass die im textkritischen Apparat gegebenen Handlungsanweisungen des BHS-Bearbeiters nicht bindend sind, zumal sie in vielen Fällen nicht mehr dem heutigen Stand der Forschung entsprechen. Trotzdem bieten sie von Fall zu Fall eine wirkliche Hilfe, indem sie die Richtung weisen, in der die Lösung eines bestimmten Textproblems zu suchen ist.

Nach der Entschlüsselung des BHS-Apparats lassen sich die textkritischen Angaben in allgemeinverständliche Aussagen übersetzen, so dass man in etwa folgende Fragen beantworten kann: Welche Varianten liegen vor? Wie sind sie zu übersetzen? Durch welche Textzeugen werden sie belegt? Welche Sinndifferenz liegt zwischen den Varianten? Lässt sich ein Zusammenhang zwischen den Varianten erkennen? Welche Schwierigkeiten bleiben zu lösen? Je genauer das Textproblem beschreibend erfasst wird, desto leichter lassen sich die nächsten Schritte der Textkritik durchführen.

5.3. Gewichtung der Zeugen (äußere Textkritik)

Die äußere Textkritik ist Ausgangspunkt der textkritischen Untersuchung und befasst sich mit der Feststellung der Textzeugen, die eine bestimmte Lesart bieten. Dementsprechend sind die verschiedenen Varianten mit ihren jeweiligen Textzeugen zusammenzustellen und die Zeugengruppen gegeneinander abzuwägen. Wie bereits aus der Textgeschichte hervorgeht, besitzen nicht alle Handschriften resp. Texttraditionen die gleiche Qualität. Deshalb gilt in der äußeren Textkritik der Grundsatz: Handschriften werden gewichtet, nicht gezählt (manuscripta ponderantur non numerantur). Damit hat die Qualität einzelner Textzeugen (Alter, Zuverlässigkeit, etc.) den Vorrang vor der Quantität beizubringender Handschriften. Eine Rangfolge der Hauptgruppenzeugen wie beispielsweise Masoretentext, Qumran, Samaritanischer Pentateuch, Septuaginta, Aquila, Symmachus, Theodotion, Peschitta, Targum, Vulgata, Vetus Latina, etc. (Steck 1999, 41) lässt sich jedoch nicht unabhängig von dem untersuchten Text festlegen und kann sogar in die Irre führen. Denn der Zeugenwert einer Handschrift oder Texttradition ändert sich je nachdem, mit welchen Zeugengruppen sie zusammensteht. Beispielsweise besitzt die Vetus Latina höheres Gewicht, wenn ihre Lesart mit M gegen G zusammensteht; liest sie dagegen gemeinsam mit der Septuaginta, als deren Tochterübersetzung sie gilt, muss man ihr Gewicht geringer veranschlagen. Hinzu kommt, dass der Masoretentext in manchen alttestamentlichen Schriften eine schlechtere Überlieferungsqualität aufweist (wie etwa in den → Samuelbüchern), so dass dort sein Zeugenwert geringer einzustufen ist. In methodischer Hinsicht darf man deshalb der häufig empfohlenen Regel nicht folgen, dass dem Masoretentext überall dort der Vorzug zu geben ist, wo er sprachlich und sachlich einwandfrei scheint. Vielmehr darf man den Masoretentext trotz seiner führenden Rolle in der Textbezeugung nicht anders behandeln als die übrigen Zeugengruppen. Mithin besteht das Ziel der äußeren Textkritik darin, für jede Variante den Grad seiner externen Bezeugung einzuschätzen (sehr gut, gut, weniger gut, kaum, nicht bezeugt).

Das erzielte Ergebnis hat zunächst keinen Einfluss auf die weitere Untersuchung durch die innere Textkritik. Denn es ist zu bedenken, dass ein Schreibfehler oder eine Textänderung bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt eingetreten sein kann und demzufolge von allen wichtigen Textzeugen bestätigt wird, während der ursprüngliche Text vielleicht nur in einer einzigen Handschrift oder Übersetzung erhalten geblieben ist. Aus diesem Grund hat die innere Textkritik unbesehen ihrer Bezeugung alle Varianten zu prüfen. Bei einem offensichtlichen Schreibfehler kann dies sogar zu einer textkritischen Entscheidung gegen den am besten bezeugten Text führen.

5.4. Beurteilung der Lesarten (innere Textkritik)

Die innere Textkritik untersucht die zu einem Textproblem vorliegenden Lesarten und sammelt zu jeder einzelnen Variante Indizien, die auf einen versehentlichen Textfehler oder eine beabsichtigte Änderung schließen lassen. Dazu werden die vorliegenden Lesarten nach internen Kriterien geprüft. Zu den internen Kriterien zählen der Kontext der Stelle, Sprachschatz, Grammatik, Stil und Kolometrie (bei poetischen Texten) sowie Inhalt, literarkritischer Befund, theologisches Profil und sein geschichtlicher Hintergrund (vgl. van der Kooij, 153).

In einem ersten Schritt werden die Varianten sprachlich untersucht. Führt die sprachliche Prüfung zu dem Ergebnis, dass eine bestimmte Lesart lexikalisch unwahrscheinlich, grammatisch unmöglich oder stilistisch zweifelhaft ist, muss die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass ein versehentlicher Textfehler vorliegt. Dazu lassen sich dann die Ursachen von Textverderbnissen zur weiteren Prüfung heranziehen (s.o. 4.2. Lese- und Schreibfehler).

Die sprachliche Prüfung muss allerdings unterschiedliche Aspekte im Auge behalten und auch exegetische Fragen einbeziehen. Beispielsweise gibt es nicht wenige Fälle, in denen ein Bruch in der grammatischen Konstruktion auf eine redaktionelle Fuge hinweist. Lässt sich nun in der Literarkritik und Redaktionsgeschichte (→ Bibelauslegung, historisch-kritische) hinreichend begründen, dass die grammatische Unebenheit durch das Textwachstum entstanden ist, liegt offenbar kein Textfehler vor. Vielmehr muss man den Fall dann in umgekehrter Richtung beurteilen: Der grammatische Bruch spricht dafür, die Lesart als ursprünglich zu betrachten (lectio difficilior), während die Varianten, die keine solche Unebenheit aufweisen, als Glättungen des Ausgangstextes erklärbar sind (lectio facilior).

In einem zweiten Schritt wird eine sachliche Prüfung durchgeführt. Denn die Frage, ob eine Lesart als ursprünglich gelten darf oder nicht, hängt auch davon ab, ob sich ihre Aussage sinnvoll in den Sachzusammenhang einfügt. So kommt es vor, dass eine Variante zwar grammatisch und stilistisch einwandfrei ist, aber in ihrem Kontext keinen passenden Sinn ergibt oder sich sogar als widersprüchlich erweist. An diesem Punkt berührt sich die innere Textkritik aufs engste mit der Exegese und hat die Aufgabe zu lösen, ob sich der fraglichen Lesart nicht doch in der einen oder anderen Weise ein erträglicher Sinn abgewinnen lässt. Falls dies nicht gelingt, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass an dieser Textstelle eine andere, vielleicht weniger gut bezeugte Variante vorzuziehen ist. In manchen Fällen lässt sich außerdem beobachten, dass die fragliche Lesart zwar einen annehmbaren Sinn ergibt, aber ihre Intention, ihre Theologie oder ihr geschichtlicher Hintergrund keineswegs mit dem Textstück übereinstimmt. Auch darüber darf man nicht hinweggehen, sondern muss die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der Text an dieser Stelle bewusst verändert worden ist. Eine Hilfe bieten dabei die unterschiedlichen Motive, die hinter einer bewussten Textkorrektur stehen können (s.o. 4.3. absichtliche Textänderungen).

Sind sämtliche hebräischen Lesarten auf diese Weise geprüft, muss sich die innere Textkritik auch den alten Übersetzungen, insbesondere den griechischen Varianten zuwenden. Dabei wird zunächst die Frage im Vordergrund stehen, wie sich die Abweichung einer Übersetzungsvariante gegenüber dem hebräischen Text erklärt. Die Gründe dafür können in der Übersetzung selbst liegen, etwa in der grammatischen Eigenart der Zielsprache oder in der Beschränktheit ihrer verfügbaren Ausdrucksmittel, die eine genaue Wiedergabe ausgangssprachlicher Wendungen nicht gestattet. Sie können aber auch beim Übersetzer liegen, bei seinen Sprach­kenntnissen oder stilistischen Fähigkeiten. Nicht selten wird ein Text da­rüber hinaus durch die religiöse Anschauung seines Übersetzers oder durch seinen kulturellen Hintergrund beeinflusst. In allen diesen Fällen fällt die Übersetzungsvariante für eine Rekonstruktion des ursprünglichen hebräischen Textes aus. Lässt sich eine Abweichung jedoch nicht auf das Übersetzen zurückführen, ist weiter zu prüfen, ob eventuell ein durch die innergriechische Überlieferung bedingter Textfehler vorliegt. Denn auch die Handschriften alter Übersetzungen sind wie die hebräischen Texte zufälligen Überlieferungsbedingungen unterworfen und nicht fehlerlos. Erst wenn diese Möglichkeit ebenfalls ausscheidet, darf hinter der Übersetzungsvariante ein hebräischer Vorlagetext angenommen werden, der den ursprünglichen Wortlaut widerspiegeln könnte oder ihm am nächsten kommt. Für die Rekonstruktion eines solchen hebräischen Ausgangstextes (Rückübersetzung) sind Kommentare oder spezielle Untersuchungen beizuziehen.

5.5. Die textkritische Entscheidung

Nachdem die Sichtung der Textzeugen nach externen Kriterien und die Prüfung der Varianten nach internen Kriterien unabhängig voneinander vorgenommen wurden, muss jetzt aufgrund der erzielten Teilergebnisse eine Entscheidung darüber herbeigeführt werden, welche der Varianten als die zuverlässigste, ältest erreichbare, dem ursprünglichen Wortlaut am nächsten stehende Lesart den übrigen vorzuziehen ist. Im einfachsten Fall stimmt die am besten bezeugte mit der sprachlich und sachlich wahrscheinlichsten Lesart überein. Häufiger fällt jedoch die textkritische Entscheidung in einem Abwägungsprozess zwischen der äußeren und inneren Textkritik. Dabei stehen der Entscheidungsfindung drei textkritische Regeln zur Verfügung, die sich jedoch nicht auf alle Problemfälle beziehen lassen und auch nicht mechanisch verwendet werden dürfen. Eine regelkonforme Beweisführung erfordert entsprechende Umsicht.

5.5.1. lectio corrupta sive mutata corrigenda

Diese Regel besagt, dass eine als verdorben oder verändert erkannte Lesart zu verbessern ist. Sie gilt für alle Varianten, die nach den internen Kriterien einen versehentlichen Textfehler oder eine absichtliche Änderung haben erkennen lassen. Bei konkurrierenden Lesarten ist also stets diejenige Variante vorzuziehen, die sich weder durch einen Textfehler noch durch eine absichtliche Änderung erklären lässt.

5.5.2. lectio difficilior probabilior

Diese Regel besagt, dass die schwierigere Lesart als die wahrscheinlichere zu beurteilen ist. Wie die Formulierung deutlich macht, handelt es sich um eine relationale Regel, die zwei oder mehrere Lesarten zueinander ins Verhältnis setzt. Ihren Hintergrund bildet die begründete Annahme, dass es im Verlauf der Textgeschichte eher zu Erleichterungen und Vereinfachungen schwieriger Ausdrucksweisen gekommen ist als umgekehrt. Bei konkurrierenden Lesarten hat demzufolge die seltenere und ungewöhnlichere Variante als die wahrscheinlich ältere zu gelten. Die Regel lässt sich auf alle Varianten zu einer Textstelle anwenden, die trotz ihrer Verschiedenheit nach der äußeren und / oder inneren Textkritik in etwa als „gleichwertig“ anzusehen sind und in ihrem Kontext einen möglichen, mehr oder weniger erträglichen Sinn ergeben. Die Vorzugsentscheidung fällt dann zugunsten der schwierigeren Lesart. Die Regel ist dagegen nicht anzuwenden, wenn eine Lesart sinnlos, verderbt oder unverständlich ist und sich darum nicht mehr mit einer konkurrierenden Lesart ins Verhältnis setzen lässt.

5.5.3. lectio brevior potior

Diese Regel besagt, dass die kürzere Lesart als die frühere anzusehen ist. Denn durch die Textgeschichte lässt sich belegen, dass den biblischen Texten häufiger etwas zugesetzt, selten dagegen etwas weggenommen wird. Vor allem Schreiber und Kopisten, die ihre Abschrift für den Gebrauch in einer Gemeinde anfertigten, können an der einen oder anderen Stelle etwas ausführlicher formuliert, ein den Sinn unterstützendes Wort eingefügt oder eine zusätzliche Erklärung angefügt haben. Benutzte der Schreiber mehr als eine Vorlage, ist auch damit zu rechnen, dass er zwei unterschiedliche Lesarten miteinander verband und zusammen in seinen Text aufnahm. Lassen sich solche Erweiterungen durch die innere Textkritik als stilistische Glättung, zusätzliche Erklärung, an den Rand gesetzte Glosse oder durch Konflation entstandene Lesart identifizieren, liegt ihr Zusatzcharakter und damit die textkritische Entscheidung auf der Hand. Die Regel lässt sich dagegen nicht anwenden, wenn der kürzere Text durch Auslassung infolge einer Haplographie, eines Homoioteleuton oder Homoioarkton entstanden ist (s.o. 4.2.6. und 4.2.7. Auslassung bei gleichlautendem Wortende / Wortanfang). In diesen Fällen erklärt sich die Entstehung der kürzeren aus der längeren Lesart, die damit als die frühere vorausgesetzt ist.

Das praktische Ergebnis der Textkritik besteht zusammenfassend in der Bestimmung einer (!) Vorzugslesart, die gegenüber den anderen Varianten als älter, zuverlässiger, ursprünglicher beurteilt wird. Hinter jeder einzelnen textkritischen Entscheidung steht damit ein Prozess, in dem das Für und Wider sorgfältig abgewogen wird. Ist die Entscheidungsfindung abgeschlossen, folgt noch eine Qualitätskontrolle. In ihr wird überprüft, ob sich alle als jünger beurteilten Varianten in ihrer Entstehung schlüssig erklären lassen. Wenn es gelingt, diese ausnahmslos auf die eine festgestellte, frühest erreichbare Lesart zurückzuführen, darf die textkritische Entscheidung als zuverlässig und begründet gelten.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

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  • Wonneberger, R., Leitfaden zur Biblia Hebraica Stuttgartensia, 2. Aufl. Göttingen 1986.

5. Web-Sites

Abbildungsverzeichnis

  • Gen 1 in der Biblia Hebraica Stuttgartensia. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Biblia Hebraica Quinta, Fascicle 1: Genesis. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Codex Leningradensis (Gen 1). Aus: Wikimedia Commons; © public domain; Zugriff 26.4.2018
  • Qumran, Höhle 4. © public domain; Foto: Klaus Koenen, 2010
  • Jesajarolle aus Qumran (1QJesa): Jes 40. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

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