Kanaan / Kanaanäer
(erstellt: Juli 2020)
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1. Name und Verwendung
„Kanaan“ (כְּנַעַן kəna‘an) lautet die biblisch-hebräische Fassung eines Namens, der herkömmlicherweise als Gebietsbezeichnung diente und von dem die in Form eines Gentilicium gebildete Gruppenbezeichnung „Kanaanäer“ (כְּנַעֲנִי kəna’ǎnî) abgeleitet wurde (auch „Kanaaniter“). Die Etymologie ist trotz vielfältiger Versuche ungeklärt. Wo man die Frage nicht ganz auf sich beruhen lässt, wird am ehesten mit einem westsemitischen Namen von der Wurzel כנע kn‘ „(sich) beugen / erniedrigen“ u.ä. gerechnet, der auf wesentliche geographische Eigenheiten Bezug nehme („Niederland“). Im Rahmen dieser Erklärung kann eine volksetymologische Anspielung durch das entsprechende Verb in Neh 9,24
Der Name ist, wiewohl mit variierender Referenz, in außerbiblischen Quellen schon lange vor der alttestamentlichen Überlieferung bezeugt (s.u. 2.). Im Alten Testament selbst wird er ausgesprochen vielfältig verwendet, wobei der ursprüngliche Gebrauch zur Bezeichnung konkreter geographischer bzw. geopolitischer Größen zusehends zurücktritt (s.u. 3.3.). Besonders augenfällig wird dies, wo eine ethnisch und religiös profilierte Größe „Kanaan“ als Negativfolie für Israel gebraucht wird (s.u. 4.).
2. Bezeugung in außerbiblischen Quellen
Im 2. Jt. v. Chr. findet sich „Kanaan“ (seltener auch „Kanaanäer“) in Quellen aus → Mari
Besonders ergiebig sind ägyptische und im ägyptischen Archiv von Amarna aufbewahrte Quellen (→ Amarnabriefe
So variabel die Referenz, so konstant ist in allen diesen Belegen der Gebrauch des Namens Kanaan (und davon abgeleiteter Ausdrücke wie „Land Kanaan“, „Provinz Kanaan“, „Städte Kanaans“, „Könige Kanaans“ u.a.) zur Bezeichnung konkreter geographischer bzw. geopolitischer Größen.
3. Gebrauch im Alten Testament
Ein dergestalt deskriptiver Gebrauch des Namens Kanaan lässt sich gelegentlich auch im Alten Testament nachweisen; er ist hier aber grundlegend zu unterscheiden von der Art und Weise, wie „Kanaan“, „Kanaanäer“ und weitere abgeleitete Ausdrücke in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle verwendet werden: nämlich als theologisch-konzeptionelle (Land) bzw. ideologisch abgezweckte (Landesbewohner) Chiffre. Im Folgenden sollen zentrale, die Rezeption maßgeblich prägende Verwendungsweisen von „Kanaan“ und „Kanaanäer“ im Alten Testament (zusammen 167 Belege) knapp umrissen werden. Dies geschieht, wo einschlägig, in synoptischer Perspektive; die Darstellung ist daher bewusst nicht als Literargeschichte des Namens angelegt.
3.1. „Kanaan“ als Bezeichnung für Phönizien
Per se keine pejorativen Obertöne (vgl. aber unten 3.5.), dafür eine in traditionsgeschichtlicher Hinsicht signifikante Nähe zu dem u.a. in der Amarna-Korrespondenz ausgemachten engeren Gebrauch des Namens weist die Verwendung von „Kanaan“ als Bezeichnung für Phönizien auf. Belegt ist sie in Jes 23,11
3.2. „Kanaan“ als Bezeichnung für das verheißene Land
In seiner gemessen an Belegzahl wie rezeptionsgeschichtlicher Bedeutung wichtigsten Verwendungsweise im Alten Testament steht „Kanaan“ für das den Erzvätern Israels seit → Abraham
So naheliegend die Frage nach den genauen Grenzen dieses → Landes
Ein etwas anderes, historisch eher nachvollziehbares Bild ergibt sich, wenn man die in diversen erzählerischen Kontexten begegnende bzw. implizierte Angabe, dieser oder jener Ort liege in Kanaan (oder gerade nicht), zusammenstellt. In Kanaan liegen demnach u.a. → Sichem
In einem wesentlichen Aspekt stimmen die vorstehenden Angaben mit den ausgeführten Grenzbeschreibungen überein: Der Jordan wird als Ostgrenze des verheißenen, Kanaan genannten Landes betrachtet. Dies steht in latenter Spannung nicht nur mit der teilweise in denselben Erzählzusammenhängen berichteten Ansiedelung israelitischer Stämme im Ostjordanland, sondern vor allem mit der historischen Realität bis zur mittleren Königszeit, insofern v.a. Gilead integraler Bestandteil des Nordreichs Israel war. Umso besser passt es zu der Tatsache, dass die ostjordanischen Gebiete nach der Annexion durch die Assyrer 733 v. Chr. nie mehr an Israel kamen. Mit der Einrichtung der assyrischen Provinz Gal’aza (Gilead) war der Jordan faktisch zu einer Ostgrenze geworden, spätere literarische Landkonzeptionen setzen diesen Sachverhalt voraus und integrieren ihn geschichtstheologisch, zuerst und grundlegend durch die deuteronomistische Erzählung (→ Deuteronomismus
3.3. „Kanaanäer“ als Bezeichnung für die Bewohner des verheißenen Landes
Abgeleitet vom Namen Kanaan für das Land, können dessen Bewohner Kanaanäer genannt werden. Der Name begegnet einerseits als Sammelbezeichnung für die Bewohner des Landes insgesamt, sei es in der standardisierten Form eines Gentilicium (z.B. Gen 12,6
Andererseits kann er als Bestandteil unterschiedlich zusammengesetzter Listen von Völkern, die als Bewohner des Landes vorgestellt werden, fungieren. Hier sind zunächst zwei Paarbildungen zu nennen, „Kanaanäer und → Perisiter
3.4. Facetten eines polemischen Portraits
Der vorstehende Abschnitt könnte auch mit „Die Vorbewohner des verheißenen Landes“ überschrieben werden – wenn es nach der Logik der biblischen Großerzählung ginge, derzufolge das den Vätern verheißene Land unter Josuas Führung nicht nur vollständig eingenommen wurde (Jos 21,43
Umso mehr muss eingeschärft werden, Abstand von ihnen zu halten. Weil die „Vorbewohner“ des Landes als eminente Gefahr für die Identität des Volkes → Israel
Dass der Kontakt mit „Kanaanäern“ eine derartige Bedrohung der israelitischen Identität darstellt, wird mit der behaupteten Verkommenheit der kulturellen und religiösen Praxis „Kanaans“ begründet, die paradoxerweise eine nahezu unwiderstehliche Anziehungskraft auf Israel auszuüben scheint (vgl. z.B. Dtn 12,30
Die diversen Facetten fügen sich nicht zu einem einheitlichen, wohl aber zu einem eindeutigen Portrait: Kanaanäer sind die ganz anderen. Was sie sind und tun, sollen Israeliten nicht sein und nicht tun.
3.5. „Kanaanäer“ als Bezeichnung für Händler
In der Rezeptionsperspektive kommt noch eine weitere, traditionsgeschichtlich eigenständige Facette hinzu: die Bezeichnung (phönizischer) Händler als Kanaanäer (→ Handel
3.6. Der Ahnvater Kanaan
In der → Urgeschichte
Schon in Gen 9,20-27
4. Kanaan als Negativfolie für Israel
Nach dem vorstehenden Durchgang ist bereits deutlich, dass die Namen Kanaan und Kanaanäer im Alten Testament selten wertneutral gebraucht werden, sondern zumeist als Chiffren. Genauer kann man sagen, dass Kanaan als Negativfolie fungiert. Im Kern geht es um Identitätsbildung nach dem Prinzip „Identität durch Alterität“. Israel definiert sich durch Abgrenzung von einer ganz anderen Größe, die dazu und dadurch allererst als solche konstruiert wird (zu analogen Vorgängen in Ägypten und Griechenland vgl. Assmann, 435-446 bzw. Hall). Teil dieser Argumentationsfigur ist der bemerkenswerte Anspruch Israels, in seinem Land gerade nicht autochthon zu sein.
Dieser Anspruch wurde in der kritischen Forschung lange Zeit adaptiert. Diesbezüglich ist besonders auf die älteren Theorien zur Erklärung der sog. → „Landnahme
Umso entschiedener gilt es festzuhalten: Das Kanaan, von dem in der Mehrzahl der alttestamentlichen Belege die Rede ist, ist nicht nur eine fiktive Größe; „Kanaan“ ist einer der am stärksten ideologisch geladenen Begriffe der gesamten biblischen Überlieferung. Sein Gebrauch muss entsprechend kritisch reflektiert werden, in historischen und zumal in hermeneutischen Zusammenhängen (zu Letzterem vgl. etwa Levenson).
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973-2015
- Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
- Encyclopedia of the Bible and Its Reception, Berlin / Boston 2009ff.
2. Weitere Literatur
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- Frevel, C., Geschichte Israels (KStTh 2), Stuttgart 2. Aufl. 2018
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- Uehlinger, C., The ‚Canaanites‘ and other ‚pre-Israelite‘ Peoples in Story and History (Part I), FZPhTh 46 (1999), 546-578
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- Weippert, M., Historisches Textbuch zum Alten Testament (GAT 10), Göttingen 2010
Abbildungsverzeichnis
- Kanaan bezeichnet das Gebiet westlich des Jordan. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
- In Gen 9,25-27 wird Kanaan zur Knechtschaft verflucht, nachdem sein Vater Ham die Scham des betrunkenen Noah gesehen hat (Giovanni Bellini; ca. 1515).
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