Kanonformel
(erstellt: März 2012)
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Die sogenannte „Kanonformel“ gebietet, das Wort Gottes genau zu überliefern. Sie besteht aus einem Erweiterungsverbot, „nichts hinzuzufügen“ (hebr. יסף jsp „hinzufügen“), und einem Kürzungsverbot, „nichts wegzunehmen“ (hebr. גרע gr‘ „abschneiden / wegnehmen“), doch ist sie in dieser Form im Alten Testament lediglich zweimal bezeugt: in Dtn 4,2
1. Terminologische Vorbemerkungen
Der Terminus „Kanonformel“ ist in der Forschung zu Recht umstritten. Das „Kanon“-Konzept (→ Kanon
Für die Änderungsverbote im Alten Testament bieten sich alternative Bezeichnungen an, die jedoch zum Teil ebenfalls Probleme bergen: So basiert der Ausdruck „Ptahhotep-Formel“ auf einem mittlerweile anders gedeuteten Beleg in der gleichnamigen ägyptischen Lehre (zur Kritik: Vonach 1997, 74f). Die Bezeichnung „Wortsicherungs-“ bzw. „Wortlautsicherungsformel“ könnte die Vorstellung einer bis in den Wortlaut fixierten Textgestalt nahelegen. Doch zeigt der Handschriftenbefund vom Toten Meer, dass das Bemühen um eine standardisierte Textgestalt selbst bei vergleichsweise autoritativen Texten wie den Deuteronomium-Handschriften vermutlich nicht vor dem 1. Jh. v. Chr. eingesetzt hat (vgl. Lange).
Im Hinblick auf die ursprüngliche Funktion der Wendung „nichts hinzufügen, nichts wegnehmen“ scheinen mir daher entweder formalere Bezeichnungen wie „Fixier-“ oder „Integritätsformel“ oder offenere Termini wie „Autoritätssicherungs-“ oder „Textsicherungsformel“ (wobei sich „Text“ sowohl auf gesprochene wie auf geschriebene Sprache bezieht) sachgemäßer zu sein.
2. Altorientalische Verwendungsweisen
Formelhafte Bestimmungen, die Texte vor Änderungen (Erweiterung, Kürzung, Tilgung etc.) schützen sollen, sind in der Antike von Griechenland über Kleinasien und die Levante bis Ägypten und Mesopotamien in unterschiedlichen Textsorten vielfach bezeugt. Oeming hat in einer gründlichen Untersuchung zehn Verwendungsweisen der altorientalischen Textsicherungsformeln namhaft gemacht: Demnach begegnen die Formeln „1. im Recht (Sicherung von Verträgen, Rechtskodizes, Kudurru-Urkunden); 2. in der Berufs-Ethik der Schreiber und der Boten (Tugend der Zuverlässigkeit); 3. in der Magie (Macht des korrekt reproduzierten Zauberwortes); 4. in der Schule (Ziel beim Auswendiglernen); 5. in der Königsideologie (zum Schutz des Namens des Königs in Ewigkeit); 6. in der Kunsttheorie (zur Definition des Schönen); 7. in der Ethik (als das Gute, was zu tun ist); 8. in der Literaturtheorie (im Begriff des Klassischen); 9. in der Historiographie (als Garant historischer Zuverlässigkeit); 10. in der religiösen Literatur (als Auszeichnung für das Offenbarte und das Inspirierte).“ (Oeming, 130f; vgl. zum altorientalischen Hintergrund auch Weinfeld, 261-265; Reuter; Vonach 1997; Levinson)
Inwiefern die alttestamentlichen Belege von den vielfältigen altorientalischen Verwendungsweisen des Textänderungsverbots inspiriert worden sind, soll anschließend im Zusammenhang der jeweiligen Textstelle gefragt werden. Zu berücksichtigen ist dabei Vonachs Beobachtung, „daß in keinem Fall von einer bloßen ‚Übernahme‘ oder ‚Abhängigkeit‘ gesprochen werden kann, sondern daß immer auch eine dem eigenen Kontext entsprechende neue Konnotation auszumachen ist“ (Vonach 1997, 80). Entscheidend sind also jeweils die Bezugsgröße der Formel und ihre Verwendung in einem bestimmten Kontext.
3. Alttestamentliche Belege
Die Belege im Alten Testament können hinsichtlich ihrer Bezugsgröße grob in solche eingeteilt werden, die sich auf einen Text beziehen, und in solche, die sich „in metaphorischer Übertragung“ (Oeming, 135) auf Gottes Wirken beziehen. Literaturgeschichtlich können Erstere (im weitesten Sinn) dem → Deuteronomismus
3.1. Die deuteronomistischen Belege
3.1.1. Dtn 4,2 und Dtn 13,1
3.1.1.1. Dtn 4,2. Die Textsicherungsformel in Dtn 4,2
„Ihr sollt nichts hinzufügen zu dem Wort (הדבר), das ich euch gebiete (auf das ich euch verpflichte), und ihr sollt nichts davon wegnehmen; bewahrt (im Hebräischen Infinitiv cs.) die Gebote Jhwhs, eures Gottes, die ich euch gebiete (auf die ich euch verpflichte).“ (Dtn 4,2
Die Bezugsgröße der Textsicherungsformel ergibt sich zum einen aus deren unmittelbarem Kontext, zum anderen aus der redaktionsgeschichtlichen Verortung von Dtn 4
In Dtn 4,2
Vor dem Hintergrund einer breit akzeptierten spät-deuteronomistischen Entstehung von Dtn 4
Sollte Dtn 4
3.1.1.2. Dtn 13,1. Folgte in Dtn 4,2
„Das ganze Wort (אֵת כָּל־הַדָּבָר), das ich euch gebiete (auf das ich euch verpflichte), das bewahrt und tut; du sollst nichts zu ihm hinzufügen und du sollst nichts davon wegnehmen. (Dtn 13,1
Die Bezugsgröße der Textsicherungsformel in Dtn 13,1
Galt die Textsicherungsformel in Dtn 13,1
Levinson interpretiert Dtn 13,1
„Bei Gott, ihr sollt nicht das Wort Asarhaddons, des Königs von Assyrien, ändern oder abwandeln. Bei Gott, ihr sollt Assurbanipal, dem Kronprinzen vom ‚Nachfolgehaus‘, eben diesem gehorchen.“ (Übers. des Vf.; Text: SAA II 6; andere Übersetzung: TUAT I, 161f)
Nach Levinson hat der Verfasser von Dtn 13,1
Erste Reaktionen auf diese These zeigen, dass sich unbeschadet einer grundsätzlichen Akzeptanz der traditionsgeschichtlichen Herleitung der Textsicherungsformel in Dtn 13,1
1. Auch wenn das Änderungsverbot in VTE § 4 (im Gegensatz zum üblichen Inschriftenschutz! Vgl. Reuter, 112) am Anfang der zu sichernden Worte Asarhaddons steht, so ist die kataphorische Funktion von Dtn 13,1
2. Davon nicht zu trennen ist die Frage nach dem literarhistorischen Ort von Dtn 13,1
Dessen ungeachtet dürfte Levinson den traditionsgeschichtlichen Hintergrund – nicht nur von Dtn 13,1
3.1.2. Jer 26,2 und Spr 30,6
Die halben Formeln in Jer 26,2
3.1.2.1. Jer 26,2. Das Kürzungsverbot im Zusammenhang der Tempelrede in Jer 26,2
3.1.2.2. Spr 30,6. Von den Deuteronomiumsbelegen inspiriert ist vermutlich auch der weisheitliche Beleg in Spr 30,5f
3.1.2.3. Neben den ausformulierten Textsicherungsformeln gibt es im Alten Testament noch andere Möglichkeiten, das als vollständig und abgeschlossen geltende Gotteswort vor Veränderungen zu schützen. Was Dtn 5,22
3.2. Die weisheitlichen Belege
Die weisheitlichen Belege des Änderungsverbots unterscheiden sich von den deuteronomistischen vor allem hinsichtlich ihrer Bezugsgröße: Die Wendung „nichts hinzufügen, nichts wegnehmen“ bezieht sich in Pred 3,14
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