Deutsche Bibelgesellschaft

Levirat / Leviratsehe

(erstellt: Januar 2008)

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Die „Leviratsehe“ (lat. levir „Schwager“) bezeichnet eine → Ehe, in der die kinderlose Witwe dem Bruder des verstorbenen Mannes, also ihrem Schwager, anvertraut wird. Der Begriff „Levirat“ greift dabei den Rechtsfall von Dtn 25,5-10 auf, in dem allein von der Schwagerehe die Rede ist.

1. Altorientalische Gesetze

Nach dem mittelassyrischen Gesetz § 33 (TUAT 1, 86) kann eine Witwe ihrem Schwiegervater zur Ehe gegeben werden, nach § 43 (TUAT 1, 88f) einem Schwager und auch einem (zumindest zehnjährigen) Stiefsohn der Witwe. Nach dem hethitischen Gesetz §193 (TUAT 1, 122) kann sie – je nach Textgrundlage und Interpretation – von einem Cousin ersten Grades, einem Neffen oder einem Onkel des Verstorbenen als Frau genommen werden. Die altorientalischen Gesetze zeigen damit, dass eine Witwe ohne weiteres mit einem Mann der Familie des verstorbenen Gatten verheiratet werden konnte.

2. Altes Testament

Wenn die alttestamentliche Wissenschaft von Levirat oder Leviratsehe spricht, verweist sie vor allem auf folgende drei Texte: Gen 38, Dtn 25,5-10 und Rut 1-4.

2.1. Die Tamarerzählung (Gen 38)

In der unverwechselbaren und lehrreichen Familiengeschichte Gen 38 verfügt → Juda über alle ehelichen Verbindungen seiner Söhne. Der älteste Sohn namens Er muss die Kanaanäerin → Tamar zur Frau nehmen. Nach seinem Tod muss der zweitälteste namens → Onan zu ihr eingehen und so die Schwagerehe vollziehen (hebr. יבם). Als auch Onan stirbt, verfügt Juda, dass Tamar als Witwe in das Haus ihres Vaters zurückkehrt, bis der jüngste Sohn Schela das heiratsfähige Alter erreicht hat. Im Grunde will Juda aber eine weitere Leviratsehe zwischen Tamar und seinem letzten noch lebenden Sohn unterbinden. Unter diesen Umständen sieht sich Tamar dazu berechtigt, den inzwischen verwitweten Juda zu verführen. Aus dieser Verbindung gehen die → ZwillingePerez und Serach hervor, die es Tamar erlauben, in das Haus bzw. in die Genealogie Judas zurückzukehren. Am Schluss sieht Juda auch ein, dass er kein Recht hatte, ihr seinen Sohn Schela vorzuenthalten.

2.2. Das Gesetz Dtn 25,5-10

Der Rechtssatz Dtn 25,5-10, der für alle Israeliten Gültigkeit beansprucht, gliedert sich in einen Normsatz (25,5f), der im Untersatz (25,7-10) problematisiert wird. In beiden Abschnitten sind folgende drei Sachverhalte relevant: 1) Zwei Brüder wohnen zusammen. 2) Einer von ihnen, der verheiratet ist, stirbt. 3) Der Verstorbene hat keinen Sohn bzw. kein Kind (hebr. בן). Trifft all dies zu, muss der noch lebende Bruder die Schwagerehe vollziehen (hebr. יבם). Diese Verbindung zielt nach 25,6 auf die Geburt eines Sohnes, der den Namen (hebr. שׁם) des verstorbenen Bruders weiterführen soll, so dass dieser in Israel nicht erlöscht. Das Konzept „Name“ meint dabei wohl die Rechtsnachfolge des verstorbenen Israeliten. Der Normsatz verdeutlicht dabei, wie sich die patrilineare Autoritätsstruktur einer israelitischen Familie auf die Ehefähigkeit von Mann und Frau auswirkt.

Der Untersatz Dtn 25,7-10 problematisiert den Normsatz dadurch, dass der Schwager sich weigert, die Leviratspflicht zu erfüllen. Die Witwe, die vor der Versammlung der Ältesten am Tor auf ihrem Recht beharrt, wird ihren Anspruch auf eine Leviratsehe allerdings nicht gegen den Willen des Schwagers durchsetzen können, sondern ihm eine Sandale vom Fuß ziehen (hebr. חלץ; vgl. Chaliza als Bezeichnung der jüdischen Sitte, einem Schwager, der die Witwe seines Bruders nicht heiraten will, zum Ausdruck der Verachtung einen Schuh auszuziehen) und ins Gesicht spucken. Diese Beschämung ist drastisch und wirkt sich auf den Namen des Schwagers und seines Hauses unauslöschlich aus (25,10) „Und sein Name wird in Israel genannt werden ‚Haus desjenigen, dem die Sandale ausgezogen wurde’.“ Der Untersatz Dtn 25,7-10 hält somit fest, dass kein Schwager in patrilinearen Verhältnissen zur Ehe bzw. Leviratsehe gezwungen werden kann. Wird aber sein Haus, zu dem auch der verstorbene Bruder gehört, noch Zukunft in Israel haben?

2.3. Die Ruterzählung

Im Buch → Rut sterben alle männlichen Mitglieder der Familie Elimelechs aus → Bethlehem in → Moab, während Noomi und ihre beiden moabitischen Schwiegertöchter am Leben bleiben. Dennoch wird dieses Haus in Juda bzw. Israel Bestand haben, weil der Mutter Noomi der Enkel Obed geboren wird, der den Namen des verstorbenen Elimelech auf seinem Erbe in Bethlehem aufrichten wird. Die moabitische Schwiegertochter Rut vollzieht dabei keine Leviratsehe (anders → Rut 3.4.), sondern heiratet Boas, einen Verwandten der Familie Elimelechs und Noomis, der aus freien Stücken diese Verbindung eingeht. Zuvor muss aber noch der Verkauf des Grundstücks Elimelechs geregelt werden. Es gibt nämlich eine bestimmte Reihenfolge der Käufer oder → Löser (hebr. גאל). Boas macht den erstberechtigten Löser in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung auf folgende Kaufhypothek aufmerksam (Rut 4,5): „An dem Tag, an dem du das Feld aus der Hand Noomis erworben hast, habe ich (Ketiv; die Lutherbibel geht von einem anderen Text aus) aber von Rut, der Moabiterin, der Frau des Toten, erworben, um den Namen des Toten auf seinem Erbe erstehen zu lassen.“ Die bevorstehende Heirat von Boas und Rut wirkt sich also auf das Kaufgeschäft aus, denn ihr erster Sohn wird die juristische Autorität des verstorbenen Elimelech fortführen, so dass dessen Erbe an Grund und Boden der Familie von Boas und Rut zukommt. Der erste Löser nimmt diese Hypothek, die auf dem Grundstück lastet, natürlich nicht in Kauf.

Dass diese Verhandlung nichts mit der Leviratsehe oder der Chaliza von Dtn 25,5-10 zu tun hat, wird auch daraus deutlich, dass die Lösung des Schuhs und dessen Übergabe an den neuen Löser oder Käufer lediglich als Abschluss eines Löse- bzw. Tauschgeschäfts gelten (vgl. Rut 4,7). Zudem fehlt im Buch Rut das Anspucken des ersten Lösers und das Verunglimpfen seines Hauses.

3. Spätere Texte

Philo und die Texte von Qumran schweigen zur Leviratsehe.

Josephus begründet die Leviratsehe in seiner Darstellung der mosaischen Gesetze auf folgende Weise (Antiquitates 4,254-56; Text gr. und lat. Autoren): „So wird es gehalten zum Nutzen des Staates, da so die Familien nicht aussterben, das Vermögen in der Verwandtschaft bleibt, und die Lage der Frau durch Heirat mit dem nächsten Verwandten des verstorbenen Gatten erleichtert wird.“ Dabei verbindet er die Leviratsehe mit der griechischen Institution der „Epiklerate“, die festlegt, dass die Frau und das Eigentum eines verstorbenen Mannes an dessen nächsten männlichen Verwandten übergehen.

Im Neuen Testament argumentieren die Sadduzäer in Mk 12,18-27 (vgl. Mt 22,23-33; Lk 20,27-40) mit der Leviratsehe, um damit die Auferstehungshoffnung ad absurdum zu führen, weil sie der Tora widerspreche. Denn welchem Bruder soll eine Frau nach der Auferstehung angehören, die im Rahmen der Leviratsehe mit mehreren verheiratet war?

Im → Testament der Zwölf Patriarchen führt das Testament Sebulons 3,1-8 den Brauch der Chaliza und des Anspuckens auf die Josefserzählung zurück: Simeon, Gad und sechs andere Brüder verkauften Josef und erwarben sich für den Kaufpreis Sandalen, um die letzte Erinnerung an den Hochmut Josefs zu zertreten. In Ägypten wurden ihnen diese Sandalen aber von den Füßen gelöst. Anschließend fielen sie vor Josef nieder und wurden zu ihrer Schande auch noch angespuckt.

Im rabbinischen Gesetz bietet der Babylonische Talmud im Traktat Yevamot (Text Talmud) eine ausführliche systematische Reflexion zur Leviratsehe. Die Mischna deutet das hebr. „ben“ (בן) in Dtn 25,5 zusammen mit LXX und Josephus (Antiquitates 4, 254) nicht als „Sohn“, sondern als „Kind“ ohne Geschlechtsunterschied, so dass die Leviratsehe nur dann obligatorisch ist, wenn der verstorbene Mann weder männlichen noch weiblichen Nachwuchs hinterlassen hat bzw. in einer Geburt nach seinem Tod hinterlassen wird (vgl. Traktat Yevamot 2,5).

Die Phrase „wenn die Brüder zusammenleben“ in Dtn 25,5 wird allein auf die Brüder bezogen, die tatsächlich zusammengelebt haben. Ein Bruder, der erst nach dem Tod seines verheirateten Bruders geboren wird, ist von der Pflicht der Leviratsehe ausgenommen (vgl. Traktat Yevamot 2,1.2). Dies gilt auch, wenn die ehemaligen Frauen des verstorbenen Bruders in irgendeiner Beziehung zueinander oder zum Levir stehen.

Die Witwe muss zudem fruchtbar, darf zumindest nicht offensichtlich unfruchtbar, aber auch nicht schwanger sein (vgl. Traktat Yevamot 4,2). Eine rege Diskussion nimmt auch die Frage ein, ob die Inzestgesetze (vgl. Lev 18 und Lev 20) einen Vorrang der Chaliza gegenüber der Leviratsehe begründen können (vgl. Traktat Yevamot 1).

Ein Teil des Traktats widmet sich dem prozessrechtlichen Verfahren vor Gericht („bet din“; vgl. Traktat Yevamot 12). Dabei fällt gegenüber Dtn 25,7-10 auf, dass die Witwe nicht in das Gesicht ihres Schwagers, sondern vor ihm auf den Boden spucken muss (vgl. Traktat Yevamot 12,6).

In Folge der Entwicklung der Frauenrechte sowie des Ehe- und Scheidungsrechts hat die rabbinische Rechtsprechung in Israel – nach dem Verbot der Leviratsehe im Jahr 1950 – die Chaliza für obligatorisch erklärt.

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