Lieder außerhalb des Psalters
(erstellt: Oktober 2014)
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→ Musik / Musikinstrumente
1. Hebräische Begriffe für „Lied“
Das hebräische Substantiv שִׁיר šîr bedeutet „Lied / Gesang“, das entsprechende Verb lautet שׁיר šjr „singen“. Dieselbe Wurzel findet sich auch im Ugaritischen: šr bzw. mšr „Lied / Gesang“. Mit שִׁיר šîr können sowohl profane als auch kultische Gesänge sowie Psalmen bezeichnet werden. Im Psalter findet man zusammen mit שִׁיר šîr auch das Substantiv מִזְמוֹר mizmôr, das, parallel zum arabischen Wort mizmār „Flöte“, Lieder bezeichnet, die unter der Begleitung von Instrumenten gesungen werden. Im Gegensatz zu מִזְמוֹר mizmôr scheint שִׁיר šîr nicht zwangsläufig mit instrumentaler Begleitung einher zu gehen, sondern ursprünglich eher ein Sprechgesang zu sein; diese Unterscheidung ist in der Forschung allerdings umstritten. Parallel existiert die Bezeichnung שִׁירָה šîrāh, die speziell bei kultischen Gesängen die einzelnen Lieder außerhalb des Psalters meint. Dazu gehören u.a. das Schilfmeerlied Ex 15
Neben der Bezeichnung שִׁיר šîr für Lieder und Gesänge im Allgemeinen werden mit קִינָה qînāh speziell Lieder der Klage bezeichnet, genauer der Leichen- und Totenklage, später auch Wehklagen mit Gott als Adressat (→ Totenklage
2. Musik und Gesang im Alten Orient
In den Kulturen des antiken Mittelmeerraumes waren Lieder und Musik häufig mit Kult und Religion verbunden. Mittels Musik und Gesängen versuchte man sowohl sich Gutes zu erbitten, als auch Gefahren aller Art abzuwehren. Als Ausdruck von Furcht, Freude oder Trauer erhielten Lieder so ihre Funktion als Gebet, Klage, Lob und Danksagung. Die Anfänge dieser musikalischen Kultur sind vermutlich im Bereich der Arbeiter und Handwerker zu suchen: Spontane Lieder während der Arbeit haben sich wahrscheinlich durch wandernde Handwerker und Bauern nach und nach verbreitet und zunehmend mit instrumentaler Begleitung gepaart. Einige wenige erhaltene Beispiele für solche Arbeitslieder sind das Schnitterinnenlied aus Jerusalem und das Schafschurlied aus der Gegend von Aleppo:
„Singe zu meinen Händen, o Oheim! / Die Sicheln fassen, o Oheim! / Du Saat Gottes, wäre ich nicht, / dann verzehrten dich die Hirten, / täten dich in die Feuer, / steckten dich in die Proviantbeutel.“ (Schnitterinnenlied aus Jerusalem; aus: Staubli 2007, 60)
„Lass dich scheren, du kleine Schwarzköpfige, / lass dich scheren, / deine Wolle ist Seide und weich das Vlies.“ (Schafschurlied aus der Gegend von Aleppo; aus: Staubli 2007, 60)
Mit der Zeit waren Musik und Gesang in verschiedensten Situationen des alltäglichen Lebens in und um Israel nicht mehr ungewöhnlich. Sie fanden Eingang in den religiösen Kult, in die Paläste und Höfe der lokalen Fürsten und Herrscher sowie gesellschaftlichen Festlichkeiten aller Art und Krisenzeiten. Die meisten erhaltenen Lieder handeln von Liebe oder Klage und sind damit Ausdruck übermäßiger Freude oder Trauer. Welchen hohen Stellenwert Musik im Alten Orient hatte, zeigt sich einerseits in den fast einhundert verschiedenen Bezeichnungen für Musiker sowie über fünfundsiebzig Begriffen für verschiedene Instrumente allein in Mesopotamien, andererseits den Reliefs der Amarna-Zeit (→ Amenophis IV. Echnaton
3. Gattungen
Die Psalmen inner- und außerhalb des Psalters lassen sich verschiedenen Gattungen zuordnen, die auf die Untersuchungen von Herder, → Lowth
4. Lieder im Kontext
Die Lieder außerhalb des Psalters gelten nicht als Teil einer Sammlung, sondern sind unabhängig als poetische Texte in einen jeweiligen Prosakontext eingebettet. Sie werden mit den spezifischen Begriffen שִׁירָה šîrāh oder קִינָה qînāh markiert und setzen sich vor allem sprachlich von der zugehörigen Erzählung ab (vgl. Pardee zu einem rituellen Text aus → Ugarit
Durch die einleitende Bezeichnung der Texte als שִׁירָה šîrāh oder קִינָה qînāh, also als Lieder oder Gesänge bzw. Klagegesänge, wird die Veränderung der Vortragsart deutlich und eine Assoziation mit instrumentaler Begleitung hervorgerufen. Vor dem Hintergrund des lauten Vorlesens und Vorsingens der Texte dürfte besonders für den zeitgenössischen Leser bzw. Zuhörer, dem einige dieser Lieder möglicherweise bekannt waren, an diesen Übergängen von Erzählung zu Gesang auch eine kultische Assoziation nahe gelegen haben, die ihn miteinstimmen lässt und in die Situation des Liedes integriert.
5. Einzelbetrachtungen
Es finden sich zahlreiche Lieder außerhalb des Psalters, vor allem in den Prophetenbüchern (2Sam 23,1-7
5.1. Das Lamechlied
Das Lamechlied (Gen 4,23-24
5.2. Das Brunnenlied
Das Brunnenlied (Num 21,17-18
5.3. Das Bogenlied
Das Bogenlied (2Sam 1,17-27
5.4. Das Danklied Jonas
Das Danklied Jonas (Jon 2,3-10
5.5. Das Danklied Hiskias
Das Danklied → Hiskias
5.6. Das Danklied der Hanna
Das Danklied der → Hanna
Diese drei Danklieder, das der Hanna, des Jona und des Hiskia, dienen als Beispiele für Dankpsalmen, die ihren ursprünglichen Sitz im Leben wohl im Kult hatten. Dem jeweiligen Interpolator schienen sie geeignet, den Kontext, in dem sie jetzt stehen, poetisch und theologisch auszuschmücken und zu deuten. Dazu wurden sie, falls notwendig, um entsprechende Rahmenverse oder Bezüge zur Prosaerzählung erweitert. Das genaue Wachstum beziehungsweise die Urgestalt ist kaum mehr zu bestimmen.
5.7. Der Lobgesang Davids
Der Lobgesang Davids (2Sam 22
5.8. Das Danklied der Geretteten
Das Danklied der Geretteten (Jes 12
5.9. Das Loblied Davids
Das Loblied Davids (1Chr 16,8-36
5.10. Das Schilfmeerlied
Das Schilfmeerlied (Ex 15,1-19
5.11. Das Mirjamlied
Das Mirjamlied (Ex 15,21
5.12. Das Deboralied
Zum Deboralied (Ri 5
5.13. Das Gebet des Habakuk
Das Gebet des → Habakuk
5.14. Das Moselied
Das Moselied (Dtn 32,1-44
5.15. Das Weinberglied
Das Weinberglied (Jes 5,1-7
6. Die Sammlung der Oden
Einige der oben genannten Lieder außerhalb des Psalters (Schilfmeerlied, Moselied, Danklied der Hanna, Danklied Jonas, Danklied Hiskias, Gebet des Habakuk) sind in der Sammlung der sogenannten Oden enthalten. Diese fand etwa im 5. Jh. n. Chr. Einzug in die Septuaginta (vgl. z.B. Codex Alexandrinus). Dies spricht für eine weitreichende Bedeutung dieser Texte vor allem für den Kult und die Verwendung im Gottesdienst, aber auch für ihre Bekanntheit im Allgemeinen (→ Oden
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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- Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, 18. Aufl., Berlin / Heidelberg / New York 1987-2010
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- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
2. Weitere Literatur
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