Qimchi
Andere Schreibweise: Kimchi; Kimhi; Qimhi; Akronym: Rada”q
(erstellt: Dezember 2014)
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1. Biographie
1.1. Die Qimchi-Familie
David Qimchi entstammte einer bedeutenden spanisch-provençalischen Gelehrtenfamilie. Sein Vater, Josef Qimchi (ca. 1105-1170), war um das Jahr 1150 aus dem muslimisch beherrschten Andalus nach Narbonne geflohen. Gemeinsam mit seinen beiden Söhnen Mosche (er starb etwa 1190) und David verband er die spanische mit der provençalischen Tradition jüdischer Exegeten, indem er die am Literalsinn orientierte, philologisch-grammatische Methode des → Peschat
Josef Qimchi vermittelte jedoch nicht nur exegetische Traditionen der Sefarden in den Languedoc. Wie der gleichfalls von der Iberischen Halbinsel geflohene Jehuda Ibn Tibbon (1120 bis nach 1190), tat er sich auch als Übersetzer wichtiger philosophisch-ethischer Werke Spaniens hervor. Daneben verfasste Josef grammatisch-lexikalische (Sefer ha-Sikkaron [ספר הזכרון]; Sefer ha-Galui [ספר הגלוי]) und apologetische Werke (Sefer ha-Berit [ספר הברית]). Im Sefer ha-Berit legte Josef Qimchi einige seiner exegetischen Prinzipien dar. Der literalen Interpretation der Bibel erkannte er eine bedeutende Rolle für die Verteidigung jüdischer Positionen gegenüber christlichen zu. Sie sei der von den christlichen Exegeten bevorzugten Allegorese prinzipiell vorzuziehen, wann immer ein Text aus sich selbst heraus verständlich erscheint. Ebenfalls in Abwehr christlicher (christologischer) Deutungen biblischer Texte formulierte er den Grundsatz, den historischen und den literarischen Kontext eines Verses systematisch in die Exegese einzubeziehen.
„Du sollst allerdings wissen, daß tatsächlich nicht die ganze Tora entsprechend der wörtlichen Bedeutung und nicht alles allegorisch [zu verstehen] ist. Vielmehr erklären wir eine Sache, die man entsprechend ihrer wörtlichen Bedeutung nicht erklären kann, im übertragenen Sinn. Denn wenn jemand zu seinem Diener sagt, nimm das Pferd und reite auf ihm im Meer, wäre es nötig, daß man sich bemüht, es im übertragenen Sinn zu erklären. Aber wenn man zu jemandem sagt, steige in das Schiff und fahre mit ihm auf dem Meer, ist es nicht notwendig, hierin eine Allegorie [zu sehen].“ (Börner-Klein, 1993, 233)
1.2. David Qimchi
Zum bedeutendsten Exegeten der Qimchi-Familie avancierte indessen Josefs Sohn David (Rabbi David Qimchi, Akronym Rada"q [רד"ק]).
David, der als der jüngere Sohn Josef Qimchis den französischen Beinamen „Maistre Petit“ führte, wurde vermutlich in Narbonne geboren. Trotzdem fühlte er sich dem Herkunftsland seiner Familie zeit seines Lebens verbunden, weswegen er sich trotz seines womöglich provençalischen Geburtsorts als „Spanier“ (ha-Sefardi; vgl. Vorwort zum Genesis- und zum Jesaja-Kommentar) bezeichnete. Als erster und emotional maßgeblicher Lehrer fungierte sein Vater Josef, der jedoch starb, als David Qimchi erst zehn Jahre alt war. Von jener Zeit an unterrichtete ihn sein älterer Bruder Mosche. Vermutlich setzte dieser das Curriculum Josefs fort, das auf einer sorgfältigen grammatischen und philologischen Ausbildung anhand der Bibel fußte. Die Auseinandersetzung mit den großen sefardischen Philologen – wie Jona Ibn Jana (um 990-1050), mit dessen Zeitgenossen Jehuda Chajjudsh, → Abraham Ibn Esra
Auf die „biblische Grundausbildung“ folgte unmittelbar die intensive Befassung mit den rabbinischen Texten, v.a. mit dem Talmud und den Responsa, die gerade in der Provence sehr geschätzt wurden. Der Kontakt zur rabbinischen Erzählkultur, der Halacha, führte letztlich zur Konfrontation mit dem Derasch, der dem Peschat komplementären Interpretationsmethode.
Nach dem umfangreichen Studium der jüdischen Tradition stand für den ambitionierten Angehörigen der hochmittelalterlichen sefardischen Elite die Aneignung der (weltlichen) Wissenschaften sowie der philosophischen und ethischen Literatur auf dem Plan. David Qimchis Werke spiegeln jene umfassende Bildung – der Kanon der von ihm zitierten Literatur überstreicht ein beeindruckendes Spektrum.
Während über seine Familie so gut wie nichts bekannt ist (vermutlich hatte er einen Sohn, erwähnt wird ein Enkel), erfährt man wiederholt über sein hingebungsvolles Wirken als Lehrer. Nach eigenem Bekunden verwendete er den Großteil seiner Zeit darauf, Knaben im Talmud zu unterrichten (Talmage, 1975, 14). Sein grammatisches Hauptwerk, der Sefer ha-Mikhlol, zeigt seine große Begabung, komplizierte Zusammenhänge präzise und kurz darzustellen.
Aus den Texten Qimchis wird gleichermaßen die große Bedeutung des → Maimonides
Wenige Jahre später verstarb er in seiner Heimatstadt Narbonne.
2. Das Werk David Qimchis
2.1. Die Interpretation der Hebräischen Bibel
Wie das Curriculum, so begann auch die Tätigkeit Qimchis als Autor mit seinem philologischen Hauptwerk, dem Sefer ha-Mikhlol (ספר המכלול). Selbiges umfasst zwei Teile: ein im eigentlichen Sinne grammatisches Kompendium (Cheleq ha-Diqduq [חלק הדקדוק]) sowie ein lexikalisches Buch (Cheleq ha-Injan [חלק הענין]). Der lexikalische Teil, der ein Verzeichnis hebräischer Wortwurzeln umfasst, wurde häufig als selbstständiges Werk publiziert (Sefer ha-Schoraschim [ספר השורשים]).
Rada“qs Anliegen bestand darin, die zahlreichen (vor allem in arabischer Sprache) vorliegenden grammatischen Abhandlungen für Unterrichtszwecke zu systematisieren und zu straffen. Wie der hebräische Titel des Werkes andeutet (Mikhlol bedeutet „summa“), war es seine Absicht, ein zusammenfassendes Lehrwerk zur hebräischen Grammatik vorzulegen, das der Vernachlässigung der hebräischen Sprache im Exil entgegenwirken möge (vgl. Mikhlol, Einleitung).
„These would then be the features that would mark the Mikhlol: synthesis of divergent sources, clarity of language, manageability of length, topical order, an air of finality and conclusiveness.“ (Talmage, 1975, 56)
Im Anschluss an seine Lehrbücher verfasste David Qimchi vor allem Kommentare zur Hebräischen Bibel. Dabei knüpfte er, wie bereits in seinen grammatischen Unternehmungen, sehr eng an die Tätigkeit seines Vaters und seines Bruders an. So erklärt sich auch die auf den ersten Blick eigenartige Auswahl der von ihm kommentierten Bücher (soweit seine Texte erhalten sind):
Qimchi scheint gewissermaßen von hinten nach vorn – von den Chronikbüchern über die Psalmen / Tehillim und die Propheten zur Genesis – vorangeschritten zu sein, wobei er jedoch die einmal geschaffenen Texte steter Bearbeitung unterzog.
Kommentare zu den Divré ha-Jamim (Chronica) finden sich in der jüdischen Tradition selten, was wesentlich damit zusammenhängen mag, dass diese letzten Bücher des Tenach bei dessen Interpreten in keinem hohen Ansehen standen. So statuierte bereits der Midrasch Wajjiqra Rabba (WajR I,3): „Nicht wurden die Divre ha-Jamim gegeben, außer zum Derasch.“ Josef und Mosche Qimchi (Kommentare zu Sprüche, Hiob und Esra-Nehemia) hatten sich indessen den sonst eher vernachlässigten Teilen der Hebräischen Bibel zugewandt – David scheint hier einer Art Familientradition zu folgen.
Das gilt auch für sein Werk zum Buch Sprüche, das erst vom italienischen Exegeten Umberto Mosche David Cassuto (1883-1951) Joseph aberkannt und David Qimchi zugewiesen wurde (Ms Vatican Ebr. 89; Cassuto, 1956, 129). Berger (2007b, 45) hält ihn für den ältesten der Kommentare des Rada“q; andere (vgl. Grunhaus, 2003a) bestreiten dies.
Etwas außerhalb seiner üblichen exegetischen Pfade bewegte sich David Qimchi mit zwei Interpretationen zu den beiden klassischen esoterischen Topoi der jüdischen Tradition: den Ma‘assé Bereschit (dem Hexaemeron Gen 2,7-5,1
Insbesondere Qimchis grammatische Werke sowie seine Auslegungen der Psalmen und des Buches Jesaja genossen unter den Gelehrten der folgenden Jahre und Jahrhunderte großes Ansehen, wofür auch die ungewöhnlich hohe Zahl an noch erhaltenen Manuskripten spricht.
2.2. Zu Methode und Hermeneutik Qimchis
Die Qimchi-Familie widmete sich mit großer Hingabe den morphologisch und syntaktisch schwierigsten Büchern der Bibel, Sprüche und Hiob, und entwickelte zu diesem Zweck eine Methode, die sich im Grunde am → Targum
Für einen Exegeten andalusischer Prägung, der in der Provence lehrte und schrieb, war das Verhältnis von Peschat, der literalen Bedeutung des Textes, und dem Derasch von besonderer Brisanz. In den jüdischen Gemeinden des Midi schätzte man die rabbinische Tradition der Bibelinterpretation besonders. Qimchi stand daher vor der Aufgabe, die qabbalot (קבלות), die autoritativen Ansichten der Rabbinen, mit seinen eigenen Auffassungen vom historischen Kontext der Verse und seiner Vorliebe für rationalistisch-philosophische Betrachtung zu harmonisieren (vgl. Berger, 2007b, sowie Grunhaus, 2003b).
„Although he [Qimhi] rejects many rabbinic readings as derash, he subtly absorbs others into his peshat exegesis; and at the same time that he champions the Spanish peshat method, we can discern midrashic principles in his exegetical thinking. By introducing these elements into his peshat system, he transforms the very meaning of peshat and the interpretative process itself. […] With rationalism as his center of gravity, he balances scientific linguistics with midrashic sensitivity to nuance, and historical thinking with midrashic passion for religious inspiration.“ (M. Cohen, 2000, 398)
Der Rada“q schuf mit seinem exegetischen Werk eine wirkmächtige Synthese aus sefardischen und provençalischen Traditionen. Die grammatischen und philologischen Traditionen des Peschat, repräsentiert durch seinen Vater Josef und → Abraham Ibn Esra
Anders als noch bei Ibn Esra, kommt dem Midrasch nicht nur eine Nebenrolle zu. Manches hermeneutische Prinzip der Rabbinen wurde von ihm in die Methodik literaler Auslegung integriert. David Qimchi setzte sich, seinem Vater Josef folgend, intensiv und kritisch mit christlicher Bibelauslegung auseinander. Deren allegorische Auslegung, welche nur allzu oft darauf abzielte, das schlichte, wörtlich zu nehmende Gebot zu relativieren, wurde von ihm zurückgewiesen.
3. Qimchi als Apologet
Bevor die Tora und ihre Erzählungen tatsächlich niedergeschrieben wurden, überlieferte man diese große Sache der Nachkommenschaft Abrahams, Jitzchak und Ja‘aqov. Denn Jitzchak überlieferte es dem Ja‘aqov und Ja‘aqov seinen Kindern. Nachdem die Tora aber für die Kinder Ja‘aqovs niedergeschrieben worden ist, wurde das Wort in der Welt bekannt. Da gibt es die Glaubenden und es gibt diejenigen, die nicht glauben. Heute ist es etliche Jahre her, seit dem Tag, da die Verehrung der Götzenbilder und Götzen aufhörte. Die Mehrheit in der Welt glaubt an die Tora des Mosche, unseres Lehrers, und an ihre Erzählungen. Sie ist jedoch mit uns uneins über die Gebote, von denen sie sagen, dass sie allegorisch [בדרך משל] gemeint seien. (David Qimchi, Kommentar zu Gen 22,1).
In der Tradition seines Vaters und dessen Sefer ha-Berit, entwickelte auch David Qimchi ein lebhaftes Interesse an der Verteidigung jüdischer Positionen im heftigen Streit mit den Christen um die angemessene Interpretation des Tenach. Im ausgehenden 12. und 13. Jh. gab die abendländische Kirche – auch unter dem Eindruck der sog. Ketzerbewegungen und der Reconquista – ihre bisher geübte relative Zurückhaltung hinsichtlich der Judenmission auf. Die Bettelorden, unter ihnen besonders die Dominikaner, entwickelten Institutionen, Methoden und Handbücher, um die beiden religiösen Minderheiten im Einzugsbereich der lateinischen Kirche systematisch zu missionieren. Dabei bedienten sie sich u.a. der Hilfe jüdischer Apostaten, die ihnen gezielt rabbinische Texte erschlossen, um die Jüdinnen und Juden gewissermaßen „mit ihren eigenen Waffen“, dem Talmud und dem Midrasch, zu schlagen.
Zentrale Punkte der Auseinandersetzung bildete die christologische Interpretation der Hebräischen Bibel, der Streit um den zeitlichen Bezug der (messianischen) Verheißungen und – wie gesehen – die Anwendung der Allegorese auf die Tora. Die jüdischen Apologeten, so auch David Qimchi, konterten die christlichen Anwürfe dadurch, dass sie auf der historischen Kontextualisierung der biblischen Prophetien und der systematischen Anwendung des Peschat insistierten.
Die große Bedeutung Rada“qs für die jüdische Apologetik liegt weniger in der Originalität der von ihm verwendeten Strategie. Sie ist vielmehr darin zu sehen, dass er in seinen Kommentaren zu den Propheten, den Psalmen und der Genesis ebenjene biblischen Bücher systematisch interpretierte und apologetisch annotierte, die von den christlichen Kontrahenten besonders gern argumentativ genutzt worden sind.
4. Bedeutung
David Qimchis Werke gehörten zu den ersten hebräischen Büchern, die überhaupt gedruckt worden sind. Sein Kommentar zu den Psalmen (Bologna 1477) enthält, soweit bekannt, den ältesten gedruckten hebräischen Bibeltext (Talmage, 1975, 189)! Auch seine Ausführungen zu den Propheten erfuhren die Ehre eines sehr frühen Druckes (1482 Guadalajara bzw. 1485 Soncino). In der traditionellen → Rabbinerbibel
Wie einige seiner Kommentare, so erlebten auch seine grammatischen Werke eine intensive Würdigung und Nutzung. Der Sefer ha-Schoraschim erschien bereits 1479 im Druck, der erste Teil seines Mikhlol (Cheleq ha-Diqduq) folgte im Jahre 1525. Für die christlichen Hebraisten, die sich seit dem 15./16. Jh. systematisch dem Studium der hebräischen Grammatik und der jüdischen Kommentarliteratur zuwandten, fungierte David Qimchi als eine der bedeutendsten Referenzen. Herausragende Vertreter ihrer Zunft wie Johannes Reuchlin (1455-1522) und Sebastian Münster (1488-1552) bedienten sich des Sefer ha-Mikhlol.
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
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2. Werke
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3. Weitere Literatur
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- Bacher, W., 1892, Die jüdische Bibelexegese vom Anfang des zehnten bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, Trier.
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- Börner-Klein, D., 1993, Das Buch des Bundes: Josef Qimchis Diskussion zwischen einem Gläubigen und einem Ungläubigen, in: C. Thoma u.a. (Hgg.), Judentum – Ausblicke und Einsichten (FS K. Schubert), Frankfurt/M., 209-251.
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- Grunhaus, N., 2003b, The Dependence of Rabbi David Kimhi (Radak) on Rashi in His Quotation of Midrashic Traditions, The Jewish Quarterly Review 93/3.4, 415-430.
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- Sarna, N., 2000, Studies in Biblical Interpretation, Philadelphia.
- Talmage, F.E., 1972, The Book of the Covenant of Joseph Kimhi, Toronto.
- Talmage, F.E., 1975, David Kimhi: The Man and the Commentaries (Harvard Judaic Monographs 1), Cambridge, Mass.
Abbildungsverzeichnis
- Titelseite des Sefer ha-Schoraschim (Druckausgabe: Venedig 1546).
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