Raum
(erstellt: Januar 2012)
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1. Der Begriff „Raum“
Weder im Hebräischen noch im Griechischen gibt es einen abstrakten Begriff „Raum“. Eine Vielzahl von Phänomenen kann mit dem Thema „Raum“ assoziiert werden: Landschaften, Landkarten, Weltbilder, Gebäude, Sozialformen oder Verhältnisbestimmungen. Bei jeder raumtheoretischen Analyse biblischer Texte sollte daher geklärt werden, was unter „Raum“ verstanden wird. Der vorliegende Artikel geht von Raumtheorien aus, die bisher mit Gewinn auf alttestamentliche Texte angewendet wurden: Ein erzähltheoretischer Zugang zu Raum (2.), die Raumtheorie Henri Lefebvres und deren Modifikation durch Edward Soja (3.) sowie die Raumsoziologie Martina Löws (4.). Anhand von Einzelbeispielen und bisher erschienenen Studien wird gezeigt, welche alttestamentlichen Raumphänomene mit der gewählten Theorie erschlossen werden können. Die raumtheoretische Analyse biblischer Texte stellt ein relativ neues Forschungsfeld dar, das sich im Blick auf das Alte Testament rasch entwickelt, während es in der neutestamentlichen Forschung bisher wenig Beachtung gefunden hat.
2. Raum aus erzähltheoretischer Perspektive
Die erzähltheoretische Perspektive auf Raum ist von besonderer Relevanz, weil alle Räume in der Bibel vorgestellte, dargestellte oder erzählte Räume sind. Viele Ergebnisse der Erzähltheorie sind darum auch für nicht erzählende Texte relevant. In der Erzähltheorie wird die Kategorie Raum oft als selbstverständlich vorausgesetzt und bleibt theoretisch unbestimmt, sie müsste durch Raumtheorien (wie unter 3. und 4. dargestellt) präzisiert werden.
2.1. Raum als Schauplatz oder Standort
Als Schauplatz oder Setting ist Raum die notwendige Bedingung einer Erzählung, da die Erzählfiguren räumlich verankert sein müssen. Das erfolgt meist durch die Erzählstimme („Da war ein Mann aus Ramatajim-Zofim vom Gebirge Ephraim…“; 1Sam 1,1
2.2. Raum als Teil der Ereignisfolge („Fabel“)
Oft lenken Raumwechsel die Aufmerksamkeit der Lesenden auf die räumliche Dimension des Textes. So bringt die Notiz über den Aufbruch vom Sinai in Num 10,11f
2.3. Raum als Teil der Präsentation der Erzählung („Fokussierung“)
Räume werden literarisch immer aus einer bestimmten Perspektive beschrieben, sodass sie keine Realität, sondern eine Sichtweise auf einen bestimmten Raum repräsentieren („Ebene der Story / Fokussierung“ bei Bal 1997). Die Charakterisierung von Räumen entspricht der Charakterisierung menschlicher Erzählfiguren, sie lenkt die Aufmerksamkeit der Lesenden auf bestimmte Phänomene und gibt ihnen Bedeutung für das Verständnis der Erzählung. Explizite Charakterisierungen von Räumen (wie auch von Menschen) bilden jedoch die Ausnahme in hebräischen Texten. Sie finden sich in Bezug auf den Garten Eden (Gen 2,9-14
„Da versammelten die Philister ihre Heere zum Kampf, und sie versammelten sich in Socho, das in Juda liegt, und sie lagerten sich zwischen Socho und Aseka in Efes-Dammim. Auch Saul und die Männer Israels versammelten sich, lagerten sich im Tal der Terebinthen und rüsteten sich zum Kampf gegen die Philister. Und die Philister standen am Berg von da, und Israel stand am Berg von da, und das Tal war zwischen ihnen. Dann kam der Zweikämpfer heraus aus den Heeren der Philister…“ (1Sam 17,1-3
Die Beschreibung des Schauplatzes ist Teil der Fabel, die Beschreibung der Heeraufstellung verrät zugleich die Perspektive der Erzählung: Die Gegenüberstellung der Heere an den Berghängen baut Spannung auf, da sie den Beginn einer Schlacht erwarten lässt. Die Berghänge entpuppen sich jedoch als Zuschauerränge für den → Zweikampf
2.4. Raum als Subjekt („acting place“)
Räume können sogar zu Subjekten einer Erzählung werden, wie der „brennende Dornbusch“ in der Erzählung über die Berufung des → Mose
2.5. Geprägte Bedeutungen von Räumlichkeit
Ilse Müllner weist darauf hin, dass Räume und räumliche Verhältnisbestimmungen mit feststehenden Konnotationen verbunden sein können, die den intendierten Leserinnen und Lesern der Texte vertraut waren. Bei alttestamentlichen Erzählungen müssen diese Konnotationen durch vergleichende Textanalysen „intertextuell-semantisch“ (Müllner 2006) erhoben werden. Als Beispiel nennt sie die Konnotation des Ortes „Feld“, die eine potentielle Gefährdung von Frauen impliziert (vgl. Dtn 22,23-27
Räumliche Strukturen werden oft in Dichotomien wie „außen – innen“ (חוּץ ḥûṣ – חָדַר ḥādar / קָרֵב qārev / בֶּטֶן bæṭæn etc.), „hoch – tief“ (גָּבָה gāvāh – עָמֹק ‘āmoq), „eng – weit“ (צַד ṣad – רָחַב rāḥav), „fern – nah“ (קָרֵב qārev – רָחוֹק rāḥôq), „rechts“ – „links“ (יָמִין jāmîn – שְׂמֹאל śəm’ol) dargestellt. Diese polaren Raumwahrnehmungen haben kulturell geprägte Konnotationen, die über den einzelnen Text hinausreichen. Für das Hebräische gilt nach Müllner (2006, 10): „Das Oben ist positiver konnotiert als das Unten, was sich in der Terminologie von Einwanderung als עֲלִיָּה ‘ǎlijjāh im Gegensatz zum Abstieg (יָרַד jārad) des Aus¬wanderns niederschlägt.“ Für den griechischen und römischen Kontext analysiert Økland 2004, in welcher Weise die Dichotomie öffentlich / privat auch durch Gendering („Geschlechterrollen“) geprägt ist: Ohne dass Frauen aus dem öffentlichen Bereich ausgeschlossen sind, wird dieser diskursiv als männlich konstruiert; den Frauen wird – vonseiten der männlichen diskursiven Akteure – der private Raum zugeordnet. Økland begreift heilige Räume als Überschreitung dieser Zweiteilung: Tempel gehören zum öffentlichen Raum, ohne dass der Zutritt für Frauen limitiert wäre. Heilige Räume können jedoch auch einen besonderen Bereich innerhalb der privaten Räume darstellen. Für jeden untersuchten Text ist darum zu fragen, ob Dichotomien für das Raumverständnis eine Rolle spielen und welche kulturellen Konnotationen ein Text aufnimmt oder variiert. Die polare Charakterisierung von Räumen kann im Blick auf die Ereignisfolge („Fabel“, Bal 1997) einer Erzählung Bedeutung tragen oder als Element der Fokussierung, d.h. der Weise, durch die der Text die Wahrnehmung der Texträume lenkt.
Die hebräischen Ausdrücke für → Himmelsrichtungen
2.6. Literarische Raumkonstitution durch Verben
Über die lokalen Adjektive / Adverbien hinaus werden Räume in alttestamentlichen Texten in erster Linie durch Handlungen charakterisiert. Bewegungsverben geben implizit Aufschluss über den Raum, in dem sie stattfinden: Im Text erschafft die erzählte Bewegung den Raum, in dem sie stattfindet. In Ex 19
2.7. Itinerare, Ortslisten und Wegstationen
Im Zusammenhang von Reisen werden Orte meist nur als Wegstationen erwähnt: „Von Kibrot Hattaawa brach das Volk auf nach Hazerot; und sie waren in Hazerot“ (Num 11,35
Die → Grenzen
2.8. Mental map
Aus der Synthese von Wegen, Orten und Handlungen innerhalb eines biblischen Textkomplexes kann eine „kognitive Karte“ (Downs / Stea 1985) entstehen, mit der Leserinnen und Leser sich innerhalb eines Textes räumlich orientieren. Solche „mental maps“ sind keine Erfindung der modernen Leseforschung. Beate Pongratz-Leisten (2001, 261f) stellt für Mesopotamien fest: „… der Mensch [strukturiert] den ihn umgebenden Raum und konstruiert Landschaften (mental maps) und Weltbilder, die in den unterschiedlichsten Medien vermittelt werden, der Architektur, des Bildes, des Textes und des Rituals“. Egbert Ballhorn (2011, 93) deutet das Buch → Josua
3. Henri Lefebvre / Edward W. Soja
Die US-amerikanische Diskussion um „Spatiality“ (Raumverständnis) hat sich im Umfeld der SBL / AAR-Konferenzen entwickelt (vgl. Berquist / Camp 2007 und 2008). Sie wird durch die Rezeption der Raumtheorie des marxistischen Soziologen Henri Lefebvre dominiert. Dessen Werk „Production de l’espace“ (Französisch 1974; Englisch 1991) wird in den USA insbesondere über die Interpretation des Geographen Edward Soja rezipiert, da dessen Interpretation Lefebvres bereits 1989 in englischer Sprache erschienen ist.
Lefebvre begreift Raum als Resultat gesellschaftlicher Produktionsprozesse, das analytisch als Zusammenwirken dreier Dimensionen erfasst werden kann: Die erste Dimension beschreibt Raum als „perceived space“ („l’espace perçu“), als körperlich erfahrenen Raum, der durch nicht-reflexive räumliche Praxis entsteht und reproduziert wird. Die zweite Dimension, der „conceived space“ („l’espace conçu“), ist die kognitive Erfassung von Räumen in Form von Modellen und Plänen. Von dieser konzeptionellen Perspektive grenzt Lefebvre die Dimension subjektiver Bilder und symbolischer Bedeutungen ab, „lived space“ („l’espace vécu“) oder „spaces of representation“. Diese dritte Dimension kann die dominierende gesellschaftliche Raumpraxis oder -ordnung unterlaufen, da sie mit der versteckten, untergründigen Seite sozialen Lebens und der Kunst verbunden ist.
Edward Soja (1989) greift die Triade Lefebvres mit den Begriffen Firstspace, Secondspace und Thirdspace auf und weitet insbesondere das Konzept des Thirdspace aus. Gegenüber dem physisch erfahrbaren Raum (Firstspace) und den durch die herrschenden Machtverhältnisse bestimmten Raumordnungen (Secondspace) begreift er den Thirdspace aus der Perspektive der Marginalisierten als Raum des Widerstandes, der durch „radikale Offenheit“ und „wimmelnde Bilder“ charakterisiert sei (68).
3.1. Gen 1 als Beispiel für die Anwendung der Raumtheorie Henri Lefebvres / Edward Sojas
Das Ineinandergreifen der drei Raumdimensionen Lefebvres kann gut am Beispiel von Gen 1
In Gen 1
Obwohl das priesterliche Weltbild von Gen 1
3.2. Ulrike Bail: „Die verzogene Sehnsucht hinkt an ihren Ort“
Die erste exegetische Monographie, in der die Raumkonzeption von Lefebvre und Soja aufgegriffen wird, stammt von Ulrike Bail. In ihrer Studie „‚Die verzogene Sehnsucht hinkt an ihren Ort‘. Literarische Überlebensstrategien nach der Zerstörung Jerusalems im Alten Testament“ (2004) zeichnet Bail nach, in welcher Weise biblische Texte (Mi 3,11-4,7
3.3. Christl M. Maier: Daughter Zion, Mother Zion
Christl M. Maier legt ihrer Monographie „Daughter Zion, Mother Zion“ (2008) die Raumtheorie Lefebvres zugrunde, die sie durch Erkenntnisse der Metapherntheorie und feministischer Körperdiskurse ergänzt, um die Bedeutung der weiblichen Personifikation Zions als Mutter / Tochter und als Ort aufzuschließen. Maier greift die drei Raumdimensionen Lefebvres auf und spitzt sie ihrem Thema entsprechend zu. Da der „körperlich erfahrbare Raum“ („perceived space“) für die metaphorischen Zionstexte nicht zu erschließen ist, analysiert Maier unter dieser Überschrift die materielle Gestalt des Ortes Zion als topographische Rahmenbedingung der körperlichen Raumerfahrung. Die nichtreflexive räumliche Praxis, die Lefebvre dieser Dimension ebenfalls zuordnet, kann aus den Zionstexten nicht erhoben werden. Lefebvres zweite Dimension des „conceived space“ wird von Maier als ideologisch geprägte Raumordnung verstanden und insbesondere auf die Zionstheologie bezogen, die den Berg Zion als Thronsitz Gottes verstand, als Ort der Vermittlung zwischen Jhwhs Präsenz über der Lade im Tempel und seinem Thron im Himmel. Das Scheitern dieser Ideologie durch die Zerstörung des Tempels kommt nach Maier in den Klageliedern oder in den Bildern der Vergewaltigung Zions zum Ausdruck (Ez 16
Im Blick auf Lefebvres dritte Dimension des „lived space“ fragt Maier nach der konkreten Raumerfahrung, die aus den biblischen Zionstexten erschlossen werden kann. Für die vorexilischen Psalmen Ps 46
Maier zeichnet nach, wie sich die einschneidende Veränderung des Exils in die Zionstexte einschreibt. Der personifizierte Raum Zion erweist sich als so wandelbar, dass er erlebte Schrecken und erneuerte Hoffnung in sich aufnehmen und transformieren kann.
3.4. Mark K. George: Israel’s Tabernacle as Social Space
Mark K. George untersucht in seiner Studie „Israel’s Tabernacle as Social Space“ die Heiligtumstexte in Ex 25-31
Die dritte Raumdimension („lived space“ bzw. „spaces of representation“ bei Lefebvre) wird von George als „symbolischer Raum“ gedeutet, der erfasst, wie gesellschaftlicher Raum soziale Bedeutung gewinnt. Aus exilischer Perspektive ist für George zum einen bedeutsam, dass in dieser Heiligtumskonzeption die Institution des Königtums fehlt, so dass ein zukünftiges Überleben des Gottesvolkes nicht von einem König abhängig ist. Zum anderen wird Israels Gottheit ein beweglicher Ort zugeschrieben, der immer wieder neu entstehen kann. Die symbolische Bedeutung der Heiligtumskonzeption liegt für George in der Durchlässigkeit für die priesterliche Kosmologie, da die sozialen Kräfte der Schöpfung in der organisatorischen Logik und in der Partizipation am Bau des Heiligtums präsent seien. Mit den Heiligtumstexten des Buches Exodus ist es den priesterlichen Schreibern nach George gelungen, dem Volk Israel einen Raum für das Überleben im Exil zu entwerfen, der Israel ermöglichte, seinen sozialen Raum und damit seine soziale Identität immer wieder neu zu erschaffen.
Mit dieser Deutung der Heiligtumstexte als Überlebensraum, der Sojas Thirdspace entsprechen würde, liegt George nahe bei Bails Deutung von Mi 3,11-4,7
4. Martina Löw: Raumsoziologie
Die deutsche Soziologin Martina Löw definiert Raum als „relationale (An)-Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten“ (2001, 271). Mit dieser Definition überwindet sie das Verständnis des Raums als „container“, in dem Menschen leben und handeln. Vielmehr entsteht Raum erst dadurch, dass Menschen etwas anordnen, also durch raumschaffende Handlungen wie Errichten, Bauen oder Positionieren. Diesen Prozess bezeichnet Löw mit dem Begriff Spacing. Zum Raum wird eine räumliche Anordnung jedoch erst, wenn sie mit einer Raumvorstellung verknüpft wird. Diesen Wahrnehmungsprozess nennt Löw Syntheseleistung. Beide Prozesse werden durch soziale Konventionen bestimmt: Menschen reproduzieren bekannte räumliche Anordnungen durch ihr Handeln, und sie erfassen Anordnungen als Räume, die ihnen vertraut sind. Räume können zu Institutionen werden, wenn sie habitualisierte Verhaltensmuster hervorrufen. Eingeübt werden solche Verhaltensmuster durch Routinen, durch repetitives Handeln. Als Institution kann ein Raum dann verstanden werden, wenn seine Existenz „über das eigene Handeln hinaus wirksam bleibt und genormte Syntheseleistungen und Spacing nach sich zieht“ (2001, 164).
Der Raumbegriff Löws hat durchaus Ähnlichkeit mit der Triade Lefebvres: Mark George interpretiert den „perceived space“ im Sinne eines Spacings, während sein Verständnis des „conceived space“ Löws „Syntheseleistung“ sehr nahe kommt. Auch die dritte Raumdimension Lefebvres kann als „Syntheseleistung“ verstanden werden, wenn kein raumtheoretischer Unterschied zwischen „ideologischer Raumkonzeption“ und „widerständiger Raumkonzeption der Marginalisierten“ gemacht wird.
Martina Löws Raumtheorie eignet sich insbesondere zur Erschließung von Texten, deren Raumkonstitution handlungs- und körperorientiert ist. Dagegen ist die Theorie weniger für die Analyse metaphorischer Texte geeignet.
4.1. Michaela Geiger: Gottesräume
In ihrer Studie „Gottesräume. Die literarische und theologische Konzeption von Raum im Deuteronomium“ (2010) verbindet Michaela Geiger erzähltheoretische Zugänge mit der Raumsoziologie Martina Löws. Die erzähltheoretische Analyse des → Deuteronomiums
Der hebräische Begriff Haus schließt immer eine Syntheseleistung ein: בֵּית bêt bezeichnet das Gebäude und die Hausgemeinschaft. Das deuteronomische Raumkonzept Haus gehört nicht zur erzählten Gegenwart des Deuteronomiums in Moab. In Zukunft soll es im versprochenen Land durch Spacing entstehen, als Gebäude (Bauen des Hauses mit einem Dachgeländer; Dtn 22,8
Die Textpragmatik des Buches Deuteronomium zieht die Leserinnen und Leser in diese Raumkonzeption hinein: Sie entwickeln Empathie mit Mose, der das versprochene Land nicht betreten darf (Dtn 3,23-28
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