Tochter Zion
(erstellt: Dezember 2006)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/35902/
1. Name, Bedeutung und Belege
Der biblische Begriff → Zion
Von diesem Gebrauch abheben lässt sich die personifizierende Redeweise von der „Tochter Zion“ (בת ציון). Während die ältere Forschung hierin nur einen weiteren Heilstitel des jüdischen Volkes oder der Gemeinde fand, hat sich in der neueren Forschung die Erkenntnis durchgesetzt, dass diesem personifizierenden Stadttitel eine eigene metaphorische Qualität anhaftet, die zwar an manchen Stellen verschliffen ist (vgl. Jes 10,32
Die Belege für die Personifikation beschränken sich auf die Prophetenbücher, → Threni
Grammatisch ist die Verbindung בת ציון als genitivus appositionis bzw. explicativus zu beschreiben und als Ehrentitel zu verstehen. Parallel wird im Alten Testament der Titel „Tochter Jerusalem“ gebraucht (z.B. Jes 37,22
2. Religionsgeschichtlicher Hintergrund
Im westsemitischen Raum konnten der Stadt, die in dortigen Sprachen wie im Hebräischen grammatisch weiblichen Geschlechts ist, weibliche Titel und Epitheta als Ausdruck der Verehrung beigelegt werden (Fitzgerald, 1972 und 1975). Es scheint, dass der Übergang von weiblich vorgestellter Stadt und Stadtgöttin (→ Göttin
Aussagekräftiger für die alttestamentlichen Texte scheinen jedoch mesopotamische Traditionen der Stadtklage. Hier handelt es sich um eine Klagegattung, die ihren historischen Ort zunächst in der Zerstörung mehrer Großstädte (Ur, Nippur, Uruk, Eridu) gegen Ende der Periode Ur III (Ende des 3. Jt.s v. Chr.) im sumerischen Reich hatte. Diese Klagen wurden vermutlich in den ersten Jahrhunderten des 2. Jt.s verfasst und verdanken ihre Entstehung Restaurations- und Legitimationsbemühungen der nachfolgenden Herrscherhäuser (Michalowski, 1989). Sie liegen in sumerischer Sprache vor und wurden mindestens bis zur Mitte des 2. Jt.s kopiert und verbreitet. Neben der Tendenz zur Personifikation städtischer Elemente wie Häuser und Mauern ist das kennzeichnende Merkmal dieser Texte das Auftreten der Stadtgöttin, welche die Zerstörung ihrer Stadt und ihres Tempels beklagt. Sie betrauert ihre eigene Vertreibung, den Verlust ihrer „Kinder“ als Tod und die Vertreibung ihrer Bevölkerung sowie den Verlust ihrer göttlichen Protektion und damit jeglicher politischen und religiösen Ordnung in der Stadt. Zentrale Formelemente dieser Gattung sind die Klage und Fürbitte der Stadtgöttin, die Klage des Dichters, der Bericht über die Zerstörung und die Bitte um Wiederherstellung.
Zur Illustration seien hier einige kurze Abschnitte aus dem Klagelied über die Zerstörung von Ur zitiert (1. Ur-Klage nach der Übersetzung von SAHG; vgl. CScr I, 535ff; The Electronic Text Corpus of Sumerian Literature
Stadt, die einen Namen hat, du bist mir zerstört. / Stadt, deren Mauer sich hoch erhob, dein Land ist zugrunde gegangen. / Meine Stadt, wie von einem guten Mutterschaf sind deine Lämmer von dir getrennt. / Ur, wie von einer guten Ziege sind deine Zicklein von dir genommen. (Vv 65-69)
Mit Beginn der dritten Strophe rückt dann die klagende Stadtgöttin Ningal ins Zentrum:
Meine, der (hohen) Frau, heilige Zella, mein königliches Haus, / dessen Dauer mir (die Götter) auf lange Zeit festgesetzt haben, / liegt mir in Klagen und Weinen am Boden. / Da das Haus die Stätte war, an der sich (die Menschen) erfreuten, / haben sie mir an Stelle seiner Feste Zorn und Unglück gegeben. / Wegen seiner Vernichtung schaut man mein Haus, die gute Stätte, / mein gutes Haus, das zerstört ist, nicht (mehr) an. / In Trauer und bittere Klage, / in bittere Klage haben sie es gebracht. (Vv 113-121)
Meine Mägde und meine Söhne hat man aus dem [Hause?] weggeführt, / „Ach um meine Stadt!“, will ich rufen, / Wehe, meine Mägde haben sie in einer fremden Stadt einer fremden Fahne folgen lassen. / Mit … hat man meine Männer und Frauen gebunden. / [Wehe, in meiner Stadt,] die nicht mehr besteht, bin ich nicht mehr die Königin, / Nanna, in Ur, das nicht mehr besteht, bin ich nicht mehr die Herrin. (Vv 283-287)
Dazu beschreibt der Dichter auch szenisch die Klagegesten der Göttin:
Sie rauft ihr [Haupthaar] wie Schilfstengel aus, / Schlägt ihre Brust als wäre sie eine Trommel, ruft „Ach um meine Stadt!“ / Ihre Augen stehen voll Tränen, bitterlich weint sie. (Vv 299-301)
Diese Formelemente werden in den folgenden Jahrhunderten bis ins 1. Jt. v. Chr. in den sog. balag- und eršemma-Liturgien wieder aufgenommen. Bei diesen Texten handelt es sich um religiöse Gebrauchstexte, die vermutlich im Zuge von Tempelabriss- und Wiederaufbaufeiern benutzt wurden (Cohen, 1988, 38). Auch sie sind geprägt vom Auftritt der „klassischen“ Figur der klagenden Göttin (vor allem von Inanna als mesopotamischer Mutter- und Schutzgöttin), die nun auch zur Adressatin der Bitten um Wiederherstellung wird.
In der neueren Forschung wird kaum mehr bestritten, dass Israel diese Tradition der Stadtklage zumindest kannte und die Verfasser der biblischen Texte auf diese Klagekultur zurückgreifen konnten (Hillers, 1992, 35f; Emmendörffer, 1998; Wischnowsky, 2001, 13-52; Berges, 2002, 46-51), auch wenn manche aufgrund der Eigenart der biblischen Texte nicht von einer traditionsgeschichtlichen Abhängigkeit sprechen mögen (Maier, 2003).
Zumindest als „heuristisches Modell“ (Dobbs-Allsopp, 1997) hilft der Blick in diese mesopotamischen Stadtklagegattungen dazu, die personifizierenden Klagetexte im Alten Testament besser zu verstehen. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass in Israel keine Stadtgöttin, sondern die personifizierte Stadt selbst – vielleicht in Aufnahme der oben skizzierten westsemitischen Vorlagen – die Rolle der klagenden Frau und Mutter einnimmt. Darin zeigt sich möglicherweise ein Reflex auf die zum Zeitpunkt der Textentstehung schon weitgehend durchgesetzte monotheistische Fokussierung auf den einen Gott Jahwe (dazu Dietrich, 1994).
3. Alttestamentliche Traditionsgeschichte
Der oben skizzierte Befund zeigt eine klare Häufung der Belege mit einer Personifikation der Stadt Jerusalem in Texten, die im Zusammenhang der Zerstörung Jerusalems im 6. Jh. v. Chr. entstanden sind. Dabei lässt sich weiter feststellen, dass die heilvollen Texte nachexilischen Ursprungs sind, während als vorexilisch am ehesten die klagenden und anklagenden Texte anzusprechen sind. Literargeschichtliche Untersuchungen im Jeremiabuch, das alle drei Arten personifizierender Texte bietet, zeigen dabei deutlich, dass die anklagenden Texte die klagenden aufnehmen und sich späterer Bearbeitung verdanken (vgl. die Hinweise dazu im Folgenden).
Dieser Befund weist darauf hin, dass die klagenden Texte die ältesten sind. Dies korrespondiert dem religionsgeschichtlichen Hintergrund und legt die Vermutung nahe, dass die Entwicklung der Personifikation der Stadt in Israel ihren Ausgangspunkt bei der Stadtklage nahm.
3.1. Die Klagen
Ob Israel eine eigenständige Gattung der Stadtklage kannte (Hillers, 1992, 36; Dobbs-Allsopp, 1997), lässt sich nicht mehr zuverlässig rekonstruieren, auch wenn manches dafür spricht (Berges, 2002, 51).
Die Klagelieder des Buches → Threni
Diese Erkenntnis ist insofern nicht neu, als schon Hardmeier (1978) in bestimmten Texten vorexilisch-prophetischer Untergangsansage Elemente einer Klagegattung fand, die sich weder als Volksklage noch als individuelle Leichenklage beschreiben ließ. Er nannte sie „Untergangsklage“. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass kollektive Vernichtungserfahrungen in Formen individueller Leichenklage vorgebracht werden. Hardmeier berührte nur am Rande das Phänomen, dass diese Übertragung gerade dadurch funktioniert, dass die politische Größe (Volk, Stadt, Land) personifiziert wird – und auf diese Weise sowohl beklagt wird als auch selbst ihr eigenes Schicksal beklagen kann. Von dem geschilderten religionsgeschichtlichen Hintergrund her lassen sich diese Klageelemente nun präziser als Stadtklageelemente beschreiben – ohne damit sagen zu wollen, dass den entsprechenden Prophetentexten zwingend eine Grundform israelitischer Stadtklage vorgelegen haben muss. Es kann sich auch um literarische Aufnahme außerisraelitischer Stadtklagetraditionen handeln.
3.1.1. Amos, Micha und Jesaja. Personifizierende Klageelemente finden sich in ihrer frühesten Form in prophetischen Unheilsansagen. So bietet Am 5,2
Mi 1,8-9
In dieselbe historische Situation lässt sich ein ähnlicher Text einzeichnen. In Jes 22,4
3.1.2. Jeremia. Von Begriffen und Motiven der Stadt- oder Untergangsklage sind auch frühe Sammlungen von Unheilsansagen des Jeremiabuches geprägt, wie sie in den Grundschichten von Jer 4-6 und Jer 8-10 greifbar sind (zu den Ursprüngen des Jeremiabuches s. Albertz, 1982; Pohlmann, 1989; Biddle, 1990). Die Stadt klagt als Frau über ihre Schmerzen („Wehen“), die Verheerung des Landes und ihrer „Zelte“ (Jer 4,19-21
Die jeremianischen Unheilsankündigungen lassen sich in die Zeit der zunehmenden babylonischen Bedrohung Jerusalems im 6. Jh. v. Chr. einzeichnen. Erst zu diesem Zeitpunkt setzt eine breite textliche Überlieferung für die Personifikation Jerusalems ein, die sich in den Klagetexten prophetischer Unheilsansagen findet. In proleptischer und echter Klage wird das Unglück artikuliert, das die Stadt betrifft oder zu betreffen droht – und zwar in Formen, die den Hörern bekannt sind und deren Wirkung sie sich nicht entziehen können.
3.1.3. Klagelieder. Klgl 1 und Klgl 2 (und weniger prominent auch Klgl 4) schließlich entfalten in einzigartiger Ausführlichkeit und Detailliertheit diese Personifikation. Zion bittet mütterlich um „ihre Kinder“ (Klgl 1,16
Aber es bleibt nicht bei der Klage. Auffällig ist, dass Threni schon Schuld reflektierende Elemente bis hin zum echten Schuldbekenntnis kennt (Klgl 1,5
3.2. Die Anklagen
Die zweite Textsorte, in denen Jerusalem breit als Frau personifiziert wird, nimmt zwar auf die Klage Bezug, unterscheidet sich aber in Motiv und Inhalt deutlich. Jerusalem wird als Ehebrecherin und Hure denunziert. Entgegen mancher Versuche (Fitzgerald, 1972) ist diese Redeweise nicht aus außerbiblischen Quellen zu erklären. Sie hat sich in Israel entwickelt und zwar vermutlich im Reflex auf den Untergang der Stadt, deren Zerstörung nun durch den Hinweis auf ihre eigene Schuld erklärt werden soll. Literarisches Vorbild für diese Schuldaufweise ist ein Text, der sich in der Einleitung des Hoseabuches findet.
3.2.1. Hosea. Hos 2,4-15
3.2.2. Jeremia. Der in Hos 2 vorgeprägte Gebrauch der Ehebruch-Metapher (Schulz-Rauch, 1996) wird in den sog. 2.Sg.Fem.-Texten des Jeremiabuches (Levin, 1985) entfaltet. Auf literargeschichtlicher Ebene wird in diesen vor-deuteronomistischen Texten vermutlich eine Art „Schuldübernahme-Redaktion“ des Jeremiabuches greifbar (Biddle, 1990; Schmid, 1996, 330-338). Die personifizierenden Unheilsansagen werden gerahmt und gespickt mit Schuldaufweisen. Jerusalem wird vorgeworfen, in ihrer „Begierde“ Fremden gefolgt zu sein, ihr eigentliches „Joch“ zerbrochen zu haben, „Liebe“ gesucht und „Böses“ gefunden zu haben – und zwar in Ägypten und Assur (Jer 2,14-15
Die theologiegeschichtliche Bedeutung dieser Texte liegt darin, dass sie zwei getrennte Vorstellungshorizonte verschmelzen: die durch hoseanische Überlieferung geprägte Anklage eines als „Hure“ und „Ehebrecherin“ personifizierten Gegenübers und die Vorstellung von der Stadt als weiblichem Kriegsopfer in der Stadtklage. Beide werden in diesen Bearbeitungen so aufeinander bezogen, dass der Hinweis auf die „Hurerei“, das beklagte Unheil Jerusalems zu begründen vermag (Wischnowsky, 2001, 142-146). Das Opfer wird zur Täterin. Die „Liebe zu Assur und zu Ägypten“ wird zur Chiffre für die politische und religiöse Abwendung Jerusalems von dem, was Jahwe durch seine Propheten gefordert hatte. Gott hat nicht willkürlich gehandelt, sondern gerecht.
3.2.3. Jesaja. Jes 1,21-26
3.2.4. Ezechiel. Sehr viel ausführlicher noch wird diese Redeweise in zwei Kapiteln des Ezechielbuches greifbar. Ez 16
Dabei erscheint die Sprache der Texte, in der Ezechiel die politische und religiöse Abtrünnigkeit Israels als sexuelle Deviation brandmarkt, so drastisch und erniedrigend, dass sich auch eingedenk ihres metaphorischen Charakters die Frage stellt, warum die Verfasser weibliche Sexualität als derart feindlich wahrnehmen (Galambush, 1992; v. Dijk-Hemmes, 1993; Maier, 1994), und zugleich weitergehend zu bedenken, wie in der Gegenwart mit solchen Texten umgegangen werden kann (Caroll, 1995; Brenner, 1996).
3.3. Die Heilsankündigungen
Am Ende der traditionsgeschichtlichen Entwicklung finden sich in breiter Entfaltung Texte, die unser Bild von der „Tochter Zion“ bis heute prägen. Die Stadt wird zur Adressatin freudiger Nachricht von Wiederaufbau und Restauration.
3.3.1. Jeremia. Frühe Belege für die Wendung der Klage bietet wiederum das Jeremiabuch im sog. Trostbüchlein Jer 30f (Fischer, 1993). In literarischer Aufnahme der Klagen (Jer 8,22
3.3.2. Deutero- und Tritojesaja. Wie lange gesehen, entfaltet die Personifikation Jerusalems in Jes 40-66 buchprägende und buchgestaltende Funktion (Sawyer, 1989). Dabei hat vermutlich schon die Grundschrift eines Deuterojesajabuches in Prolog und Epilog die Heilsverheißung an Zion geboten (Steck, 1992a, 118; Kratz, 1993; van Oorschot, 1993, 123-127; Berges, 1998, 380-382). Schon hier, in Jes 40,1-5
In immer neuen literarischen Schritten wird dann in Jes 40-66 entfaltet, wie sich das heilvolle Schicksal der Stadt gestalten wird. Zion selbst soll zur Freudenbotin für die Städte Judas werden und Jahwes Kommen mit „seiner Herde“ der Rückkehrer aus dem Exil ankündigen (Jes 40,9-11
In Jes 60 schließlich wird Zion als „Licht der Völker“ angeredet, ein Attribut, das zuvor dem anonymen „Gottesknecht“ zukam (Jes 42,6
Jes 61 lässt sich im Kontext als Antwort der Frau Jerusalem lesen (Berges, 1996, 424; Wischnowsky, 2001, 231f; auch wenn die Deutung des Ich im Text umstritten bleibt, vgl. Koenen, 1990, 103-108). Zion nimmt die ihr in Jes 40,9-11
Jes 62 schließt dagegen formal wieder an Jes 60 an und lässt die Hochzeitsmetaphorik von Jes 54,4-6
Auch Jes 66,6-13
So umspannen diese deutero- und tritojesajanischen Heilsverheißungen historisch eine weite Zeit: Von der ersten zaghaften Hoffnung auf die Wiederherstellung der Stadt und die Rückkehr der Gola nach den Niederlagen des babylonischen Reiches gegen Kyros über die ersten Erfolge der Restauration mit persischer Hilfe bis hin zu den Enttäuschungen über die Mühen des Aufbaus, das Zurückbleiben des Umlandes, das Ausbleiben politischer Autonomie und die fehlende Rückkehrbereitschaft der Diaspora.
3.3.3. Dodekapropheton. Originell ist eine weitere, Zion personifizierende Spruchsammlung in Mi 4,8
Von Deuterojesaja und den spätprophetischen Schriften führt der Weg dann in Texte der zwischentestamentlichen Literatur wie Tob 13,10-18
4. Theologiegeschichtliche Bedeutung
Die Personifikation Jerusalems als „Tochter Zion“ findet ihren Ausgangspunkt in der Klage über ihre Bedrohung und Zerstörung. In einer geschichtlichen Situation höchster – auch theologischer – Not artikulieren die prophetischen Unheilsansagen dies mittels der Gattung der Stadtklage. Die Personifikation erweist sich dabei insofern als besonders geeignetes poetisches Mittel, als sie die kollektive Erfahrung der Bevölkerung im Leiden einer individuellen Figur spiegelt. So können die menschlich-emotionalen Aspekte der Bedrohung durch Krieg und Fremdherrschaft zur Sprache kommen und identifikatorische Wirkung entfalten, ohne dass die eine kollektive Erfahrung des Volkes in eine Vielzahl von Einzelerfahrungen aufgelöst werden muss. Die „Tochter Zion“ ist und bleibt Individuum und Kollektiv zugleich. Im kulturellen Code der Zeit steht ihre Weiblichkeit dabei insbesondere für Bewahrung, Aufbau, Ernährung sowie Zusammenleben (Follis, 1987, 176f.) und ihr Klagen für Störung und Verlust.
Auch in der Folge verliert die Frau Zion ihre Eigenständigkeit als Gestalt nie ganz. Die Anklagen spielen sprachlich mit der Möglichkeit, in der Figur Zion zwar das Volk anzuklagen, aber auch zwischen Zion und dem Volk zu unterscheiden. Dieser Eindruck wird in den Heilsankündigungen noch verstärkt. Gerade diese Texte zeigen, dass sich mit dem metaphorischen Konzept auch eine theologische Aussage verbindet, die einen Weg aus der zionstheologischen Katastrophe des 6. Jh.s v. Chr. weisen will. Die Verheißungen an die „Tochter Zion“ binden die Heilsgarantien eben nicht mehr an die Stadt Zion, sondern an die Gestalt. Auf diesem Wege konnte die Heiligkeit des Ortes bewahrt werden, die sich nun nicht mehr über den (entweihten und noch nicht vollständig wiederhergestellten) Tempel und seinen Dienst, über das (gedemütigte und verlorene) davidische Königtum oder über die (ad absurdum geführte) mythologische Vorstellung von der Unbesiegbarkeit des Zionsberges vermitteln ließ (Ps 46; Ps 48; dazu Spieckermann, 1992). Die Würde der Frau Zion dagegen verdankt sich ihrer exklusiven personalen Beziehung zu Jahwe, der die Zerstörung des Tempels und ihrer Bauwerke, die Deportation des Königs und ihrer Bevölkerung letztlich nichts anhaben können, wenn Jahwe diese Beziehung erneuert. Weil Jahwe seine Stadt so liebt, ist es heilvoll, in ihr geboren zu sein (Ps 87; dazu Schmitt, 1990).
Theologisch entscheidend bleibt, dass diese Annahme erst möglich wird durch Schuldaufweis und Schuldannahme. So wird daran festgehalten, dass Jahwes zerstörender Zorn kein Akt der Willkür war, sondern begründet in der vorgängigen Untreue Jerusalems selbst. Jahwe ist ein gerechter Gott. Jerusalems erneute Annahme und abschließende Erhöhung zur königlichen Braut Jahwes, zur Freudenbotin und Lichtgestalt verdankt sich seiner Gnade. Erst sie lässt die Stadt teilhaben an Gottes Offenbarung als König der Welt und hebt sie eschatologisch in die Rolle der Heil vermittelnden Gottesstadt.
Literaturverzeichnis
1. Quellen
- Cohen, M.E., 1988, Canonical Lamentations of Ancient Mesopotamia, Potomac/Maryland
- Falkenstein, A. / von Soden, W., 1953, Sumerische und akkadische Hymnen und Gebete, Zürich / Stuttgart (= SAHG)
- Green, M.W., 1978, The Eridu Lament, JCS 30, 127-167
- Green, M.W., 1984, The Uruk Lament, JAOS 104, 253-279
- Jacobsen, T., 1987, The Harps that once … . Sumerian Poetry in Translation, New Haven / London
- Kramer, S.N., 2. Aufl. 1955, Lamentation over the Destruction of Ur, ANET, 455-463
- Kramer, S.N., 1969, Lamentation over the Destruction of Sumer and Ur, ANET.S, 611-619
- Kramer, S.N., 1991, Lamentation over the Destruction of Nippur, ASJ 13, 1-25
2. Lexikonartikel
- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
- Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, München / Zürich 1978-1979
- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998ff.
- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
3. Weitere Literatur
- Abma, R., 1999, Bonds of Love: Methodic Studies of Prophetic Texts with Marriage Imagery (Isaiah 50:1-3 and 54:1-10, Hosea 1-3, Jeremiah 2-3), (SSN 40), Assen
- Albertz, R., 1982, Jeremia 2-6 und die Frühzeitverkündigung Jeremias, ZAW 94, 20-47
- Berges, U., 1998, Das Buch Jesaja. Komposition und Endgestalt (HBS 16), Freiburg u.a.
- Berges, U., 2002, Klagelieder (HThKAT), Freiburg u.a.
- Biddle, M.E., 1990, A Redaction History of Jeremiah 2:1-4:2 (AThANT 77), Zürich
- Biddle, M.E., 1991, The Figure of Lady Jerusalem. Identification, Deification, and Personification of Cities in the Ancient Near East, in: K.L. Younger / W.H. Hallo / B.F. Batto (Hgg.), The Biblical Canon in Comparative Perspective. Scripture in Context IV (Ancient Near Eastern Texts and Studies 11), Lewiston, 173-194
- Brenner, A., 1996, Pornoprophetics revisited: Some additional Reflections, JSOT 70, 63-86
- Brenner, A. / van Dijk-Hemmes, F., 1993, On Gendering Texts. Female and Male Voices in the Hebrew Bible, Leiden
- Carroll, R.P., 1995, Desire under the Terebinths. On Pornographic Representation in the Prophets – A Response, in: A. Brenner (Hg.), Feminist Companion to the Latter Prophets, Sheffield, 275-307
- Cohen, C., 1973, The ‚Widowed’ City, JANES 5, 75-81
- Dietrich, W., 1994, Der Eine Gott als Symbol des politischen Widerstandes. Religion und Politik im Juda des 7. Jahrhunderts, in: W. Dietrich / M.A. Klopfenstein (Hgg.), Ein Gott allein?, Jahwe-Verehrung und biblischer Monotheismus im Kontext der israelitischen und altorientalischen Religionsgeschichte (OBO 139), Freiburg (Schweiz) / Göttingen, 463-490
- Van Dijk-Hemmes, F., 1993, The Metaphorization of Woman in Prophetic Speech. An Analysis of Ezekiel 23, VT 43, 162-169
- Dobbs-Allsopp, F.W., 1997, Weep, O Daughter of Zion. A Study of the City-Lament Genre in the Hebrew Bible (BibOr 44), Rom
- Emmendörffer, M., 1998, Der ferne Gott. Eine Untersuchung der alttestamentlichen Volksklagelieder vor dem Hintergrund der mesopotamischen Literatur (FAT 21), Tübingen
- Fischer, G., 1993, Das Trostbüchlein. Text, Komposition und Theologie von Jeremia 30-31 (SBS 26), Stuttgart
- Fischer, I., 1998, Das Buch Jesaja. Das Buch der weiblichen Metaphern, in: L. Schottroff / M.T. Wacker (Hgg.), Kompendium Feministische Theologie, Gütersloh, 246-257
- Fitzgerald, A., 1972, The Mythological Background for the Presentation of Jerusalem as a Queen and False Worship as Adultery in the Old Testament, CBQ 34, 403-416
- Fitzgerald, A., 1975, BTWLT and BT as Titles for Capital Cities, CBQ 37, 167-183
- Follis, E.R., 1987, The Holy City as Daughter, in: E.R. Follis (Hg.), Directions in Biblical Hebrew Poetry (JSOT.S 40), Sheffield, 173-184
- Frymer-Kensky, T., 1992, In the Wake of the Goddesses. Women, Culture, and the Biblical Transformation of Pagan Myth, New York
- Galambush, 1992, Jerusalem in the Book of Ezekiel. The City as Yahweh’s Wife (SBL.DS 130), Atlanta
- Gwaltney, W.C., 1983, The Biblical Book of Lamentations in the Context of Near Eastern Lament Literature, in: W.W. Hallo / J.C. Moyer / C.G. Perude (Hgg.), More Essays on the Comparative Method (SIC 2), Winona Lake
- Hardmeier, C., 1978, Texttheorie und biblische Exegese. Zur rhetorischen Funktion der Trauermetaphorik in der Prophetie (BET 79), München
- Häusl, M., 1998, Die Klagelieder. Zions Stimme in der Not, in: L. Schottroff / M.T. Wacker (Hgg.), Kompendium Feministische Theologie, Gütersloh, 270-277
- Hillers, D.R., 2. Aufl. 1992, Lamentations. A New Translation with Introduction and Commentary (AncB 7A), New York u.a.
- Kaiser, B.B., 1987, The Poet as „Female Impersonator“. The Image of Daughter Zion as Speaker in Biblical Poems of Suffering, Journal of Religion 67, 164-182
- Kaiser, O., 4. Aufl. 1992, Klagelieder (ATD 16/2), Göttingen
- Koenen, K., 1990, Ethik und Eschatologie im Tritojesajabuch. Eine literarkritische und redaktionsgeschichtliche Studie (WMANT 62), Neukirchen-Vluyn
- Kramer, S.N., 1983, The Weeping Goddess. Sumerian Prototypes of the Mater Dolorosa, BA 46, 69-80
- Kratz, R.G., 1993, Der Anfang des Zweiten Jesaja in Jes 40,1f. und seine literarischen Horizonte, ZAW 105, 400-419
- Levin, C., 1985, Die Verheißung des neuen Bundes in ihrem theologiegeschichtlichen Zusammenhang ausgelegt (FRLANT 137), Göttingen
- Maier, C., 1994, Jerusalem als Ehebrecherin in Ezechiel 16. Zur Verwendung und Funktion einer biblischen Metapher, in: H. Jahnow u.a. (Hgg.), Feministische Hermeneutik und Erstes Testament, Stuttgart, 85-105
- Maier, C., 2003, Tochter Zion im Jeremiabuch. Eine literarische Personifikation mit altorientalischem Hintergrund, in: I. Fischer / K. Schmid / H.G.M. Williamson (Hgg.), Prophetie in Israel (ATM 11), Münster, 157-167
- Michalowski, P., 1989, The Lamentation over the Destruction of Sumer and Ur (Mesopotamien Civilizations 1), Winona Lake
- Van Oorschot, J., 1993, Von Babel zum Zion. Eine literarkritische und redaktionsgeschichtliche Untersuchung (BZAW 206), Berlin / New York
- Pohlmann, K.-F., 1989, Die Ferne Gottes – Studien zum Jeremiabuch. Beiträge zu den „Konfessionen“ im Jeremiabuch und ein Versuch zur Frage nach den Anfängen der Jeremiatradition (BZAW 179), Berlin / New York
- Sawyer, J.F.A., 1989, Daughter of Zion and Servant of the Lord in Isaiah. A Comparison, JSOT 44, 89-107
- Schmid, K., 1996, Buchgestalten des Jeremiabuches. Untersuchungen zur Redaktions- und Rezeptionsgeschichte von Jeremia 30-33 im Kontext des Buches (WMANT 72), Neukirchen-Vluyn
- Schmitt, J.J., 1985, Motherhood of God and Zion as Mother, RB 92, 557-569
- Schmitt, J.J., 1990, Psalm 87. Zion, The City of God’s Love, in: J.C. Knight / C.A. Sinclair (Hgg.), The Psalms and other Studies on the Old Testament (FS J.I. Hunt), Nashota, 34-44
- Schmitt, J.J., 1995, Yahweh’s Divorce in Hosea 2 – who is that Woman?, SJOT 9, 119-132
- Schottroff, L., 1993, „Freue dich, du Unfruchtbare“ – Zion als Mutter in 4. Esra 9-10 und Gal 4,21-31, in: T. Schneider / H. Schüngel-Straumann (Hgg.), Theologie zwischen Zeiten und Kontinenten (FS E. Gössmann), Freiburg u.a., 31-43
- Schulz-Rauch, M., 1996, Hosea und Jeremia. Zur Wirkungsgeschichte des Hoseabuches (CTM A/16), Stuttgart
- Schüngel-Straumann, H., 1993, Mutter Zion im Alten Testament, in: T. Schneider / H. Schüngel-Straumann (Hgg.), Theologie zwischen Zeiten und Kontinenten (FS E. Gössmann), Freiburg u.a., 19-30
- Spieckermann, H., 1992, Stadtgott und Gottesstadt. Beobachtungen im Alten Orient und im Alten Testament, Bib 73, 1-31
- Steck, O.H., 1992a, Beobachtungen zu den Zion-Texten in Jesaja 51-54. Ein redaktionsgeschichtlicher Versuch, in: O.H. Steck, Gottesknecht und Zion. Gesammelte Aufsätze zu Deuterojesaja (FAT 4), Tübingen, 96-125
- Steck, O.H., 1992b, Zion als Gelände und Gestalt. Überlegungen zur Wahrnehmung Jerusalems als Stadt und Frau im Alten Testament, in: O.H. Steck, Gottesknecht und Zion. Gesammelte Aufsätze zu Deuterojesaja (FAT 4), Tübingen, 126-145
- Steck, O.H., 1991, Lumen Gentium. Exegetische Bemerkungen zum Grundsinn von Jes 60,1-3, in: O.H. Steck, Studien zu Tritojesaja (BZAW 203), Berlin / New York, 101-105
- Stoltmann, D., 1999, Jerusalem – Mutter – Stadt (MthA 57), Altenberge, 19-78
- Turner, M.D., 1992, Daughter Zion. Lament and Restoration, Diss PhD, Emory
- Wacker, M.T., 1996, Figurationen des Weiblichen im Hosea-Buch (HBS 8), Freiburg u.a.
- Weider, A., 1993, Ehemetaphorik in prophetischer Verkündigung. Hosea 1-3 und seine Wirkungsgeschichte im Jeremiabuch (fzb 71), Würzburg
- Westermann, C., 1990, Die Klagelieder. Forschungsgeschichte und Auslegung, Neukirchen-Vluyn
- Willey, P.T., 1997, Remember the Former Things. The Recollection of Previous Texts in Second Isaiah (SBL.DS 161), Atlanta
- Willis, J.T., 1986, Lament Reversed – Isaiah 1,21ff., ZAW 98, 236-248
- Wischnowsky, M., 1998, Jerusalems herrliche Herde (Jer 13,20) – Ein Beispiel für eine verborgene Bezugnahme im Jeremiabuch, ZAW 110, 610-614
- Wischnowsky, M., 2001, Tochter Zion. Aufnahme und Überwindung der Stadtklage in den Prophetenschriften des Alten Testaments (WMANT 89), Neukirchen-Vluyn
Abbildungsverzeichnis
- Assurscharrat, Gemahlin Assurbanipals, mit Mauerkronendiadem auf dem Kopf (Fragment einer Stele aus Assur; 7. Jh. v. Chr.). Aus: O. Keel, Das Hohelied (ZBK 18), Zürich 1986, Abb. 79; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
- Stillende Göttin (Elfenbeinrelief aus Ugarit; um 1380 v. Chr.). Aus: U. Winter, Frau und Göttin. Exegetische und ikonographische Studien zum weiblichen Gottesbild im Alten Israel und in dessen Umwelt (OBO 53), Freiburg (Schweiz) / Göttingen 1983, Abb. 409; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download:
Abbildungen
Unser besonderer Dank gilt allen Personen und Institutionen, die für WiBiLex Abbildungen zur Verfügung gestellt bzw. deren Verwendung in WiBiLex gestattet haben, insbesondere der Stiftung BIBEL+ORIENT (Freiburg/Schweiz)