Trauer (AT)
(erstellt: April 2012)
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→ Klagefeier
Im Alten Testament begegnen Trauer als → Ritual
1. Begrifflichkeit
Klarer als die deutsche Sprache unterscheidet die hebräische lexikalisch zwischen Trauerritual und emotionaler Traurigkeit, doch finden sich bestimmte Ausdrucksformen, wie etwa „weinen“ oder „seufzen“, in beiden Begriffsfeldern.
„Trauern“ wird überwiegend mit אבל ’bl, ספד spd oder (selten) mit קדר qdr bezeichnet. Alle drei Wurzeln meinen rituelle Ausdrucks- und Bewältigungsformen der Trauer, setzen aber unterschiedliche Akzente (s. 2.2.). Daneben können einzelne Riten bzw. Bräuche sowie die vielfältigen Termini für „klagen“ Trauer ausdrücken.
Wesentlich vielfältiger ist der sprachliche Ausdruck für die traurige Gestimmtheit. Inwieweit Termini für „Kummer“, „Sorge“, „Leid“ usw. auch Traurigkeit konnotieren, ist jeweils von Text zu Text zu entscheiden.
2. Rituelle Trauer
„Trauer ist die Reaktion auf einen Verlust, besonders auf den Verlust eines bedeutsamen Menschen durch Tod oder Trennung. Aber auch der Abschied von vertrauten Lebensverhältnissen und Lebensphasen, von körperlicher und seelischer Unversehrtheit und – angesichts des Todes – von Leben überhaupt lösen Trauer aus.“ (Wagner-Rau, 555). Im Alten Testament nimmt innerhalb dieses Rahmens vor allem die kollektive Trauer breiten Raum ein. Natürliche oder politisch-soziale Verlustereignisse werden in Trauervorgänge umgesetzt (→ Klagefeier
Trauer ist ein häufiger Topos alttestamentlicher Texte, in der Erzählüberlieferung wie in den Psalmen und bei den Propheten. Sogar das Recht regelt die Normen von Trauerbräuchen. Der Befund kann nicht verwundern, denn Tod, Schmerz und Schrecken sind den Menschen im alten Israel mindestens ebenso präsent wie der modernen Welt. Der Zugang des Alten Testaments zu Tod und Trauer ist dem neuzeitlichen Publikum aber nur in literarisch-theologischer Brechung – und häufig sogar nur in literarischer Funktionalisierung – überliefert. Insofern gibt es eine schwer überschreitbare Grenze zur „Welt“ des Alten Testaments und seiner Sicht auf den Menschen und seine Trauer.
2.1. Anlässe
2.1.1. Individuelle Trauer. Im individuellen Leben und – davon nicht zu trennen – in der familiären und dörflichen Gemeinschaft bildet der → Tod
Schwer einzuschätzen ist Ri 11,29-39
2.1.2. Kollektive Trauer. Politische Ereignisse und Naturkatastrophen bilden den Anlass für kollektive Trauer. Unter den politischen Ereignissen ist besonders die Trauerfeier für → Saul
Breit bezeugt ist die kollektive Trauer anlässlich militärischer Niederlagen (Ri 2,18
2.1.3. Trauer als Todeserfahrung. Sowohl die individuelle als auch die kollektive Trauer sind im Alten Testament nicht nur Reaktionen auf einen Verlust, sondern auch Reaktionen auf Begegnungen mit dem Tod. So tritt in den meisten Texten die Trauer hinter dem Schrecken, der Angst und der Abwehr deutlich zurück. Aus diesem Grund unterscheiden sich Trauerbräuche anlässlich des Todes nicht wesentlich von Begehungen bei Katastrophen (vgl. ausführlich Emmendörffer, 8-11). Beide gründen in einer dynamischen Todesvorstellung, die um die Macht des Todes weiß, in das Leben einzubrechen und es damit in Frage zu stellen. Diese Wahrnehmung der Dynamik des Todes ist überaus differenziert und überdies in unseren Texten meist reflektiert und literarisch verdichtet (umfassend dargestellt bei M. Krieg). Als ebenso differenziert sind die Ausdrucksformen der Todeserfahrung zu betrachten, wie sie sich am Körper und in der Stimme darstellen. Auch sie sind selten eindeutig, sondern beziehen sich auf einen Vorstellungs- und Gefühlskomplex.
2.2. Ausdrucksformen
Der Anlass zur Trauer setzt ein vielfältiges und differenziertes Geflecht sprachlicher und nicht-sprachlicher Handlungen in Gang, die der Trauer Ausdruck verleihen, um ein Unheil zu bewältigen. Meist werden sie in rituelle Zusammenhänge eingebunden (→ Ritual
2.2.1. Sprachliche Ausdrucksformen
Die sprachliche Ausdrucksform der Trauer ist das Leichenlied (קִינָה qînāh) bzw. die Untergangsklage (נְהִי nəhî), deren Formulierung und Vortrag Sache von Spezialisten und Spezialistinnen war (→ Totenklage
2.2.2. Rituelle Ausdrucksformen
2.2.2.1. Körpergestik. An nicht-sprachlichen Ausdrucksformen der Trauer sind im Alten Testament die folgenden belegt: Das Zerreißen der Kleidung (Gen 37,34
Diese – nicht israel-spezifischen – Trauerbräuche werden im Anschluss an Ernst Kutsch als „Selbstminderungsriten“ bezeichnet: „Als Verminderung der täglichen Lebensgewohnheiten stellen sie die zeitlich befristete Aufgabe kulturellen Lebens dar … sie ermöglichen eine mimische und gestische Verkörperung der durch das Todesgeschick ausgelösten Emotionen und der damit verbundenen Sinn- und Lebenskrise“ (Podella, 2005, 559f).
Indes gibt es im Trauerfall nach den alttestamentlichen Belegen keine reine „Gestik“, sondern der ganze Körper wird in den Ausdrucksraum der Trauer verwandelt, sei es durch die Veränderung der → Kleidung
Das Anlegen des שַׂק śaq-Schurz. Das Kleidungsstück שַׂק śaq (→ Kleidung
Das Anlegen des שַׂק śaq verändert die Erscheinung des Menschen für die Dauer seiner Trauerzeit. Im Gegensatz zum sonst Üblichen tritt er halbnackt auf, wobei der שַׂק śaq sich vom gewöhnlichen Lendentuch noch einmal unterscheidet und somit auf eine Ausnahmesituation verweist. So ist eine weitgehende Nacktheit das äußere Kennzeichen für Trauer in Israel. Dieses Bild muss mitgedacht werden, wenn in den Texten vom „Anlegen“ des שַׂק śaq die Rede ist, sprachlich wird die Umgestaltung des Körpers jedoch im Ausdruck „den שַׂק śaq anlegen“ verdichtet.
ספד spd „Trauerriten durchführen“. Auch ספד spd „(um einen Toten) trauern“ darf wohl als sprachliche Abbreviatur einer Geste betrachtet werden. Das Verb wird in der Regel auf das An-die-Brust-Schlagen bezogen. An alttestamentlichen Texten steht dafür nur Jes 32,12
Das Tragen des שַׂק śaq und das „Schlagen“ (ספד spd) dürften die grundlegenden Gesten zum Ausdruck der Trauer in Israel gewesen sein. Die weiteren genannten Gesten lagern sich dem an und verstärken den einen oder anderen Aspekt; möglicherweise haben sich die Bräuche mit der Zeit und / oder je nach Anlass auch gewandelt.
2.2.2.2. Gesichtsmimik. Trauer und Schrecken werden auch in Israel nicht nur mit dem Körper ausgedrückt („Gestik“), sondern auch mit dem Gesicht („Mimik“). In diesem Bereich muss man indes noch wesentlich stärker von den Texten abstrahieren als bei der Gestik. Für Gesichtsausdrücke anlässlich der Trauer, der Angst und des Schreckens hat das Alte Testament eine große Bandbreite an individuellen und literarisch verdichteten Formulierungen gefunden, die kaum jemals auf eine allgemeine oder übliche Reaktion verweisen, sondern jeweils für ihren Kontext bestimmt sind. → Weinen
Weist schon das „laute Weinen“ auf eine entsprechende Mimik, so gilt dies noch mehr für die Stimmäußerungen im Zusammenhang mit der Trauer: Sie verändern das Gesicht. Das Alte Testament kennt die Trauerrufe הוֹי hôj bzw. אֵיכָה ’ekhāh „ach!“ / „weh!“. Der entsprechende Gesichtsausdruck, der durch die Lautbildung bedingt ist, kann leicht imaginiert werden. Dabei ist die konkrete Funktion bzw. Bedeutung dieser desemantisierten Laute schwer zu bestimmen, sie kann sich gleichermaßen auf Angst, Trauer oder Abwehr beziehen. Wahrscheinlich ist auch hier von einem undifferenzierten Ausdrucksbündel auszugehen.
2.2.3. Die Ausdrucksformen als Symbolen des Todes
Der jeweilige sprachliche Ausdruck stellt eine Abbreviatur einer Geste bzw. einer Handlung dar, mit dem diese in den Raum der Sprache übergeht. Indes sind auch die Gesten oder Handlungen selbst als Verdichtungen und Verkürzungen anzusehen. In ihnen kommt symbolisch „der Tod“ als Ganzer zum Ausdruck und zwar als Komplex von Vorstellungen, Haltungen, Emotionen und Beziehungen, dessen Einzelaspekte nicht trennscharf voneinander abzugrenzen sind.
2.2.3.1. Der שַׂק śaq-Schurz. Der שַׂק śaq verändert das Erscheinungsbild eines Menschen so, dass sonst geltende Erscheinungsformen außer Kraft gesetzt werden. Was üblicherweise bedeckt ist, ist jetzt unbedeckt. Damit gilt ein neuer sozial-anthropologischer Deuterahmen für die Erscheinung des menschlichen Körpers. (Partielle) Nacktheit ist nicht mehr tabu, Geschlechter definieren sich nicht mehr über Kleidung, sondern über ihre Körper. Dasselbe gilt für den sozialen Status, der mit dem שַׂק śaq verwischt wird. In der Ausdrucksform des שַׂק śaq; werden angesichts des Todes alle Menschen gleich. Bereits hiermit deutet sich eine Vielzahl möglicher Konnotationen der Geste שַׂק śaq an: Die „Solidarität“ mit dem Toten in Form der symbolischen Minderexistenz, die Abbildung der Andersartigkeit des Toten, auch ein symbolisch-solidarischer Rollentausch. Mitgesetzt ist mit Sicherheit auch das Bewusstsein um Sterblichkeit als anthropologische Konstante: Im Tod und angesichts des Todes sind alle Menschen gleich, nämlich Körper. Insofern enthält die Geste des שַׂק śaq neben allen anderen Aspekten auch das Element des memento mori und damit ein Moment der Bewältigung des Todes durch Bewusstmachen der eigenen Sterblichkeit. Deutet der שַׂק śaq somit auf die Verdeutlichung anthropologischer Konzepte durch die Geste, setzt er gleichzeitig und zusätzlich auch einen kosmologischen Akzent. Kleidung setzt üblicherweise Grenzen. Wird diese Grenzsetzung aufgehoben, wird eine Überschreitung von Räumen markiert. Die partielle Nacktheit von שַׂק śaq-Tragenden kennzeichnet somit auch und nicht zuletzt, dass das Milieu des Todes in die Welt der Lebenden eingebrochen ist, dass sich also Grenzen verschoben haben. Was üblicherweise „draußen“ oder „unten“ ist, weilt nun mitten in der Welt. Auch damit wird der Tod gleichermaßen ausgedrückt wie angeeignet und sei es nur für kurze Zeit.
2.2.3.2. ספד spd „Trauerriten durchführen“. Auch ספד spd macht ein ganzes Bündel von Vorstellungen sichtbar, die ebenso wie der שַׂק śaq auf die eigene Emotionalität wie auf allgemein geltende Sachverhalte weisen. Zunächst werden Trauer und Angst auf diesem Wege sichtbar und erfahrbar als Schmerz – und sei es auch nur in überaus verkürzter Form. Damit bekommt die Emotionen, die mit dem Tod verknüpft sind, die Möglichkeit des Ausdrucks und zwar in ganz grundsätzlicher Weise auch für jene, die zum sprachlichen Ausdruck nicht in der Lage sind.
Wenn Ez 17,21
2.2.3.3. שַׂק śaq-Schurz und ספד spd „Trauerriten durchführen“. Berücksichtigt man, dass sich ספד spd möglicherweise gleichzeitig mit dem Tragen des שַׂק śaq vollzieht, dann drückt die grundlegende Trauergestik geradezu zwei vollständig gegensätzliche Wahrnehmungen des Todes gleichzeitig aus: Im שַׂק śaq macht sich der bzw. die Trauernde so totenähnlich wie möglich und vergegenwärtigt sich so den eigenen Tod und die eigene Sterblichkeit, durch ספד spd wird bewusst und deutlich, dass der bzw. die Hinterbliebene eben noch nicht tot ist. Im gemeinschaftlichen Trauern vergewissert sich die Gesellschaft somit auch der Gemeinschaft der Lebenden und trennt sich vom Tod und vom Toten. Rituelle Handlungen und begleitende Worte deuten diesen komplexen Gesamtzusammenhang und differenzieren ihn weiter aus, außerdem kann das weitgehend ungeordnete Konglomerat damit auch seine Ordnung erhalten.
Die Gestik angesichts des Todes im Alten Testament ist vielfältig und durchaus sprechend. Sie bezieht im Tragen des שַׂק śaq und in der Geste ספד spd den ganzen Körper in die Erfahrung des und die Reaktion auf den Tod ein und macht sie sichtbar und sinnfällig. Die Lebenden erscheinen einerseits als totenähnlich und vergewissern sich andererseits, dass sie noch leben. Für den Zeitrahmen der Trauer geben sie in der durch die Geste kontrollierte Zeit dem Tod seinen Raum im Leben.
2.2.3.4. Gesichtsmimik. In der Begegnung mit dem Tod spricht im Alten Testament nicht nur der Körper, sondern auch das Gesicht und die Stimme. „Mimik“, stimmliche Äußerungen fügen sich in den gesamten Ausdruck der Trauer ein und bilden somit die Begegnung mit dem Tod ab, der in das Leben eingebrochen ist. Auch die Termini der „Mimik“ und die Stimmäußerungen sind als sprachliche Abbreviaturen eines komplexen Vorgangs zu begreifen, der dem Unsagbaren Ausdruck verleiht. Da die mit der Stimme und dem Gesicht verbundenen Ausdrucksformen der Trauer meist unmittelbarer Reflex einer körperlich-physiologischen Reaktion sind, muss man hier von einem unmittelbareren Ausdrucksrepertoire ausgehen als bei der viel stärker kulturell und sozial semantisierten Gestik. Gleichwohl bildet der gesamte Körper bei der Trauer ein System von Ausdrucksformen, die gleichzeitig und auf vielen Ebenen Trauer abbilden. Unter diesem Horizont sind die nicht-sprachlichen Ausdrücke der Trauer wie auch das unartikulierte Weinen und Heulen als meta-sprachliche Ausdrucksformen zu verstehen, die die Erfahrung des Todes bzw. des Unheils und seiner Konsequenzen ausdrücken und damit bewältigen.
2.2.4. Präventives Fasten
Trauerbräuche bei drohendem Unglück (2Sam 11
2.3. Metaphorisierung
2.3.1. Trauer um eine nicht-menschliche Größe. Der Zustand bzw. der Vorgang der Trauer erscheint im Alten Testament häufig in metaphorischen Zusammenhängen. Die Propheten greifen in ihren Verkündigungen des (bevorstehenden) Gerichts auf Formen der Totenklage zurück und imaginieren bzw. inszenieren Israel als bereits tot und damit die Gottesbeziehung als abgebrochen (→ Totenklage
2.3.2. Eine nicht-menschliche Größe trauert. Außerdem erscheinen – ebenfalls in der Prophetie – nicht-menschliche Größen als Subjekte einer Trauer um Israel (Jes 19,8
3. Emotionale Traurigkeit
Während „Trauer“ auf ein konkretes Unglück reagiert und ihm sprachlich und metasprachlich Ausdruck verleiht, sind die Anlässe für Traurigkeit diffuser. Mithin lässt sich schon das lexikalische Feld nicht präzise erfassen. Die Wurzel יגה jgh „Kummer haben“ weist noch die meisten Berührungspunkte mit dem Phänomen Traurigkeit auf: „Mit ‚Kummer‘ ist nicht an einen einzelnen physischen oder psychischen Schmerz gedacht, sondern an eine Grundstimmung des Lebensgefühls, die sich aus dem unterschiedlichen Erleben von Schmerz, Leid, Gram u.ä. ergeben kann. ‚Kummer‘ ist das Gegenteil von Freude und Jubel.“ (Wagner, 407).
Drohend Verluste lösen Kummer aus (Gen 42,38
In den einschlägigen Texten fällt auf, wie sehr Teile des Gesichts, vor allem die Augen, zu Trägern der Empfindungen und Zustände personalisiert werden: Das Auge selbst kann „betrübt“ (Gen 45,20
Der hauptsächliche (Gesichts-)Ausdruck der Trauer und des Schmerzes ist das Weinen, das wie die im vorigen Abschnitt verhandelten Gesten beim Tod ebenso stattfindet wie bei der Katastrophe, außerdem in der persönlichen Not (Dtn 1,45
Literaturverzeichnis
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- Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 6. Aufl., München / Zürich 2004
- Calwer Bibellexikon, 2. Aufl., Stuttgart 2006
- Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006
2. Weitere Literatur
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- Wächter, Ludwig, Der Tod im Alten Testament (AzT 8), Stuttgart 1967
- Wolff, Hans Walter, Anthropologie des Alten Testaments, München 1973
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