Dynamis
(erstellt: Dezember 2010)
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Griech. δύναμις; Vermögen, Kraft, Macht
1. Bedeutungsspektrum
Dynamis ist mit seinen Ableitungen der mit Abstand am häufigsten verwendete Kraft-Begriff in der griechischen Sprache. Im klassischen Griechisch bezeichnet Dynamis ein Vermögen oder eine Fähigkeit, während andere Kraft-Begriffe, etwa ἰσχύς oder ἐνέργεια, das Wirken der Kraft zum Ausdruck bringen (vgl. Platon, Hippias Minor, 366b oder Aristoteles, Metaphysik 1049b, Schmidt, Synonymik, 663). Allerdings sind weder in vorklassischer Zeit, etwa in der Ilias oder Odyssee, noch im Koine-Griechisch des neutestamentlichen Zeitraums Bedeutungsdifferenzierungen dieser Art stabil. So kann im Neuen Testament Dynamis sehr wohl eine konkrete Krafttat bezeichnen (Mt 7,22
2. Religionsgeschichtliche Einordnung
„Das spätantike Weltbild wurde durch die Lehre von der Kraft zusammengehalten und belebt, wie unser Weltbild bis zu den letzten Entdeckungen der Physik durch die Lehre von der Gravitation zusammengehalten, freilich nicht belebt wird“ (M. P. Nilsson, Griechische Religion 2 / 4, 704). Die neutestamentlichen Schriften entstehen in einer Zeit, in der jedem Teil der Wirklichkeit, irdisch oder transzendent, tote Materie oder lebendiges Wesen, ein spezifisches Maß an Dynamis zugemessen wurde. Dafür gibt es eine Fülle von Belegen vor allem aus der Profangräzität (vgl. ausführlich die Belege bei Krug, Kraft, 40ff, exemplarisch für Menschen: Aristoteles, De caelo 275b; Platon, De re publica 477cff; für Pflanzen und Tiere: Xenophon, Cyr. VIII 8,14; für Materie: Platon, Ion 533e; Heliodor, Aeth. VIII 11,8), aber auch aus dem Judentum (für Menschen vgl. Ri 8,21
Als gemeinsame antike Grundlage jeder Kraftvorstellung kann die Überzeugung gelten, dass Dynamis im göttlichen Bereich konzentriert vorhanden sei (vgl. exemplarisch: Diogenes Laertius, VitPhil VII 147; Philo, VitMos I 111; ParJer 6,9; Mt 26,64
Charakteristisch für die antike und spätantike Kraftvorstellung ist, dass Dynamis in der Profangräzität, dem Judentum und Christentum als eine variable Größe verstanden wurde. Dynamis ließ sich übertragen und delegieren, Partizipation war möglich bis dahin, dass die empfangene Größe mit der Dynamis identifiziert werden konnte (vgl. exemplarisch: Plutarch, Moralia 663 C; 2Sam 24,4
3. Forschungsgeschichte
Der Häufigkeit und Bedeutung des Kraft-Begriffes zum Trotz, findet die Dynamis nur eine geringe Aufmerksamkeit in der neutestamentlichen Exegese. Im Hinblick auf die Evangelien richtet sich der Blick eher auf ein häufig gebrauchtes Synonym des Dynamis-Begriffs, ἐξουσία, sowie allgemein auf die Themenkomplexe der Allmacht Gottes sowie der Wundermacht Jesu und der Jünger, ohne auf den δύναμις-Begriff zu fokussieren (z.B. Finger Gottes, Lk 11,20
Diejenigen Forscher freilich, die der Dynamis ausführlichere Beachtung schenkten, haben den Begriff nicht selten als Schlüsselbegriff für wichtige Partien der Paulusbriefe schätzen gelernt, ja mitunter als Zentralbegriff der gesamten neutestamentlichen Botschaft (Deißmann, Tragende Kräfte, 47.50; Biard, La puissance, 138; Prümm, Diakonia, 271; Grundmann, Kraft, 69; Berger, Theologiegeschichte, 524f). Dass Dynamis in der Theologie des Apostels auch sub conditione mundi unverhüllt als Dynamis erfahrbar gedacht war, liegt in dieser forschungsgeschichtlichen Linie (vgl. Krug, Kraft, 313ff).
4. Wortstatistischer Befund
Δύναμις ist im Neuen Testament 118 Mal belegt; der Begriff steht prominent im Corpus Paulinum; im → Johannesevangelium
Zudem finden sich im Neuen Testament 210 Verwendungen des Verbs δύναμαι. Mt gebraucht das Verb 27 Mal, Mk 33 Mal, Lk 26 Mal, Joh 37 Mal. In der Apg findet es sich 21 Mal, in den Deuteropaulinen und Pastoralbriefen 11 Mal, im Hebr 9 Mal, im Jak 6 Mal, im 1Joh 2 Mal, im Jud 1 Mal und in Apk 10 Mal. Das Modalverb beschreibt v.a. die (Un-)Möglichkeit bzw. Fähigkeit und bringt die Diskrepanz zwischen Wollen und Können zum Ausdruck.
53 Mal verwendet der Apostel → Paulus
5. Dynamis in den Synoptischen Evangelien und der Apostelgeschichte
5.1. Dynamis als die (All-)Macht Gottes
Gott ist der Mächtige – Jesus kann den → Gottesnamen
5.2. Dynamis als die wunderwirkende Macht Jesu und der Apostel
Gottes Macht erweist sich auch in den Machttaten Jesu und der Apostel. Sowohl die Wundertat im Allgemeinen kann mit dem Begriff bezeichnet werden (vgl. Mk 9,39
5.3. Dynameis, die Himmelsmächte
Im Kontext der eschatologischen Rede werden die „Kräfte des Himmels“, die mit dem Kommen des → Menschensohns
5.4. Dynamis als die im Eschaton sich erweisende Heilskraft Gottes
In der Wiederkunft Christi, dem eschatologischen Kommen des Menschensohnes, wird das Gottesreich „in Kraft“ sich durchsetzen (Mk 9,1
6. Dynamis im Corpus Paulinum
6.1. Die Starken und Schwachen in Korinth (1Kor 8-10)
In dem Konflikt um die sog. Starken und Schwachen in → Korinth
6.2. Die Starken und Schwachen in Rom (Röm 14)
Auch im Römerbrief ist auffällig, dass Paulus den Dynamis-Begriff im Konflikt der römischen Gemeinde vermeidet. Zu dem oben genannten Grund kommt in diesem Brief ein zweiter hinzu: Paulus hatte in der Zwischenzeit, scil. in der Phase der Auseinandersetzung um seine eigene Person in 2Kor, Dynamis eng an seinen eigenen Apostolat gebunden.
6.3. Der schwache-starke Apostel: „denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark“ (2Kor 12,10)
Im 2Kor rückt die Person des Apostels in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Offensichtlich hatte sich Paulus mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen, ein schwacher, mithin ungeeigneter Apostel zu sein. In dem Brief klärt und erklärt Paulus, wie seine Schwachheit, die er weder leugnet noch konkretisiert, zu seiner Dynamis, die er gegenüber den Korinthern behauptet, in Beziehung steht. Um das Paradox „schwach und doch auch stark“ zu erklären, argumentiert Paulus christologisch (2Kor 4,10ff
6.4. Der gekreuzigte Christus – Gottes Kraft (1Kor 1,18-25)
Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Weltweisheit (1Kor 1,18-2,5
7. Dynamis in der Apokalypse
Obgleich der δύναμις-Begriff im Johannesevangelium keine Verwendung findet, ist er in der Apokalypse 12 Mal belegt. Der Seher erkennt in seinen Visionen die Macht Gottes (Apk 15,8
8. Die Verwendung von dynamai im Neuen Testament
Das Verb δύναμαι kann grundsätzlich die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit beschreiben – so kann z.B. eine Stadt, die auf einem Berg liegt, nicht verborgen bleiben (Mt 5,14
In den Synoptikern wird δύναμαι jedoch v.a. verwendet, um die Diskrepanz zwischen Wollen und Können auszudrücken, z.B. kann Jesus einen Aussätzigen rein machen, wenn er will (so Mk 1,40
Obgleich δύναμις im Joh keine Verwendung findet, ist das Verb im Evangelium 37 Mal belegt. Die Verwendung deckt sich weitgehend mit dem Gebrauch im weiteren Neuen Testament, findet sich aber verstärkt im Kontext der Wunder und Taten Jesu (Joh 3,2
Literaturverzeichnis
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