Deutsche Bibelgesellschaft

(erstellt: September 2013)

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1. Begriff

Eine Haustafel bezeichnet eine Standes-, Funktions- oder Rollenparänese für die Glieder eines antiken christlichen → Hauses in ihrem Verhältnis zueinander. Der von → Martin Luther geprägte Begriff (zweiter Anhang zum Kleinen Katechismus 1529) dient in Lutherbibeln in der Form „Die christliche Haustafel“ als Zwischenüberschrift für Eph 5,21-6,9 und Kol 3,18-4,1. Im wissenschaftlichen Kontext sowie umgangssprachlich werden manchmal weitere neutestamentliche Texte als Haustafel bezeichnet.

Im Unterschied zum Begriff aus der Reformationszeit, der eine am Dreiständeschema Kirche – Gesellschaft – Haus orientierte Zusammenstellung aus neutestamentlichen Texten mit Pflichten und Verantwortlichkeiten „für allerlei heilige Orden und Stände“ (Luther 1529) benennt, bezeichnet der Begriff in wissenschaftlicher Verwendung neutestamentliche Texte mit programmatisch-ethischem Charakter, die auf Personengruppen im Haus, manchmal auch in der → Gemeinde (als „Haus Gottes“, 1Tim 3,15), aber nicht im gesellschaftlich-politischen Bereich bezogen sind. Bestimmte Formmerkmale sind für diese Texte wesentlich.

2. Antiker literarischer Kontext

Wurzeln für die Herausbildung neutestamentlicher Haustafeln liegen im hellenistisch-römischen Kulturkreis: politisch-ökonomische Lehrschriften über das wohlgeordnete Hauswesen, ethisch-philosophische Pflichtenkataloge, jüdisch-hellenistische → Paränese. Bereits Aristoteles untersucht als „die ursprünglichen und kleinsten Teile des Hauses Herr und Sklave, Gatte und Gattin, Vater und Kinder“ (Polit. 1253b). Bei Aristoteles, Seneca (Ep. 94,1) und Pseudo-Phokylides (175-227) steht der freie Mann in seiner dreifachen Rolle als Ehemann, Vater (→ Familie) und Herr (Besitzer) im Zentrum. Weitergehende literarische Kontexte bieten Aischylos (Suppl. 701-709), Cicero (Off. I 17,58), Epiktet (Diss. 2,10) und Plutarch (Mor. 7e). Für die Vermittlung zum frühen → Christentum ist das jüdisch-hellenistische Schrifttum maßgeblich (Sir 7,20-30; → Philo von Alexandrien, Decal. 165-167, Poster. 181, Hyp. [= Eus., Praep. VIII] 7,14; → Flavius Josephus (c.Ap. II 190-210).

3. Kolosserbrief und Epheserbrief

Die älteste neutestamentliche Haustafel Kol 3,18–4,1 (→ Kolosserbrief) enthält drei paarweise vorgetragene Anweisungen an Personen innerhalb eines antiken Hauses in ihrem Verhältnis zueinander: Frauen und Männer, Kinder und Eltern/Männer, Sklaven (→ Sklaverei) und Herren (→ Hausgemeinde). Alle sechs Anweisungen sind sprachlich analog aufgebaut: direkte Anrede – Imperativ – Begründung zur Motivierung des entsprechenden Tuns. Der schwächere Part wird jeweils zuerst genannt und zu Unterordnung aufgefordert. Sie wird als christusgemäß qualifiziert. Die an Sklaven gerichtete Begründung umfasst beinahe die halbe Haustafel, variiert sprachlich und spiegelt einen (angesichts von Kol 3,11) offenbar massiven Begründungsbedarf wider. Die reziproken Aufforderungen an Männer enthalten rollenspezifische Selbstverständlichkeiten: Frauen lieben, Kinder nicht reizen, Sklaven das Gerechte und Gleiche gewähren. Nur die letzte Begründung verweist auf den himmlischen → Herrn (Kol 4,1) und relativiert dadurch männliche Macht im Haus. Durch die Äquivokation von „Herr“ (als Begriff für Christus/Gott und für den Mann) werden Funktionsfähigkeit und Stabilität eines Hauses nach antiken Maßstäben verstärkt.

Da der → Epheserbrief eine Überarbeitung und Erweiterung des Kolosserbriefs darstellt, ist seine Haustafel in Eph 5,22-6,9 von Kol 3,18-4,1 abhängig. Imperative, Christusbezug und Begründungen sind darin verstärkt. Die Autorität der irdischen Herren ist noch enger an die des himmlischen Herrn gebunden (vgl. Eph 5,22 mit Kol 4,18; Eph 6,1 mit Kol 5,20; Eph 6,5f mit Kol 4,22). Eine ausführliche Begründung für Frauen, Männer und Kinder wird ergänzt, teilweise unter Rückgriff auf biblische Texte (Gen 2,24 in Eph 5,31; Ex 20,12 und Dtn 5,16 in Eph 6,2f). Aus heutiger Sicht erscheint Eph 5,22-6,9 (z.B. wegen 5,23f) problematischer als Kol 3,18-4,1.

4. Weitere Texte

Texte aus dem ersten → Petrusbrief (1Petr 2,13-3,7; 1Petr 5,1-5), den → Pastoralbriefen (1Tim 2,1f.8-15; 1Tim 5,1-8; 1Tim 6,1f; Tit 2,1-10; Tit 3,1f) oder den so genannten → Apostolischen Vätern (1Clem 1,3; 21,6-9; Did 4,9-11; IgnPol 4,1-6,2; Polyc 4,2-6,3; Barn 19,5-7) werden oft als weitere Beispiele für Haustafeln genannt. In ihnen sind die Formmerkmale von Haustafeln jedoch schwächer oder gar nicht ausgeprägt, und sie beziehen sich vielfach auf Gruppen innerhalb einer Ortsgemeinde und nicht eines Hauses. Sie sind als Fortentwicklungen von Haustafeln verstehbar und werden manchmal als „Ständetafel“ oder „Gemeindetafel“ bezeichnet.

5. Zusammenfassung

Die in der Lutherbibel auf Kol 3,18-4,1 und Eph 5,22-6,9 beschränkte Bezeichnung Haustafel erweist sich in der neueren Forschung aus literarischen (formkritischen) und historischen (soziologischen) Gründen als stichhaltig. Beide Texte stellen die ältesten erreichbaren, explizit häuslichen Sozialordnungen des Christentums dar. Sie nehmen innerhalb der antiken → Ethik eine humanisierende Mittelposition (Müller) ein.

Literaturverzeichnis

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