Opfer (NT)
(erstellt: Mai 2011)
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1. Einleitende Bemerkungen
Im heutigen Sprachgebrauch ist der Begriff „Opfer“ ebenso wie sein romanisches Pendant „sacrifice“ polyvalent. Er bezeichnet einerseits eigentliche Opferrituale und die dabei dargebrachte Opfermaterie, andererseits als Metapher dingliche Verluste oder persönliche Nachteile sowie die Personen, die diese erleiden. Eher inkompatibel mit diesem modernen metaphorischen Verständnis ist die biblische Anwendung des Begriffs auf eine bestimmte Geisteshaltung bzw. Akte der Frömmigkeitspraxis (Ps 119,108
Das Christentum breitete sich in einer Welt aus, in der kultische Opfer zu den allgegenwärtigen religiösen Ausdrucksformen gehörten. Der zweite → Tempel in Jerusalem
Dennoch sind im zeitgenössischen Judentum und im Frühchristentum sowohl dieser Tempel als auch der Opferkult gelegentlich hinterfragt worden (z. B. 4Q flor 3,1-13; Mt 12,7
2. Neutestamentliche Bezüge auf eigentliche Opferrituale
Die Schriften des NT enthalten nur wenige Hinweise auf eigentliche kultische Opfervollzüge. Jesus begab sich zwar zum Tempel in Jerusalem; über seine Teilnahme an Opferritualen während der Zeit seiner Wirksamkeit liegen aber keine narrativ ausgeführten Darstellungen vor. Vielmehr überliefern die synoptischen Evangelien kritische Aussagen Jesu in Aufnahme sog. → prophetischer Kultkritik
Speziell im → Hebräerbrief
3. Neutestamentliche Opfermetaphern außerhalb christologischer Aussagen
Der Großteil der Opferterminologie in neutestamentlichen Texten gehört in den Bereich metaphorischer Aussagen. Das Verständnis dieser Metaphern wird einerseits erschwert durch den Umstand, dass die allgemeine Interpretation von Opferritualen in der historischen, anthropologischen oder theologischen Forschung keineswegs unstrittig ist. Da Opferterminologie und Opfermetaphern im Neuen Testament, vom Hebräerbrief einmal abgesehen, nur in Form von sehr knappen Bemerkungen vorliegen, aber nie ausführlich erklärt werden, sind zur Interpretation jeweils Informationen über Opferrituale im Alten Testament bzw. im frühjüdischen und griechisch-römischen Umfeld heranzuziehen. Andererseits erreichen Metaphern ihre semantische Funktion vor allem dann, wenn sie als solche wahrgenommen werden, also „alive“ sind. Allerdings erstarren die meisten Metaphern schon bald, werden folglich nicht mehr erkannt und verlieren weitgehend ihre Wirkung (Janse van Rensburg: 414-415).
Referenzen auf den Opferkult liegen im Neuen Testament vor allem anhand folgender Terminologie vor: Opfer (θυσία), (Opfer-)Gabe (προσφορά), Blut (αἷμα), Lamm (ἀμνός / ἀρνίον), sühnen (ἱλάσκομαι), „eine Libation darbringen“ (σπένδω), „zum Wohlgeruch“ (εἰς ὀσμὴν εὐωδίας) und „wohlgefälllig“ (εὐάρεστος). Andere Begriffe und Aussagen sind nicht mit dem Opferkult in Verbindung zu bringen: In Röm 8,3
Außerhalb christologischer Aussagen werden neutestamentliche Opfermetaphern im Zusammenhang der Gemeindeparänese und des Aposteldienstes verwendet. Paulus verwendet z.B. umfangreiches Kultvokabular, um die Adressaten in Rom mit den Worten, die eigenen Leiber „als ein lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer (θυσίαν ζῶσαν ἁγίαν εὐάρεστον τῷ θεῷ) zur Verfügung zu stellen“ (Röm 12,1
4. Neutestamentliche Opfermetaphern im Rahmen christologischer Aussagen
4.1. Theoretische Vorüberlegungen
Den neutestamentlichen Passionsberichten zufolge wurde Jesus übereinstimmend von den Römern durch Kreuzigung hingerichtet. Eine solche Exekution hat mit einem eigentlichen Opferritual nichts gemein. Wenn im Neuen Testament also Opferbegriffe auf Jesus bzw. seinen Tod Anwendung finden, handelt es sich um Versuche, dieses grausame Geschehen anhand von Metaphern verständlich zu machen. Kultmetaphorik im Dienste der Christologie ist dann Bestandteil der Deutung der Geschichte Jesu. Grundsätzlich ist Deutung von Vergangenheit kein ausschließlich deskriptiver, sondern ein kreativer Vorgang, bei dem amorphe geschichtliche Ereignisse geordnet und unter Bezug auf akzeptierte Sinnsysteme interpretiert werden (Zimmermann, 2005b: 319-322). Motive und Sprachformen des allseits bekannten Opferkults wurden folglich herangezogen, um einen schwer verständlichen Referenten, nämlich Jesu Mission und seinen Kreuzestod, zu interpretieren, da deren Bedeutung nicht unmittelbar zugänglich war. In dieser Funktion ist Opferterminologie eine unter vielen soteriologischen Sprachformen (s.a. Hingabe- und Sterbeformeln, merkantile Deutekategorien, Versöhnungsterminologie usw.).
4.2. Jesus als „Opfer“
Im Gegensatz zu der vielfachen Rede vom „Opfer“ Jesu in der modernen christlichen Theologie und Kirche mag es erstaunen, dass diese konkrete Ausdrucksweise im Neuen Testament auf den Epheser- und Hebräerbrief beschränkt ist. Die Bezeichnung Jesu als „Gabe und Opfer für Gott zum lieblichen Wohlgeruch“ (προσφορὰν καὶ θυσίαν τῷ θεῷ εἰς ὀσμὴν εὐωδίας, Eph 5,2
Die eigenständige christologische Konzeption des → Hebräerbriefs
4.3. Das Blut Jesu
Der priesterlichen Kultkonzeption des Alten Testaments zufolge haben Blutapplikationsriten sühnende, genauer kathartische Wirkung, was u.a. aufgrund von Interpretamenten wie „entsündigen“ (חִטֵּא chiṭṭe’) und „reinigen“ (טִהַר ṭihar) manifest ist. Näher noch lässt sich bestimmen, dass Opferblut aufgrund des ihm innewohnenden Tierlebens Sünde und Unreinheit beseitigt (→ Sühne [AT], 2.1; Hartenstein: 128-137). Diese Vorstellungen sind im Frühchristentum auf Jesu Tod angewendet worden. In der vorpaulinischen Tradition (Kraus, 2008: 195-197) wird zwar noch nicht näher expliziert, wie Jesus „als Sühneort in seinem Blut“ (Röm 3,25
Im Hebräerbrief kommt der Begriff „Blut“ mit 21 Belegen besonders häufig vor (s.a. das Hapax legomenon αἱματεκχυσία – „Blutvergießen“, Hebr 9,22
4.4. Das Lexem ἱλάσκομαι
Auch neutestamentliche Belege des Lexems ἱλάσκομαι (sühnen) beziehen sich auf das Opfer Jesu. (Es geht hier folglich nicht um den Sühnebegriff, der heute vielfach als Abstraktion und umfassende soteriologische Interpretationskategorie verwendet wird; → Sühne
4.5. Jesus, das „Lamm“
Schließlich werden speziell verschiedene Formen der Apostrophierung Jesu als → true oft als Anknüpfung an den Opferkult interpretiert. Allerdings sind die traditionsgeschichtlichen Bezüge dieser innovativen Metapher vielfältiger. So spielt die Bezeichnung Jesu als „(geschlachtetes) Lamm“ (Apk 5,6
4.6. Abschließende Überlegungen
Die Verwendung traditioneller frühjüdischer Opferkonzepte im Rahmen frühchristlicher Christologie führt zu der Frage nach ihrem Ursprung. Thesen, dass die generelle Interpretation von Jesu Mission in kultischen Kategorien erst später aufgekommen sei, bleiben angesichts kultischer Bezüge in vorpaulinischen Traditionselementen (aufgenommen z.B. in Röm 3,25
Die in der heutigen theologischen Verkündigung verbreitete Rede vom Opfer Jesu wird oft mit kritischen Anfragen konfrontiert: Ist die Institution blutiger Opfer nicht überholt? Warum muss der Gott der Liebe durch den Opfertod eines Unschuldigen versöhnt werden? Angesichts dessen ist zu betonen, dass sich der biblische Opfergedanke nicht ausschließlich auf Blutriten oder Tötung beschränkt; Opfer im Alten Testament bzw. zeitgenössischen Judentum wären als Institution ritualisierter Lebensvernichtung missverstanden, wie die Existenz des rein vegetabilen Speiseopfers (Lev 2
Literaturverzeichnis
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