Deutsche Bibelgesellschaft

(erstellt: Mai 2011)

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1. Einleitende Bemerkungen

Im heutigen Sprachgebrauch ist der Begriff „Opfer“ ebenso wie sein romanisches Pendant „sacrifice“ polyvalent. Er bezeichnet einerseits eigentliche Opferrituale und die dabei dargebrachte Opfermaterie, andererseits als Metapher dingliche Verluste oder persönliche Nachteile sowie die Personen, die diese erleiden. Eher inkompatibel mit diesem modernen metaphorischen Verständnis ist die biblische Anwendung des Begriffs auf eine bestimmte Geisteshaltung bzw. Akte der Frömmigkeitspraxis (Ps 119,108; Hebr 5,7; Hebr 13,15-16). Außerdem werden heute in christologisch-soteriologischen Konzeptionen oft diverse Lexeme und Metaphern unter den Begriff des Opfers subsumiert, die eher der abstrakten Interpretationskategorie der → Sühne zuzuordnen sind. Aufgrund dieser inhärenten Unschärfe findet sich gegenwärtig u. U. das Plädoyer, den Opferbegriff im wissenschaftlichen Diskurs ganz zu vermeiden (Watts: 173-175). Im Folgenden wird der neutestamentliche Opferbegriff zunächst in seiner Verwendung auf rituelle Vollzüge und anschließend als Kultmetapher besprochen.

Das Christentum breitete sich in einer Welt aus, in der kultische Opfer zu den allgegenwärtigen religiösen Ausdrucksformen gehörten. Der zweite → Tempel in Jerusalem war als Zentrum des frühjüdischen Gottesdienstes selbstverständlich auch Schauplatz von Opferritualen, die auf dem Brandopferaltar im sog. Vorhof der Priester durchgeführt wurden (Josephus, Bellum Judaicum 5,225). Bei dem seit 18 v. Chr. vorgenommenen Umbau dieses Heiligtums wurde bewusst jegliche Unterbrechung des Opferkults vermieden.

Dennoch sind im zeitgenössischen Judentum und im Frühchristentum sowohl dieser Tempel als auch der Opferkult gelegentlich hinterfragt worden (z. B. 4Q flor 3,1-13; Mt 12,7; Mk 13,1-2; Mk 14,58; Apg 7,48-50). Die gegenwärtige Forschung ist u.a. bemüht, das kritische Proprium dieser Anfragen angemessen einzuschätzen und Kultmetaphern von diesem epistemischen Hintergrund her generell verständlich zu machen.

2. Neutestamentliche Bezüge auf eigentliche Opferrituale

Die Schriften des NT enthalten nur wenige Hinweise auf eigentliche kultische Opfervollzüge. Jesus begab sich zwar zum Tempel in Jerusalem; über seine Teilnahme an Opferritualen während der Zeit seiner Wirksamkeit liegen aber keine narrativ ausgeführten Darstellungen vor. Vielmehr überliefern die synoptischen Evangelien kritische Aussagen Jesu in Aufnahme sog. → prophetischer Kultkritik (Mt 9,13; Mt 12,7 zitieren Hos 6,6; Mk 12,33 bezieht sich auf 1Sam 15,22). Auch erzählen alle Evangelien von seiner in der Regel als „Tempelreinigung“ apostrophierten Vertreibung der Verkäufer und Geldwechsler aus dem „Tempel“, womit dessen äußerer Vorhof gemeint ist (Mk 11,15-19 par; Joh 2,13-25). Der Tempel, sein Altar und die dort auszuführenden Opferrituale erscheinen gelegentlich als szenischer Hintergrund (Lk 1,8-11; Lk 2,22-24; Lk 13,1). Jesus selbst erwähnt kultische Opfer einige Male: Er fordert den vom Aussatz Geheilten auf, die von Mose gebotenen Opfer darzubringen (προσένεγκον τὸ δῶρον, Mt 8,4; s. a. Mk 1,44), illustriert die Wichtigkeit zwischenmenschlicher Versöhnung anhand der Empfehlung, dass eine Person die Darbringung eines Opfers (δῶρον) am Tempel unterbrechen soll, um Differenzen mit dem Nächsten beizulegen (Mt 5,23-24), und kritisiert die Weisung der→ Schriftgelehrten und → Pharisäer, nicht beim Altar, sondern beim darauf darzubringenden Opfer zu schwören (Mt 23,18-19). Ein indirekter Hinweis auf den monetären Wert von kultischen Opfern liegt in Mk 7,9-13 vor, wenn Jesus dort die Praxis ablehnt, die den eigenen Eltern zustehende finanzielle Unterstützung durch den Ausspruch „Qorban“ dem Tempel zu übertragen (→ Qorban, 3).

Speziell im → Hebräerbrief begegnen Opferbegriffe häufig. Das für die charakteristische Christologie dieser Schrift beschriebene Amt des → Hohenpriesters zielt darauf, Gaben und Opfer für die Sünden darzubringen (ἵνα προσφέρῃ δῶρά τε καὶ θυσίας, Hebr 5,1; s.a. Hebr 5,3; Hebr 8,3-4); traditionelle Blutapplikationsriten des Sinaibundes (Ex 24,8) bzw. des Großen Sühnetages (יוֹם הַכִּפֻּרִים, Lev 16) werden skizziert (Hebr 9,7.9.19-21) und dienen als Typus für das Selbstopfer Christi (Hebr 9,14.25.28). Abels besseres Opfer (θυσία) wird ebenso als Ausdruck seines Glaubens gedeutet (Hebr 11,4) wie die Bereitschaft → Abrahams, seinen einzigen Sohn → Isaak darzubringen (προσφέρω, Hebr 11,17).

3. Neutestamentliche Opfermetaphern außerhalb christologischer Aussagen

Der Großteil der Opferterminologie in neutestamentlichen Texten gehört in den Bereich metaphorischer Aussagen. Das Verständnis dieser Metaphern wird einerseits erschwert durch den Umstand, dass die allgemeine Interpretation von Opferritualen in der historischen, anthropologischen oder theologischen Forschung keineswegs unstrittig ist. Da Opferterminologie und Opfermetaphern im Neuen Testament, vom Hebräerbrief einmal abgesehen, nur in Form von sehr knappen Bemerkungen vorliegen, aber nie ausführlich erklärt werden, sind zur Interpretation jeweils Informationen über Opferrituale im Alten Testament bzw. im frühjüdischen und griechisch-römischen Umfeld heranzuziehen. Andererseits erreichen Metaphern ihre semantische Funktion vor allem dann, wenn sie als solche wahrgenommen werden, also „alive“ sind. Allerdings erstarren die meisten Metaphern schon bald, werden folglich nicht mehr erkannt und verlieren weitgehend ihre Wirkung (Janse van Rensburg: 414-415).

Referenzen auf den Opferkult liegen im Neuen Testament vor allem anhand folgender Terminologie vor: Opfer (θυσία), (Opfer-)Gabe (προσφορά), Blut (αἷμα), Lamm (ἀμνός / ἀρνίον), sühnen (ἱλάσκομαι), „eine Libation darbringen“ (σπένδω), „zum Wohlgeruch“ (εἰς ὀσμὴν εὐωδίας) und „wohlgefälllig“ (εὐάρεστος). Andere Begriffe und Aussagen sind nicht mit dem Opferkult in Verbindung zu bringen: In Röm 8,3 ist die Übersetzung des Syntagmas περὶ ἁμαρτίας als „Sündopfer“ fraglich; Bezüge auf das→ Passa (1Kor 5,7; Apk 5,6; Apk 12,11; Apk 13,8 u.ö.) gehen auf einen apotropäischen Ritus zurück (Ex 12,7; Ex 12,13; Ex 12,22-23; siehe aber z.B. Jub 17,15; Jub 49,9); die paulinische Aussage, Christus sei „für uns zur Sünde gemacht“ (2Kor 5,21), knüpft traditionsgeschichtlich an das Sündenbockritual an (Lev 16,20-22), welches ein Eliminationsritus und kein kultisches Opfer ist.

Außerhalb christologischer Aussagen werden neutestamentliche Opfermetaphern im Zusammenhang der Gemeindeparänese und des Aposteldienstes verwendet. Paulus verwendet z.B. umfangreiches Kultvokabular, um die Adressaten in Rom mit den Worten, die eigenen Leiber „als ein lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer (θυσίαν ζῶσαν ἁγίαν εὐάρεστον τῷ θεῷ) zur Verfügung zu stellen“ (Röm 12,1), zum Befolgen ethischer Maximen zu ermutigen. Entsprechend kann der Apostel anschließend auch sein Amt als priesterlichen Dienst am Evangelium umschreiben, welches auf das Gott wohlgefällige „Opfer der Nationen“ (προσφορὰ τῶν ἐθνῶν) hinzielt (Röm 15,16). Gaben zur Unterstützung seiner Arbeit quittiert er an anderer Stelle als „lieblichen Geruch (ὀσμὴν εὐωδίας), ein angenehmes Opfer (θυσίαν δεκτήν), wohlgefällig für Gott“ (Phil 4,18). Im Hebräerbrief gilt das Bekenntnis der Lippen als „Opfer des Lobes“ (θυσία αἰνέσεως, Hebr 13,15). Diese Metaphorik lässt vor allem dort, wo sie sich auf dingliche Bildempfänger bezieht, erkennen, dass jeweils nicht auf ein Ritual rekurriert wird, bei dem ein Tötungsgeschehen zentral sein könnte. In der Tat gilt für kultische Opferrituale im Alten Testament und im frühen Judentum, dass die Tierschlachtung weder konstitutiv noch speziell betont ist (→Schlachtung / Schächtung, 2.3). Stattdessen artikulieren diese Metaphern, dass christliches Leben als Gottesdienst gelten soll und als solches von Gott akzeptiert wird. Ähnliche Akzente setzt Paulus mit den Worten, er „werde über eurem Opfer als Libation ausgegossen“ (σπένδομαι; Phil 2,17); diese Aussage hebt auf die Verzahnung von „Leben und Tun des Apostels und der Gemeinde“ (Vahrenhorst: 238) ab.

4. Neutestamentliche Opfermetaphern im Rahmen christologischer Aussagen

4.1. Theoretische Vorüberlegungen

Den neutestamentlichen Passionsberichten zufolge wurde Jesus übereinstimmend von den Römern durch Kreuzigung hingerichtet. Eine solche Exekution hat mit einem eigentlichen Opferritual nichts gemein. Wenn im Neuen Testament also Opferbegriffe auf Jesus bzw. seinen Tod Anwendung finden, handelt es sich um Versuche, dieses grausame Geschehen anhand von Metaphern verständlich zu machen. Kultmetaphorik im Dienste der Christologie ist dann Bestandteil der Deutung der Geschichte Jesu. Grundsätzlich ist Deutung von Vergangenheit kein ausschließlich deskriptiver, sondern ein kreativer Vorgang, bei dem amorphe geschichtliche Ereignisse geordnet und unter Bezug auf akzeptierte Sinnsysteme interpretiert werden (Zimmermann, 2005b: 319-322). Motive und Sprachformen des allseits bekannten Opferkults wurden folglich herangezogen, um einen schwer verständlichen Referenten, nämlich Jesu Mission und seinen Kreuzestod, zu interpretieren, da deren Bedeutung nicht unmittelbar zugänglich war. In dieser Funktion ist Opferterminologie eine unter vielen soteriologischen Sprachformen (s.a. Hingabe- und Sterbeformeln, merkantile Deutekategorien, Versöhnungsterminologie usw.).

4.2. Jesus als „Opfer“

Im Gegensatz zu der vielfachen Rede vom „Opfer“ Jesu in der modernen christlichen Theologie und Kirche mag es erstaunen, dass diese konkrete Ausdrucksweise im Neuen Testament auf den Epheser- und Hebräerbrief beschränkt ist. Die Bezeichnung Jesu als „Gabe und Opfer für Gott zum lieblichen Wohlgeruch“ (προσφορὰν καὶ θυσίαν τῷ θεῷ εἰς ὀσμὴν εὐωδίας, Eph 5,2) rezipiert Terminologie und Interpretamente des alttestamentlichen Opferkults, wobei letztere die kultische Verbrennung auf dem Brandopferaltar evozieren. Diese Verbrennung ist nicht selten Zielpunkt des als dynamischer Prozess verstandenen Rituals, in dem die göttliche Akzeptanz kultischer Opfer manifest ist (Lev 1,9; Lev 2,2; Lev 4,31; Lev 8,21 u. ö.; Eberhart, 2002: 183-185.400f.). Der Versuch, solche Kultmetaphorik als ausschließlichen Bezug auf Jesu Tod zu verstehen, ist fraglich angesichts des paränetischen Kontextes, in dem Jesu Opfer als Vorbild für anschauliche Beispiele christlichen Verhaltens erscheint. Wahrscheinlicher ist, dass sich diese Motive in weiterem Sinne auf Jesu gesamte Mission (unter Einschluss seines Todes, aber nicht beschränkt auf diesen) beziehen. Sie sagen aus, dass diese Mission als Ausdruck genuinen Gottesdienstes in besonderer Weise akzeptiert und in ihr Gottes Liebe in exemplarischer Weise sichtbar wurde.

Die eigenständige christologische Konzeption des → Hebräerbriefs präsentiert Jesus als Hohenpriester, der sich als einmaliges Opfer selbst darbringt (Hebr 7,27; Hebr 10,10; Hebr 10,12; Hebr 10,14). Da ein solches Opfer im levitischen Kult unbekannt ist, wird deutlich, dass im Hebräerbrief Kultkonzeptionen erheblich variiert werden. Das hohepriesterliche Opfer Jesu wird nämlich im Dienste der erklärten theologischen Maxime dieser Schrift (Hebr 2,14) auf Jesu Tod eingeschränkt, der als Voraussetzung zum Eintritt in das himmlische Heiligtum gilt. Hier sitzt Jesus nun zur Rechten Gottes, um als Fürsprecher für die Menschheit zu fungieren (Hebr 7,25; Hebr 9,24). Diese Gewichtsverlagerung auf Jesu Tod hat das inhaltliche Spektrum der Opfermetapher nachhaltig beeinflusst, d.h. der Referent hat seinerseits Bedeutungsaspekte auf den Bildspender übertragen (Interaktion).

4.3. Das Blut Jesu

Der priesterlichen Kultkonzeption des Alten Testaments zufolge haben Blutapplikationsriten sühnende, genauer kathartische Wirkung, was u.a. aufgrund von Interpretamenten wie „entsündigen“ (חִטֵּא chiṭṭe’) und „reinigen“ (טִהַר ṭihar) manifest ist. Näher noch lässt sich bestimmen, dass Opferblut aufgrund des ihm innewohnenden Tierlebens Sünde und Unreinheit beseitigt (→ Sühne [AT], 2.1; Hartenstein: 128-137). Diese Vorstellungen sind im Frühchristentum auf Jesu Tod angewendet worden. In der vorpaulinischen Tradition (Kraus, 2008: 195-197) wird zwar noch nicht näher expliziert, wie Jesus „als Sühneort in seinem Blut“ (Röm 3,25) vorzustellen ist, jedoch konkretisieren andere neutestamentliche Aussagen, dass Menschen durch Jesu Blut von Sünde und Ungerechtigkeit gereinigt (καθαρίζω, 1Joh 1,7) und einer apokalyptischen Vision zufolge Kleider von Märtyrern gewaschen worden sind (Apk 7,14). Diese Vorstellungen bilden ferner den Hintergrund des Kelchwortes beim Abendmahl: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut“ (τοῦτο τὸ ποτήριον ἡ καινὴ διαθήκη ἐστὶν ἐν τῷ ἐμῷ αἵματι, 1Kor 11,25; s.a. Mk 14,24). Das Kelchwort greift traditionsgeschichtlich auf das Besprengen mit Bundesblut beim Sinaibund zurück (Ex 24,8). Diesem Kontext verdankt sich auch die Anrede der Christen als auserwählte Gemeinde „zur Besprengung mit dem Blut Jesu Christi“ (1Petr 1,2) und ihr Selbstverständnis als heilige Versammlung.

Im Hebräerbrief kommt der Begriff „Blut“ mit 21 Belegen besonders häufig vor (s.a. das Hapax legomenon αἱματεκχυσία – „Blutvergießen“, Hebr 9,22). Die meisten rekurrieren auf die Sühneriten des Großen Sühnetages (Lev 16) bzw. auf den Sinaibund (Ex 24,8). Für die alte wie für die neue Kultordnung wird die reinigende bzw. weihende Wirkung von Opferblut ausdrücklich konstatiert (Hebr 9,22; Hebr 10,29). Deshalb ist es umso überraschender, wenn – im Gegensatz zu den Aussagen in Hebr 9,13-14, dass Opferblut äußerlich reinigt – in Hebr 10,4-5 dessen völlige kultische Unwirksamkeit postuliert wird. Diese Aussage impliziert die Ablösung des traditionellen frühjüdischen Opferkultes durch Jesu Selbstopfer. Zu beachten ist, dass mache Aussagen zum Blut Jesu, so etwa Hebr 9,12 (Jesus hat „durch sein Blut“ das Heiligtum betreten), nicht mehr dem kultischen Bildfeld zugeordnet sind und sich allein auf Jesu Tod beziehen.

4.4. Das Lexem ἱλάσκομαι

Auch neutestamentliche Belege des Lexems ἱλάσκομαι (sühnen) beziehen sich auf das Opfer Jesu. (Es geht hier folglich nicht um den Sühnebegriff, der heute vielfach als Abstraktion und umfassende soteriologische Interpretationskategorie verwendet wird; → Sühne [AT], 1). So impliziert die Vorstellung vom „Sühneort (ἱλαστήριον) in seinem Blut“ (Röm 3,25), dass Jesus in Analogie zu Kultobjekten wie der goldenen „Sühnebedeckung“ (כַּפֹּרֶת kapporæt) auf der Bundeslade (Ex 25,17-22; Ex 37,6-9) bzw. der Einfassung des Brandopferaltars in → Ezechiels Heiligtumsvision (Ez 43,14; Ez 43,17; Ez 43,20) gesehen wurde. Ähnliches intendiert die Formulierung, Jesus sei von Gott „zur Sühne (ἱλασμός) für unsere Sünden“ (1Joh 4,10; s. a. 1Joh 2,2 in Verbindung mit 1Joh 1,7) in die Welt gesandt worden. Diese Metaphern knüpfen an die kultische Konzeption der weihenden Kraft von Opferblut aufgrund des ihm innewohnenden Lebens an.

4.5. Jesus, das „Lamm“

Schließlich werden speziell verschiedene Formen der Apostrophierung Jesu als → true oft als Anknüpfung an den Opferkult interpretiert. Allerdings sind die traditionsgeschichtlichen Bezüge dieser innovativen Metapher vielfältiger. So spielt die Bezeichnung Jesu als „(geschlachtetes) Lamm“ (Apk 5,6; Apk 12,11; Apk 13,8 u.ö.) – ähnlich wie 1Kor 5,7 – auf den apotropäischen Blutritus des Passa an. Die Prädikation Jesu als „Lamm Gottes“ (Joh 1,29; Joh 1,36) evoziert gleichermaßen die Passatradition, ferner das vierte → Gottesknechtslied (Jes 52,13-Jes 53,12), welches von stellvertretendem Leiden und Sterben zugunsten anderer handelt, und als Bezug auf den Opferkult speziell das Tamid-Opfer (Zimmermann, 2004: 107-117). Allein die Aussage in 1Petr 1,18-19, Christen seien „mit dem kostbaren Blut Christi als eines fehlerfreien und reinen Lammes (ἀμνός)“ freigekauft, nimmt ausschließlich kultische Vorstellungen (in Verbindung mit dem profanen Motiv des Freikaufs) auf.

4.6. Abschließende Überlegungen

Die Verwendung traditioneller frühjüdischer Opferkonzepte im Rahmen frühchristlicher Christologie führt zu der Frage nach ihrem Ursprung. Thesen, dass die generelle Interpretation von Jesu Mission in kultischen Kategorien erst später aufgekommen sei, bleiben angesichts kultischer Bezüge in vorpaulinischen Traditionselementen (aufgenommen z.B. in Röm 3,25; 1Kor 11,25) fraglich. Vielmehr ist zu vermuten, dass bereits der irdische Jesus Vorgaben zum Verständnis seines absehbaren gewaltsamen Todes machte, die auch kultische Deutekategorien umfassten. Diese schrieben anfangs frühjüdische Opfertheologie fort, wurden jedoch später – evtl. unter dem Eindruck der Tempelzerstörung und in Folge von sich ausweitenden Konflikten zwischen Judentum und Christentum – bis zu einer expliziten Überbietung und Ablösung dieser Bezugsgröße weiterentwickelt (Zimmermann, 2005a: 91).

Die in der heutigen theologischen Verkündigung verbreitete Rede vom Opfer Jesu wird oft mit kritischen Anfragen konfrontiert: Ist die Institution blutiger Opfer nicht überholt? Warum muss der Gott der Liebe durch den Opfertod eines Unschuldigen versöhnt werden? Angesichts dessen ist zu betonen, dass sich der biblische Opfergedanke nicht ausschließlich auf Blutriten oder Tötung beschränkt; Opfer im Alten Testament bzw. zeitgenössischen Judentum wären als Institution ritualisierter Lebensvernichtung missverstanden, wie die Existenz des rein vegetabilen Speiseopfers (Lev 2) zeigt. Deshalb vermittelt Opfermetaphorik im Neuen Testament Aspekte der göttlichen Akzeptanz bzw. der Reinigung und Weihe, die mit diesem Bedeutungsspektrum gerade auch in der Gemeindeparänese ihren festen Platz hatte, um ein hingabevolles Leben als genuine Form des Gottesdienstes zu empfehlen. Sie artikuliert ferner als eines unter vielen soteriologischen Motiven das Heil in Christus in der Weise, dass Menschen durch Gottes Initiative zu einer heiligen Gemeinschaft vereint werden.

Literaturverzeichnis

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