Vaterunser
Andere Schreibweise: Vater Unser
(erstellt: September 2011)
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1. Von den Quellen zurück zu Jesus
Das Vaterunser ist uns in zwei verschiedenen Fassungen überliefert, in einer kürzeren bei Lukas und einer längeren bei Matthäus. Textkritische Varianten beim Text des Matthäusevangeliums überliefern den Lobpreis am Ende, dieser stammt aus jüngerer Zeit.
1.1. Der Text der Vorlage des Matthäus und des Lukas
Lange Zeit hindurch ist die These vertreten worden, dass Matthäus und Lukas ihre jeweilige Fassung aus der mündlichen Überlieferung übernommen haben, die bereits verschieden geprägt war. Diese Vermutung hat sich nicht bestätigt. Ausgangspunkt der Überlegungen ist heute die Tatsache, dass das Wort ἐπιούσιονdas beide Fassungen gleich bringen, in antiken Texten sonst nicht mehr belegbar ist. Daraus ist zu schließen, dass Matthäus und Lukas von der gleichen griechischen Fassung des Herrengebetes abhängig sind, die Frage ist bloß, ob die beiden Evangelisten selbstständig diese Fassung veränderten oder ob sie bereits eine veränderte Fassung des ursprünglich griechisch überlieferten Textes vorfanden. Zumindest Matthäus hat mit großer Wahrscheinlichkeit das Herrengebet in einer Fassung vorgefunden, die die dritte und die siebente Bitte bereits enthielt, weil die Entstehung beider Bitten weder theologisch noch sprachlich dem Evangelisten zugeschrieben werden kann. Die dritte Bitte erfleht die Durchsetzung des Gotteswillens bis zum endgültigen Kommen der Gottesherrschaft, die siebte bittet um Verschonung vor Versuchungen.
Die Matthäus und Lukas gleicherweise zugrunde liegende Tradition (→ Logienquelle / Spruchquelle
1.2. Zurück zu einer Urfassung durch Jesus?
1.2.1. Das Wort ἐπιούσιον
Die auf Jesus selbst zurückgehende Fassung des Herrengebetes lässt sich nicht sicher rekonstruieren, vor allem wegen des im Griechischen nicht mehr gebrauchten ἐπιούσιον (epiousion). Zum Verständnis dieses seltenen Wortes hat es mehrere Vorschläge gegeben, die sich auf zwei Gruppen reduzieren lassen. Demnach wäre das Adjektiv abzuleiten von:
- ἐπί τὴν oὔsan ἡμέραν (epi tēn ousan hēmeran): für den betreffenden Tag, oder
- ἡ ἐπιούσα ἡμέρα (hē epiousa hēmera): der folgende Tag
In der gegenwärtigen Forschung wird der zweiten Möglichkeit weithin der Vorzug gegeben, zunächst aus sprachlichen Gründen, da das Adjektiv ἐπιοῡσα (epiousa) mehrfach im NT und seiner Umwelt begegnet (Apg 7,26
1.2.2. Die von Jesus Belehrten
Die Hauptfrage bei der Rückführung des Textes auf seine erste Fassung ist, welchen Personenkreis und welche Situation Jesus vor Augen hatte, als er das Gebet formulierte. An Landwirte hat er wohl kaum gedacht, da Bauern das Brot für das kommende Jahr ernten. Aber auch für Handwerker oder Tagelöhner passt die Formulierung „heute für morgen“ nicht, es sei denn, man fasst „morgen“ weiter als nur einen Tag. Hatte aber Jesus die Jünger vor Augen, die er ohne Brot, Beutel und Geld aussandte (Mk 6,8
1.2.3. Der Abschluss des Gebetes
Mit der Bitte um Vergebung und dem anschließenden Versprechen, dass der Beter selbst zu vergeben bereit ist, dürfte das ursprüngliche Gebet geschlossen haben, da erst diese Bitte mit einem „und“ angefügt wurde und einen Nachsatz hat, der bei den anderen Bitten fehlt. Die Bitte um Verschonung vor Versuchungen, die mit einem zweiten „und“ anschließt, ist später hinzugekommen, denn die ersten vier Bitten sehen voll Vertrauen auf Gott, die fünfte aber beschäftigt sich in ängstlicher Weise mit der Gefahr und bittet um deren Abwendung. Dem Gefährlichen, Bösen ist hier ein Raum gegeben, der in den ersten vier Bitten nicht vorhanden war. Diese Bitte wäre demnach sehr bald nach Ostern von den Jüngern hinzugefügt worden, als sie merkten, dass sie den Versuchungen immer wieder zu verfallen drohten.
1.2.4. Die Anrede
Fragt man weiter zurück, so wird man feststellen, dass die Anrede mit „Vater“ (Abba) auf Jesus zurückgehen dürfte. In dieser Anrede kommt die enge Verbindung zwischen Jesus und seinem himmlischen Vater zum Ausdruck. Hingegen werden die beiden ersten Bitten von Jesus aus Gebeten seiner Zeit übernommen worden sein. Sie sprechen den Wunsch aus, dass Gottes Name nie missbraucht werde, Gott ihn durch seine Taten immer neu heilige und dass → Gottes Reich
1.2.5. Zeitgenössische Parallelen
Ein altes relativ kurzes jüdisches Gebet, das Qaddisch, ist dem Vaterunser sehr ähnlich. Der dem Vaterunser nahe stehende Text des Qaddisch lautet:
„Verherrlicht und geheiligt werde sein großer Name
in der Welt, die er nach seinem Willen schuf.
Er lasse herrschen seine Königsherrschaft
zu euren Lebzeiten und zu euren Tagen und zu Lebzeiten des
ganzen Hauses Israel in Eile und Bälde.
Gepriesen sei sein großer Name von Ewigkeit zu Ewigkeit.“
Dieses Gebet reicht zwar nicht sicher in die Zeit Jesu hinein, doch haben Gebete eine lange Lebenszeit, so dass man annehmen kann, dass Jesus dieses oder ein ähnliches Gebet kannte. Das in das 1. Jh. v. Chr. zurückgehende → true enthält auch diese Bitten, ist aber erheblich länger. Jesus hat voraussichtlich ein bereits vorhandenes kurzes, in seiner Umwelt gebrauchtes Gebet verändert und ihm eine neue Ausrichtung gegeben.
2. Das Gebet in der Fassung der Evangelisten
Beide Evangelisten halten fest, dass Jesus seine Jünger angewiesen hat, in dieser Weise zu beten (Mt 6,9
2.1. Lukas
Lukas hat das Vaterunser in dreifacher Weise ausgelegt:
2.1.1. Der Schwerpunkt des Lukas
Lk überliefert es im Zusammenhang einer Gebetsparänese. Das Bitten um das tägliche Brot wird dadurch verstärkt, dass im folgenden → Gleichnis
2.1.2. ἐπιούσιον (epiousion) bei Lukas
Lk versteht ἐπιούσιον (epiousion) im Sinne von „für den betreffenden Tag notwendig“. Darum ersetzt er „heute“ mit „jeden Tag“ und setzt das „gib“ in den Imperfekt (δίδου / didou), im Sinne von „gib immer wieder“, „gib jeden Tag neu“.
2.1.3. Die Vergebung der Sünden
Im Unterschied zu seiner Vorlage bittet der Fromme nach Lk 11,4
2.1.4. Die Rettung in Kürze
Wiewohl Lukas das Kommen des → Reiches Gottes
Einige Textzeugen, die Minuskeln 162 und 740 und Kirchenväter (→ Gregor von Nyssa
2.2. Matthäus
Im Verständnis des Matthäus will das Gebet als Modell für alle Christen verstanden werden. Darum wird es innerhalb einer Anweisung über das Beten (Mt 6,5-13
2.2.1. Die Erweiterung der Anrede
Die Anrede mit „Vater unser in den Himmeln“ zeigt an, dass Matthäus das Gebet vordringlich nicht als Gebet des Einzelnen „im Kämmerlein“ (Mt 6,6
2.2.2. Das tägliche Brot heute
Die Bitte um das tägliche Brot (Mt 6,11
2.2.3. Die Vergebungsbitte
Zentrale Bedeutung hat für Matthäus die Vergebungsbitte, wie Mt 6,14-15
2.2.4. Die Erfüllung des Willens Gottes
Die dritte Bitte, dass sich Gottes Wille erfüllen möge (Mt 6,10
2.2.5. Die Befreiung von der Macht des Bösen
Wohl aber kann der Böse oder das Böse den Christen vom Dienst Gottes ablenken. Darum die siebente Bitte: „sondern erlöse uns von dem Bösen“ (Mt 6,13
3. Die Doxologie
Die in manchen Textvarianten angeschlossene Doxologie ist später hinzugekommen. Eine Reihe von Theologen vermuten freilich mit Hinweis auf Üblichkeiten in der alttestamentlich-jüdischen Welt und auf 2Tim 4,18
Literaturverzeichnis
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- Jeremias, J., 1996, Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen, 152-171
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- Lohmeyer, E., 5.Aufl. 1962, Das Vater unser, Göttingen
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- Lohse, E., 2009, Vater unser. Das Gebet der Christen, Darmstadt
- Philonenko, M., 2002, Das Vaterunser, Tübingen
- Schürmann, H., 4. Aufl. 1981, Das Gebet des Herrn als Schlüssel zum Verständnis Jesu, Leipzig
- Tönges, E., 2003, „Unser Vater im Himmel“, Die Bezeichnung Gottes als Vater in der tannaitischen Literatur, BWANT 147, Stuttgart
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