Erinnerung/Erinnerungslernen
Schlagworte: Erinnerungskultur, Gedenken, remembrance, memory
(erstellt: Januar 2015)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.ErinnerungErinnerungslernen.100048
1. Hinführung
Die Begriffe Erinnerung und Erinnerungslernen werden im deutschen Sprachraum im Kontext von Bildungsprozessen fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem historischen und gesellschaftlichen Gedenken an die Katastrophe des Holocaust (der Schoah; → Auschwitz/Auschwitz-Gedenken
Diese doppelte Bewegung – vergangenheits- und zugleich gegenwarts- beziehungsweise zukunftsorientiert – führt Erinnerung und Erinnerungslernen in die unmittelbare Nähe von religiösen Lehr-Lernprozessen im Horizont der jüdischen und christlichen Tradition, die von einer analogen Bewegung bestimmt sind: dem Blick zurück auf Bibel und Tradition, insbesondere auf die Geschichte des Leidens – und gleichzeitig dem Blick nach vorn, in Gegenwart und Zukunft des Zusammenlebens der Menschen. Aus diesem Grunde sind religiöse Lehr-Lernprozesse besonders ‚erinnerungssensibel‘.
2. Erinnerung als theologische Basiskategorie
Religiöses Lernen in der Tradition der Bibel erfolgt stets als Erinnerung an biblische Geschichten und Erzählungen von Menschen, die aus der Beziehung zu Gott (→ Gott
Prägnantes Beispiel dafür ist die wichtigste ‚Erziehungsinstanz‘ des Judentums (→ Judentum
Christliche Erinnerung macht sich an den Erzählungen über Leben, Botschaft und Schicksal des Jesus von Nazareth (→ Christus
Erinnerung als (religiöse) Deutung und Bedeutung von historischen Ereignissen im Spannungsfeld von (Kirchen-)Geschichte (→ Kirchengeschichte
Der Fundamentaltheologe Johann Baptist Metz hat in Abgrenzung zu griechisch-platonischem Erinnerungsdenken (z.B. Platons Anamnesis-Lehre) und dessen Wirkungsgeschichte unter Rückgriff auf biblisches Verständnis sowie auf jüdische Theologie (→ Theologie
Aus der religiösen Pflicht zur Erinnerung folgt für heutige Kirche und → Gesellschaft
3. Erinnerung als gesellschaftliche, kultur- und bildungswissenschaftliche Kategorie
Im deutschen Sprachraum setzten sich im vergangenen Jahrzehnt die Begriffe „Kultur der Erinnerung“ oder „Erinnerungskultur“ als Termini für die Suche nach einem gesellschaftlich angemessenen Gedenken des Holocaust durch (Assmann, 2013 und 2006). Der Kulturbegriff deutet an, dass es nicht länger um ein Gedenken gehen kann, das von oben herab politisch-staatlich verordnet wird, z.B. an ‚Volkstrauertagen‘ und durch offizielle Gedenkfeiern, oder das in vorgegebenen Bildungsprogrammen zum Ausdruck kommt. Immer deutlicher wird, dass in multikulturellen und multireligiösen Zusammenhängen verschiedene Erinnerungstraditionen beziehungsweise Gedenkkulturen aufeinandertreffen und nicht selten im Widerspruch zueinander stehen (Leggewie, 2011; Welzer, 2007). In der Gesellschaft von heute, die in einem tiefgreifenden Transformationsprozess steht, der insbesondere durch die immer bedeutendere Stellung der neuen Kommunikationsformen und Medien (→ Medien
Erinnern ist eine individuelle und gleichzeitig eine kollektive Größe, die nicht unabhängig voneinander gedacht werden dürfen. Als individuelle Fähigkeit ist sie ein komplexer Konstruktionsprozess (Schacter, 1999, 71-121; Welzer, 2008), bei dem Wirklichkeit aufgrund von Vorerfahrungen, früheren Erinnerungen und deren Wiedergabe sowie aufgrund von sozialen Interaktionen gedeutet wird. Erinnerung ist Deutung, Konstruktion und Rekonstruktion von Vergangenem im sozialen Prozess („kollektives Gedächtnis“; Halbwachs, 1985), wobei der Diskurs- und Deutungsmacht im gesellschaftlich-politischen Prozess wesentliche Bedeutung zukommt und diese stets kritisch dekonstruiert werden muss. Kulturwissenschaftliche Forschungen hierzu haben sich in dem rasant wachsenden Zweig der „Cultural Memory Studies“ vereinigt (Überblick: Erll/Nünning, 2010), die Kultur- und Geschichtswissenschaft, soziale, politische, philosophische Gedächtnistheorien, psychologische, literatur- und medienwissenschaftliche Forschungen umgreifen.
Für die ‚Bildung‘ von individuellen und kollektiven Erinnerungen ist deren „emotionale Einbettung“ (Welzer, 2008, 125-151) entscheidend. Erinnert wird vor allem das, was mit Gefühlen, seien es positive oder negative, verbunden ist. Emotionen bewerten die Bedeutung von Ereignissen und sind selbst Gegenstand des Erinnerns, das heißt wir erinnern uns in erster Linie an die Gefühle, die wir mit bestimmten Ereignissen (individuell oder kollektiv) verbinden. Neben der emotionalen ist die reflexive Dimension für Bildungsprozesse entscheidend (Krause, 2014): Für Lernende geht es darum, die Kontingenz von überlieferten Erinnerungen als Deutungen und Konstruktionen ihrer Zeit zu verstehen, sie kritisch, insbesondere machtkritisch zu reflektieren und die Fähigkeit zu einer eigenen, selbstreflexiven und kritischen Erinnerungskultur auszubilden (Flierl/Müller, 2009).
4. Religionspädagogische Fokussierung
Wie oben erwähnt, hat religiöses Lernen eine besondere Nähe zu Erinnerungslernen im Allgemeinen ebenso wie im Blick auf den Holocaust, weshalb es seit den 1990er Jahren verstärkt zu Ansätzen einer ‚anamnetischen Religionspädagogik' gekommen ist (u.a. Wagensommer, 2009; Boschki, 2005; Petzold, 2001; Langer, 1997; Wermke, 1997). Sie versuchen, die Bedeutung des Lernens von Erinnerung im Feld religiöser Bildung (Religionsunterricht [→ Religionsunterricht, evangelisch
– Überwältigungsverbot: Entgegen früherer, meist unreflektierter, emotionalisierender Schockpädagogik, mit deren Hilfe man meinte, Lernende an das Thema der Massenvernichtung heranführen zu können (z.B. durch Filme von KZ-Dokumenten mit Leichenbergen von Opfern), gilt das Überwältigungsverbot. Lernenden muss stets die Möglichkeit gegeben werden, sich zu den Themen des Lernens in kritisch-reflexive Distanz zu setzen, um sich einen eigenen Zugang und Standpunkt zu verschaffen.
– Doppelte Subjektorientierung: Während sich die Orientierung an den → Subjekten
– Biografie- und Ortsorientierung: Aus diesem Grund ist es für die religionspädagogische Theorie und Praxis des Erinnerungslernens entscheidend, die historisch konkreten Menschen aufzuspüren, sich ihrer Lebensgeschichte zuzuwenden, den Erzählungen, Tagebüchern, Briefen oder Orten (Häuser, Stadtteile etc.), an denen sie gelebt, geliebt, gefeiert und geglaubt hatten. Die Geschichte einer einzelnen Person oder von Familien, die dem Holocaust zum Opfer fielen beziehungsweise ihm knapp entkommen konnten, ihre lokalen Lebens- und Leidensorte, können Lernende weit mehr sensibilisieren als die alleinige Konzentration auf Fakten (durch unbekannte Biografien ebenso durch große Namen wie Elie Wiesel). Hier verbindet sich religiöse Bildung mit der neueren Entwicklung der Gedenkstättenpädagogik, die auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden achtet, ihren Fragen, Blockaden, Zweifeln Aufmerksamkeit schenkt und ihnen eine aktive Rolle im Lernprozess einräumt (Thimm/Kößler/Ulrich, 2010).
– Der größere Kontext des jüdisch-christlichen Lernens: Das Verhältnis zwischen Christen und Juden ist aufgrund historischer und theologischer Bedingungen ein besonderes, weshalb beim Erinnerungslernen immer dieser größere theologische Horizont mitreflektiert werden muss. Christentum und Judentum haben eine besondere historische, theologische und soteriologische Interaktionsgeschichte, die von Jesus, dem Juden aus Nazareth, und seinen jüdischen Jüngern bis zur bleibenden heilsgeschichtlichen Bedeutung des → Judentums
– Antisemitismus-Bekämpfung: Aus diesem Grund kann sich religiöse Bildung nicht neutral zu Themen der Erinnerung verhalten, sondern muss nicht nur aus allgemein menschlichen, sondern gerade aus theologischen Motivationen heraus allen antijüdischen und judenfeindlichen Tendenzen eine klare Absage erteilen.
– Religiöse Bildung als Menschenrechtslernen: Im Zusammenhang mit erinnerungsgeleiteter → Religionspädagogik
– Ethische und selbstkritische Orientierung: Erinnerungslernen regt idealerweise in der Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen zur eigenen → ethischen Urteilsbildung
5. Beispiele religionsdidaktischer Realisierung
Religionslehrerinnen und -lehrer sind oft Akteure schulischer Lehr-Lernprozesse im Kontext der Holocaust-Erinnerung. Auch Kirchengemeinden oder kirchliche Institutionen auf übergeordneter Ebene (z.B. Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen = ACK, Verbände, Diözesen) sind bedeutende Trägerinnen der Erinnerungskultur im deutschsprachigen Raum, wobei eine Fülle von Aktivitäten zu verzeichnen ist. Bei den didaktischen Entwürfen werden idealerweise theologische, allgemeinpädagogische und religionspädagogische Reflexionen zugrunde gelegt. Nur einige wenige Beispiele sollen hier genannt werden:
– Interdisziplinäre, fächerübergreifende Gedenkaktionen: Häufig werden schulische Unternehmungen (z.B. zum 9. November oder 27. Januar; Theaterstücke, Gedenkstunden, Gedenkstättenbesuche) in Kooperation verschiedener Fächer durchgeführt. Religiöses Erinnerungslernen erfolgt nicht isoliert, sondern verbindet sich in Theorie und Praxis mit historischer, politischer oder → ästhetischer Bildung
– Biografieorientierte Gedenkveranstaltungen: Selbst bei kommunalen Gedenkveranstaltungen sind oft kirchliche Kreise wesentlich beteiligt, oft auch Schülerinnen und Schüler aus dem Religionsunterricht. Dabei ist auffällig, dass in den vergangenen Jahren immer stärker auf konkrete Biografien von Opfern Wert gelegt wird. Sie werden im Kontext der Veranstaltung erzählt, zum Teil von Jugendlichen im Vorfeld selbstständig recherchiert und bisweilen durch öffentlichkeitswirksame Aktionen (Ausstellungen, Websites, → Stolpersteinverlegung
– Kreativer Umgang mit Erinnerung. Jugendgruppen, die sich in ökumenischer Zusammensetzung um das Schicksal der jüdischen Gemeinden in der NS-Zeit kümmern, haben (wie beispielsweise im badischen Raum) Gedenksteine in allen Gemeinden, aus denen Juden im Nationalsozialismus deportiert wurden, künstlerisch gestaltet und aufgestellt sowie ein zweites Exemplar an einer zentralen Gedenkstätte errichtet, wobei sie gleichzeitig die Namen aller Deportierten und deren Biografien erarbeitet hatten.
– Zeugnisse der Zeitzeugen: Da die Zeitzeugen (→ Zeitzeugenbefragung
Während die Liste um ein Vielfaches verlängerbar wäre, wird deutlich, dass solche Beispiele impulsgebend für Nachahmerprojekte sein können. Indes sind empirische Bestandsaufnahmen der Erinnerungspraxis im Kontext religiöser Bildung sowie Evaluationsstudien zu den Wirkungen von Erinnerungslernen im Religionsunterricht ein dringendes Desiderat.
Literaturverzeichnis
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