Religionsfreiheit
(erstellt: Februar 2017)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/100324/
Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Religionsfreiheit.100324
1. Religionsfreiheit im Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften
Im Verhältnis von säkularem Staat und Religionsgemeinschaften gestaltet sich Religionsfreiheit auf mehreren Ebenen. Innerhalb einer modernen Verfassung gehört sie primärrechtlich zu den Grundrechten (→ Grundrechte/Menschenrechte
„Der Religionsunterricht ist an öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen“ (Art. 7 Abs. 3 GG).
Damit wird das positive Recht auf den Besuch oder die Erteilung eines Religionsunterrichts gemäß dem eigenen Bekenntnis konstituiert, negativrechtlich die eigene Glaubens- und Gewissensfreiheit berücksichtigt, welche auch den Zweifel oder die Ablehnung von Glauben und Religion umfassen kann. Damit sind Präambel, Art. 1 Abs. 1, Art. 7 Abs. 3 und Art. 4 Abs. 1 und 2 – sowohl auf entfaltungsrechtlicher als auch abwehrrechtlicher Ebene – untrennbar miteinander verbunden (vergleiche hierzu auch Nipkow, 2005, 101f.). Der evangelische, katholische, islamische und jüdische Religionsunterricht (→ Religionsunterricht, evangelisch
2. Religionsfreiheit in den Grundrechten
Positiv stärkt das Grundrecht auf Religionsfreiheit das Leben und die Gestaltung nach den eigenen Glaubensvorstellungen, negativ kann es eingeschränkt werden, wenn Grundrechte anderer Menschen durch die Religionsausübung beeinträchtigt werden. Eigene Identitätsansprüche können daher nicht uneingeschränkt auf Kosten anderer als ebenbürtige Grundrechteträger durchgesetzt werden. In diesen Fällen spricht man entfaltungsrechtlich von positiver beziehungsweise abwehrrechtlich von negativer Religionsfreiheit. Mit dem Prinzip des modus vivendi, das wechselseitigen Respekt voraussetzt (Di Fabio, 2009, 26), werden Anpassungsleistungen gefordert, die ein friedliches Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft insbesondere vor dem Hintergrund von → Migration
Die Spannung zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit zeigt sich immer wieder in Fällen, die mit dem Kopftuch-Tragen verbunden sind. Das Land Baden-Württemberg verweigerte 2003 einer muslimischen Lehramtsanwärterin nach erfolgreich absolviertem Staatsexamen den Eintritt in den staatlichen Schuldienst mit der Begründung, dass sie ihr Kopftuch nicht ablegen wollte (Lindner, 2008, 260-266). Die Beschwerdeführerin klagte vor dem Bundesverfassungsgericht, welches den Fall an den Landesgesetzgeber zurückgab:
„Das unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen positiver Glaubensfreiheit eines Lehrers einerseits und der staatlichen Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie der negativen Glaubensfreiheit der Schüler andererseits unter Berücksichtigung des Toleranzgebots zu lösen, obliegt dem demokratischen Landesgesetzgeber, der im öffentlichen Willensprozess einen für alle zumutbaren Kompromiss zu suchen hat“ (Bundesverfassungsgericht, 2003, Abschnitt 1).
Die Begründung des Senats stützt sich ausdrücklich auf die Feststellung, dass die religiös-weltanschauliche Neutralität nicht auf einer strikten Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften beruht, „sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen ist“ (ebd.), sodass sowohl christliche, als auch muslimische Ausdrucksformen des eigenen Glaubens im Sinne der positiven Religionsfreiheit geschützt sind. Auf der anderen Seite berührt die Sichtbarkeit dieser Zeichen jedoch auch das Recht auf negative Religionsfreiheit nicht gläubiger Schülerinnen und Schüler oder deren Eltern, die daraus aber nicht einen grundsätzlichen Anspruch ableiten können, „von Bekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen eines fremden Glaubens“ (ebd.) verschont zu bleiben. Mehrere Länder hatten daraufhin Kopftuchverbote für Lehrerinnen an öffentlichen Schulen erlassen (so durch Arbeitsgerichte in Nordrhein-Westfalen und auch durch §§ 57 und 58 Schulgesetz NRW). Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht sein Urteil aus dem Jahr 2003 bezüglich einer strikteren Auslegung zugunsten der Religionsfreiheit der Beschwerdeführerinnen verschärft:
„Das Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) gewährleistet auch Lehrkräften in der öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule die Freiheit, einem aus religiösen Gründen als verpflichtend verstandenen Bedeckungsgebot zu genügen. Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religionsgemeinschaften und des einzelnen Grundrechtsträgers nicht außer Betracht bleiben“ (BVerG – BvR 471/10, 2015).
Wie die Religionsgemeinschaften die Ausgestaltung korporativer Religionsfreiheit sehen, wird im Folgenden behandelt.
3. Religionsfreiheit aus Sicht der Kirchen und der Theologie
Die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aus dem Jahr 1994 greift insbesondere an vier Stellen den Gedanken der Religionsfreiheit explizit auf, indem sie
- die Auslegung des konfessionellen Religionsunterrichts im Lichte von Art. 4 GG als Recht auf Religionsfreiheit betont (Kirchenamt der EKD, 1994, 11),
- darauf hinweist, dass dieses Grundrecht für Eltern und Schülerinnen und Schüler das Recht einschließt, „in einer bestimmten, geschichtlich gewordenen Gestalt des Christentums, die ihnen vertraut ist, allein durch Vertreter dieser Konfession unterrichtet zu werden“ (ebd., 64),
- Tendenzen kritisiert, die den konfessionellen Religionsunterricht gering schätzen oder durch ein anderes Fach, wie Lebenskunde/Ethik ersetzen wollen. Damit würden die Heranwachsenden der Möglichkeit beraubt, „kraft des Grundrechts auf Religionsfreiheit den christlichen Glauben in seiner möglichen Bedeutung für ihr eigenes Leben im Spiegel geschichtlich gewordenen Formen des Christentums intensiv kennenzulernen“ (ebd., 81),
- theologisch gegenüber dem gemeinschaftlich geteilten Bekenntnis des Glaubens die individuelle Freiheit des einzelnen stark macht, sodass die Freiheit im Glauben zur Freiheit des Glaubens im Sinne der Religions- und Glaubensfreiheit gewendet wird (ebd., 62).
Die deutsche Bischofskonferenz hat in ihrer Verlautbarung „Die bildende Kraft des Religionsunterrichts“ 1996 ebenfalls Stellung zum konfessionellen Religionsunterricht genommen. Darin wird vor allem auch die Rolle der Kirchen in der Mitwirkung an der Erfüllung des staatlichen Bildungsauftrags (Meckel, 2011, 214) betont:
„Die Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland haben diese Bildungsaufgabe stets von ihrem eigenen Auftrag her ernst genommen als einen Dienst an den Menschen. Diese ‚Einmischung‘ ist ein Ernstnehmen demokratischer Partizipation. Sie als Vorteilsnahme oder als ein undemokratisches Privileg zu verdächtigen, geht von einem Mißverständnis von Demokratie und den Aufgaben der Kirchen in ihr aus (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 1996, 26, Hervorhebung dort).
Damit wird die Partizipation im Sinne der res mixta gefasst und die aktive Mitwirkung im Sinne der korporativen Religionsfreiheit verstanden (Hildebrandt, 2000, 78-81). Wenn „der Staat als Schulträger Veranstalter und Gewährleister des Religionsunterrichts ist“ (Meckel, 2011, 214), garantiert er die Rahmenbedingungen für eine Verwirklichung der Religionsfreiheit auch im Rahmen der öffentlichen Schule.
Die Mitwirkung der Kirchen an der Gestaltung religiöser Bildung in der pluralen Gesellschaft im Sinne des Allgemeinbildungsauftrages ist Ausdruck ihrer Bildungs(-mit)verantwortung und damit ihr Beitrag zum → Gemeinwohl
- der Befreiungsakt des Menschen sich in der Sündenvergebung durch Gott im Glauben vollzieht,
- durch die Sündenvergebung der Mensch jeder Selbstrechtfertigung enthoben ist (→ Röm 8
), - aus der Erlösung von jeglichem Selbstrechtfertigungszwang die Kraft der Nächstenliebe und damit die subjektive und soziale Handlungsfähigkeit resultieren (Preul, 2013, 120).
Der Glaube ereignet sich von Gott her als „ein reflexives Endlichkeitsbewusstsein“ des Menschen (Danz, 2013, 120), das einerseits seine alleinige und unbedingte Wirksamkeit erfahrbar werden lässt und andererseits vor der Vorstellung schützt, alles nur aus sich selbst heraus machen zu können. Insofern stellt reformatorische Theologie die Gefahr der Selbstüberschätzung als eine bedingte Freiheit des Menschen vor Augen. Damit wird insbesondere in konkreten Handlungszusammenhängen Freiheit als eine ans Leben gebundene verstanden (Bonhoeffer, 1998, 256), ohne die es keine Verantwortung für sich selbst, aber auch für den Anderen geben kann.
Literaturverzeichnis
- Bonhoeffer, Dietrich, Ethik, in: Tödt, Ilse (Hg. u.a.), Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 6, Gütersloh 2. Aufl. 1998.
- Bundesverfassungsgericht (BVerGE – BvR 471/10), Ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen ist mit der Verfassung nicht vereinbar. Beschluss vom 27. Januar 2015. Pressemitteilung Nr. 14/2015, o.O. 2015. Online unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2015/bvg15-014.html
, abgerufen am 25.08.2016. - Bundesverfassungsgericht, Lehrerin mit Kopftuch. Pressemitteilung Nr. 71/2003, Karlsruhe 24. September 2003. Online unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2003/bvg03-071.html
, abgerufen am 25.08.2016. - Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 93, 1), Kruzifix-Urteil, o.O. 1995. Online unter: http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv093001.html
, abgerufen am 25.08.2016. - Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 35, 366), Kreuz im Gerichtssaal, o.O. 1973. Online unter: http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv035366.html
, abgerufen am: 01.11.2016. - Danz, Christian, Freiheit im Spiegel der gegenwärtigen protestantischen Theologie. Anmerkungen zu einem neuzeitlichen Grundbegriff, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 65 (2013) 2, 110-121.
- Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), in: Classen, Claus D. (Hg.), Europa-Recht, München 18. Aufl. 2003, 630-643.
- Di Fabio, Udo, Gewissen, Glaube, Religion. Wandelt sich die Religionsfreiheit?, Berlin 2009.
- Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG), in: Kimmel, Adolf/Kimmel, Christine (Hg.), Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten. Textausgabe mit einer Einführung und einem Sachverzeichnis, München 6. Aufl. 2005, 57-110.
- Heckel, Martin, Gesammelte Schriften. Staat, Kirche, Recht, Geschichte, Bd. 5, in: Jus Ecclesiasticum 73, Tübingen 2004.
- Hildebrandt, Uta, Das Grundrecht auf Religionsunterricht. Eine Untersuchung zum subjektiven Rechtsgehalt des Art. 7 Abs. 3 GG, Jus Ecclesiasticum 63, Tübingen 2000.
- Ingenfeld, Martin, Das Wagnis der Freiheit. Das Böckenförde-Diktum und seine Implikationen für eine moderne Demokratie, o.O. o.J. Online unter: http://www.gsi.uni-muenchen.de/forschung/forsch_zentr/voegelin/publikationen/studierendensymposium/ingenfeld_b__ckenf__rde.pdf
, abgerufen am 25.08.2016. - Kirchenamt der EKD (Hg.), Schulen in evangelischer Trägerschaft. Selbstverständnis, Leistungsfähigkeit und Perspektiven, Eine Handreichung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2008.
- Kirchenamt der EKD (Hg.), Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1994.
- Kreß, Hartmut, Religionsfreiheit und Toleranz als Leitbild: Kulturelle Grundlagen – sozial- und rechtsethische Problemstellungen, in: Kreß, Hartmut (Hg.), Religionsfreiheit als Leitbild. Staatskirchenrecht in Deutschland und Europa im Prozess der Reform, Ethik interdisziplinär 5, Münster 2004, 21-58.
- Lindner, Heike, Bildung, Erziehung und Religion in Europa. Politische, rechtshermeneutische und pädagogische Untersuchungen zum europäischen Bildungsauftrag in evangelischer Perspektive, Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs 6, Berlin/New York 2008.
- Meckel, Thomas, Religionsunterricht im Recht. Perspektiven des katholischen Kirchenrechts und des deutschen Staatskirchenrechts, Kirchen- und Staatskirchenrecht 14, Paderborn 2011.
- Müller, Reinhard, Das Wagnis der Religionsfreiheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (04.05.2016). Online unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/islam-und-grundgesetz-das-wagnis-der-religionsfreiheit-14214052.html
, abgerufen am 11.10.2016. - Nipkow, Karl-Ernst, Christliche Pädagogik und Interreligiöses Lernen. Friedenserziehung, Religionsunterricht und Ethikunterricht, Pädagogik und Religionspädagogik zum neuen Jahrhundert 2, Gütersloh 2005.
- Nipkow, Karl-Ernst, Bildung und Protestantismus in der pluralen Gesellschaft, in: Schweitzer, Friedrich (Hg.), Der Bildungsauftrag des Protestantismus, Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 20, Gütersloh 2002, 13-53.
- Preul, Reiner, Evangelische Bildungstheorie, Leipzig 2013.
- Schreiner, Martin, Evangelische Schulen als protestantische Lern- und Lebensorte, in: Gürlevik, Aydin (Hg. u.a.), Privatschulen versus staatliche Schulen, Wiesbaden 2013, 169-181.
- Schulgesetz des Landes Niedersachsen, Runderlass Bestimmungen für den Schulsport 2011, geändert 2013. Online unter: http://www.schure.de/22410/34,6,52100,1.htm
, abgerufen am 25.08.2016. - Schulgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen 2014, Düsseldorf 2013. Online unter: https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Recht/Schulrecht/Schulgesetz/
, abgerufen am 25.08.2016. - Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Qualitätskriterien für Katholische Schulen. Ein Orientierungsrahmen, Die deutschen Bischöfe 90, Bonn 2009.
- Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Die bildende Kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts, Die deutschen Bischöfe 56, Bonn 1996.
- Winter, Jörg, Gott in der Europäischen Verfassung. Unveröffentlichtes Manuskript für einen Vortrag beim Pfarrkonvent in Bötzingen am 26.09.2003.
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download: