Judas Iskarioth
(erstellt: Januar 2010)
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1. Judas Iskarioth im Neuen Testament
1.1. Der Name
1.1.1. Der Name Judas
Der Name Judas weist zurück auf Juda, den vierten der von Lea geborenen Söhne Jakobs (Gen 29,35
Als bekannteste Träger des Namens sind anzusprechen: Judas Makkabäus (1Makk 2
Die Etymologie des Namens ist ungewiss. Der Zusammenhang mit ידה „preisen“ (vgl. das Wortspiel Gen 49,8
1.1.2. Der Beiname Iskarioth
Wie der Beiname Iskarioth (so die ursprüngliche Form, nicht Skarioth [in der Vulgata teilweise verwendet] oder Iskariotes) richtig zu deuten ist, ist umstritten. Mehrere Möglichkeiten stehen zur Auswahl (Einen Überblick über die bisher vorgetragenen Deutungen gibt G. Schwarz, Jesus und Judas, 7):
Gelegentlich wird der Beiname als Charakterisierung seiner Tat verstanden, das Wort Iskarioth wird dann von aramäisch sakar = ausliefern oder schaqar = lügen verstanden. Die philologische Problematik dieser Deutung besteht darin, dass die Endung –oth nicht erklärt werden kann.
G. Schwarz hat den Beinamen von aram. qarita = Stadt (Jerusalem) abgeleitet (Schwarz, 8-12). Auch dies ist unwahrscheinlich: bereits Markus hätte sie trotz seiner sonst nachweisbaren Aramäisch-Kenntnisse nicht mehr verstanden. Auch hat diese Ableitung in frühchristlicher antijüdischer Polemik keine Rolle gespielt.
Gelegentlich wird der Name von einer Zugehörigkeit des Judas zu den sog. Sikariern her gedeutet, zu einem Kreis von antirömischen Widerstandskämpfern, die auch vor Mordtaten an ihren innenpolitischen Gegnern nicht zurückschreckten. Allerdings müsste man dabei für den Anfang des Beinamens eine Umstellung von Sik- zu Isk- vornehmen. Auch entspricht es nicht dem typischen Verhalten dieser Widerstandskämpfer, der notgedrungen mit der römischen Besatzungsmacht kooperierenden Hohenpriesterschaft zuzuarbeiten.
Als die wahrscheinlichste Erklärung gilt immer noch die Deutung als Ortsangabe: Judas, Mann (איש) aus Kerioth in Judäa. Der Ort ist allerdings nur in Jos 15,25
1.2. Historische Betrachtung
Das historische Geschehen kann nur höchst umrisshaft rekonstruiert werden. Selbst die ältesten erzählenden Passionsdarstellungen, die vier kanonisch gewordenen Evangelien, sind schon von theologischen Tendenzen geprägt und dürfen keinesfalls in allen Einzelzügen unkritisch als Wiedergabe angeblicher „Fakten“ gelesen werden. Das 2006 entdeckte → Judasevangelium
1.2.1. Judas im Zwölferkreis
Das Markusevangelium (Mk 3,13-19
Judas war, soweit wir sehen können, von Anfang an Mitglied dieses Kreises. Ob seine mögliche Herkunft aus Judäa eine Rolle für seine Berufung gespielt hat, lässt sich nicht mehr klären.
Der Evangelist Johannes behauptet, Judas sei ein Dieb gewesen und habe aus der Gemeinschaftskasse des Jüngerkreises Geld veruntreut (Joh 12,6
1.2.2. Die Tat des Judas und ihre Motivation
Der erste und der letzte Satz muss an dieser Stelle heißen: Wir wissen nichts. Die Aussagen der späteren Evangelisten, Judas sei es gewesen, der von den Hohenpriestern Geld gefordert habe (Mt 26,15
Dementsprechend hat man, vor allem in Kreisen jenseits der theologischen Wissenschaft, neben der traditionellen Deutung u.a. auch eine Theorie entwickelt, der gemäß Judas nicht im Sinne hatte, Jesus zu Tode zu bringen, ihn vielmehr dazu nötigen wollte, dass er sich als Messias zu erkennen gab. Aus Joh 13,27
Die Leidensankündigungen (Mk 8,30-32
Die Leidensankündigungen sind von Markus mit Bedacht, aus theologischen Gründen, an die jetzige Stelle im Evangelium platziert worden. Man kann zwar durchaus allgemein fragen, ob nicht Jesus zunehmend mit persönlicher Gefährdung für Leib und Leben rechnen musste bzw. gerechnet hat (vgl. z.B. Mk 12,1-12
Die Tat des Judas muss sich einfügen lassen in das Gesamtbild, das wir von den Umständen des Todes Jesu erarbeiten können. Danach ist Jesus vermutlich als Unruhefaktor wahrgenommen worden, dessen Verkündigung der Gottesherrschaft, politisch (um-) interpretiert, als Gefährdung des mühsam ausbalancierten „Friedens“ zwischen der römischen Besatzungsmacht und der jüdischen Bevölkerung empfunden werden konnte (vgl. Joh 11,50
1.2.3. Das Ende des Judas
Über das Lebensende des Judas lassen sich keine gesicherten Aussagen machen. Mt 27
Der Vergleich zeigt: Historisch fassbar ist, dass Judas nach seiner Tat offenbar nicht mehr im Kreis der Jesusanhänger zu finden ist; auch lässt sich vermuten, dass man in dem Kreis der Jesusanhänger bald ein bestimmtes Grundstück mit dem Schicksal des Judas Iskarioth verband, ohne dass man Genaueres sagen konnte. Mehr wissen wir nicht.
1.3. Theologische Akzente der Evangelisten
1.3.1. Judas im Markusevangelium
Das Judasbild im Markusevangelium fügt sich zwanglos in dessen theologisches Gesamtkonzept ein: Bis Mk 8,26
In Mk 14,10f
Eben dadurch aber setzt er das Geschehen gegen Jesus in Gang. Mehrfach berichtet der Evangelist Markus von einem Todesbeschluss der Oberen gegen Jesus, aber zugleich davon, dass sich die Oberen vor dem Volk fürchten (Mk 11,18
Gegenüber Mk 14,10f
Die Erzählung Mk 14,18-21
Die Frage der anderen Jünger (Mk 14,18
Jesu abschließendes Wort Mk 14,21
Den Kuss des Judas wird man am ehesten als Vorspiegelung falscher Freundschaft deuten; die Gemeinde wird gewarnt, dass es auch in ihr falsche Freundschaft geben kann. Zusätzlich kann man Mk 14,44
1.3.2. Judas im Matthäusevangelium
Das Judasbild im Matthäusevangelium mit seiner Warnung vor Habgier (Mt 26,15
Die Habgier des Judas wird durch die – gegen Mk 14,10
In der Enttarnungsszene im Abendmahlssaal (Mt 26,21-25
Die Worte „Mein Freund, dazu bist du gekommen!?“ sind viel umrätselt. Achtet man auf die Zeichnung der Person Jesu im Matthäusevangelium insgesamt, ergibt sich auch die richtige Deutung: Für Matthäus ist Jesus der gehorsame Gottessohn, der den Willen des Vaters tut (vgl. Mt 26,42
Bei der Darstellung der Reue des Judas und seinem anschließenden Selbstmord liegt das Erzählinteresse des Matthäus weniger auf Judas selbst als auf seinen Verhandlungspartnern: Sie ignorieren diesen Hinweis auf Jesu Unschuld ebenso wie den des Pilatus und seiner Frau (Mt 27,19
1.3.3. Judas im Lukasevangelium
In die Verhandlungsszene führt Lukas erstmals die Vorstellung ein, dass Judas bei seiner Tat vom Teufel beeinflusst war (Lk 22,3
Die Identifizierung des Verräters findet nach Lukas nicht vor, sondern erst nach der Einsetzung des Herrenmahles statt. Der Leser soll sich vergegenwärtigen: Der Teufel holt sich seine Werkzeuge aus dem innersten Kreis der Gemeinde, und die Teilhabe am Heiligen Mahl bewahrt nicht vor Fehlverhalten und anschließendem Gericht.
Das Ende des Judas ist nicht wie bei Matthäus als Selbstmord geschildert, sondern als Unfall auf dem eigenen Grundstück, das er sich um seinen Lohn gekauft haben soll. Die Worte „er ist vornüber gestürzt und mitten entzweigeborsten, sodass alle seine Eingeweide hervorquollen“ (Apg 1,18
Ferner ist für Lukas wichtig, dass sich im Schicksal des Judas und in der durch sein Ausscheiden erforderlichen Nachwahl des zwölften Jüngers die Schrift erfüllt. Aufgrund der Darstellung der Apostelgeschichte wird Ps 109
1.3.4. Judas im Johannesevangelium
Der Evangelist Johannes hat bei der Charakterisierung der Figur des Judas Iskarioth eigene, für die Situation seiner Gruppe aktuelle Akzente gesetzt. Für ihn ist i.W. zweierlei eigentümlich:
Er ist der erste, der die Tat des Judas explizit unter dem Begriff des Unglaubens erfasst (Joh 6,64
Einerseits gilt: Niemand kommt zum Glauben, wenn Gott ihn nicht „zieht“ (Joh 6,37
Joh 6,65
In Joh 6,64
2. Judas Iskarioth in der Wirkungsgeschichte
Im wirkungsgeschichtlichen Teil des Judasartikels ist aus sachlichen Gründen die Zäsur bei der Aufklärung zu setzen. Vor der Aufklärung diente das Judasbild i.W. der Einschärfung des erwarteten christlichen Normalverhaltens, das Judasbild danach ist immer auch Reflex der Institutionenkritik, die kirchliche Machtansprüche auch schon in den neutestamentlichen Texten wahrnimmt. Die folgende Darstellung beansprucht keine Vollständigkeit!
2.1. Judas Iskarioth in der Alten Kirche
In der Alten Kirche ist Judas Prototyp des Sünders wie des unvollkommenen Büßers; an seiner Gestalt werden Fragen der menschlichen Willensfreiheit wie der göttlichen Vorherbestimmung erörtert. Für das richtige Verständnis des altkirchlichen Judasbildes sind zwei Gesichtspunkte zu bedenken:
Erstens: Die Evangelien galten als historisch zuverlässig und zugleich als inspiriert; sie wurden nicht kritisch hinterfragt;
Zweitens: Antike Biographie (auch die nichtchristliche!) sucht an dem Leben eines einzelnen Menschen allgemein das Beispiel für eine bestimmte Tugend oder ein bestimmtes Laster; das Typische ist wichtiger als das Individuelle; die Darstellung ist eher plakativ als differenziert.
Zunächst sei das altkirchliche Bild der „historischen“ Judasgestalt skizziert: Er stammt aus Kerioth; zum Verrat (Lk 6,16
2.1.1. Judas als Sünder
2.1.1.1. Judas als Prototyp des Zweiflers
Dieses Bild zeichnet vor allem Origenes (180-254), der sich gegen die Christentumskritik des Philosophen Kelsos (um 180) in seiner Schrift „Gegen Kelsos“ (um 250) zur Wehr setzen muss. Dieser hatte daraus, dass Jesus auch Judas zu seinem Jünger auserkoren hatte, auf die mangelnde Menschenkenntnis Jesu geschlossen. Origenes schreibt:
„Judas war in widerstreitende und entgegengesetzte Urteile über seinen Lehrer verfallen: er war weder mit ganzem Herzen Jesu feindlich gesinnt, noch bewahrte er ihm mit ganzem Herzen die Ehrfurcht, die ein Schüler seinem Lehrer schuldig ist“.
Diese Interpretationslinie hält Origenes auch im Weiteren durch: Der Kuss des Judas erfolgte nicht ohne Zeichen der Ehrerbietung; Judas’ Reue ist ebenso wie sein Selbstmord Zeichen für die Gewalt, die Jesu Lehren über seine Jünger auszuüben vermochte.
2.1.1.2. Judas als Prototyp des gestraften Gottesverächters
Diese Deutungslinie beginnt um 140 bei Papias von Hierapolis (Frgm. 3,2):
„Als ein großes Beispiel von Gottlosigkeit wandelte Judas in dieser Welt, indem sein Körper so sehr anschwoll, dass nicht einmal dort, wo ein Wagen leicht hindurchgeht, er hindurchgehen konnte, ja nicht einmal allein die Masse seines Kopfes. Seine Augenlider nämlich, heißt es, seien so sehr angeschwollen, dass er einerseits das Licht überhaupt nicht mehr sah, und dass andererseits seine Augen (sogar) durch den Augenspiegel vom Arzt nicht gesehen werden konnten; so tief lagen sie unter der äußeren Oberfläche. Sein Schamglied erschien widerwärtiger und größer als jegliches Schamglied; er trug aber Eiterströme an sich, die aus dem ganzen Körper flossen, und Würmer, zur Qual schon allein aufgrund der (natürlichen) Bedürfnisse. Als er, hieß es, nach vielen Qualen und Strafen auf seinem eigenen Grundstück zugrundegegangen war, blieb aufgrund des Gestanks das Land öde und unbewohnbar bis jetzt, und nicht einmal bis zum heutigen Tag kann jemand an diesem Ort vorübergehen, ohne dass er sich die Nase mit den Händen zuhält.“
Der Text ist deutlich gekennzeichnet durch die literarischen Motive der Gattung „Erzählung vom Tod eines Gottesverächters“ (s.o.; typischerweise werden die Würmer und der abscheuliche Gestank erwähnt), ist aber nicht nur, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, eine Wucherung krankhafter Phantasie. Die beiden schon in Apg 1,18f
Ps 109,18
Ps 69,24
Manchmal kann sich das Motiv der gerechten Bestrafung verselbständigen, z.B. in der Beschimpfung von Denunzianten im „Martyrium des Polykarp“ (M.Polyk 6,2) oder auch in folgendem Fluch über einen Grabschänder:
„Die frömmste Diakonisse Athanasia, die ein untadeliges Leben geführt hat in Anstand, ist eingesetzt worden als Diakonisse durch den allerheiligsten Bischof Pantamianos. Sie hat dieses Denkmal gesetzt. Hier liegen ihre sterblichen Überreste. Wenn jemand anderes es wagt, dieses Grabmal zu öffnen, wo die Diakonisse bestattet wurde, dann soll er das Los des Judas, des [Verräters] unseres Herrn Jesus Christus erleiden.“
2.1.1.3. Judas als Prototyp des verstockten Juden
Der allgemeine altkirchliche Antijudaismus führte leider auch dazu, dass gelegentlich schon in der Alten Kirche Judas als Prototyp des Juden zu stehen kam. Nach Hilarius von Poitiers verwendete Israel, in Judas repräsentiert, allen Eifer darauf, den Namen des Herrn auszulöschen. Euseb von Cäsarea, Augustin und Prosper von Aquitanien beziehen Ps 109,6-10
2.1.2. Die Buße des Judas
2.1.2.1. Judas als Prototyp des unvollkommenen Büßers
Der Selbstmord des Judas gilt zumeist als Beweis für die Unvollkommenheit (nicht: Unaufrichtigkeit!) seiner Reue, doch inwiefern ist seine Reue unvollkommen? Er trauert im Übermaß über seine Sünde und misstraut der Gnade Christi. Maximus von Turin bemerkt mit psychologischem Feingefühl, das Schlimmste sei, dass Judas sich selbst verurteilt habe:
„Wenn einer sich selbst verurteilt, von wem wird er Nachsicht erbitten?“
2.1.2.2. Die Reue des Judas als Mahnung
Gregor von Nazianz schmäht den als Christen erzogenen, dann aber vom Christentum abgefallenen und zum Christentumsgegner gewordenen Kaiser Julian den Abtrünnigen (361-363) mit folgenden Worten:
„Als Verfolger trittst du in die Fußstapfen des Herodes, als Verräter in die des Judas, nur dass du nicht gleich diesem durch den Strick deine Reue bekundest. Als Christusmörder folgst du Pilatus nach, als Gotteshasser den Juden“.
Sichtbar ist, dass der Autor die Reue des Judas als ernsthafte Reue auffasst; problematisch ist jedoch, dass, wie schon bei Matthäus, die Reue des Judas als positives Gegenbild zu der angeblichen Verstockung der Juden zu stehen kommt.
2.1.3. Judas’ Tat und Gottes Vorherwissen
Wie konnte Jesus diesen Judas zum Jünger wählen, wenn er und Gott doch im Voraus um seine Tat wussten? Wenn Gott um die Tat des Judas im Voraus wusste, warum hat er sie nicht verhindert?
Bei Origenes und Hieronymus fungiert Judas als Testfall für die These der Willensfreiheit und für die Theodizee (die Rechtfertigung der Annahme, dass es einen Gott gibt, und die Rechtfertigung seines Wirkens angesichts der Übel in der Welt wie Katastrophen, Krankheiten etc.). Gegen die mit Joh 17,12
Hingegen vermerkt Augustin in seiner Auslegung zu Joh 17,12
2.2. Vom Mittelalter bis zur Aufklärung
2.2.1. Die Vita des Judas im Mittelalter
Im Mittelalter wird i.W. das altkirchliche Judasbild weitergeführt; Seine Biographie wird in negativer Weise legendarisch angereichert; so werden der Judaslegende Motive aus den Moseerzählungen, aber auch aus den Ödipussagen einverwoben:
Seine Mutter Cyborea träumte eines Nachts davon, einen Sohn zu bekommen, der dazu bestimmt war, das ganze jüdische Volk zu zerstören. Als sie dann tatsächlich einen Jungen zur Welt bringt, wird dieser in einer kleinen Kiste auf dem Meer ausgesetzt. Die Kiste landet an der Insel Skarioth. Dort wird das Kind von der Königin, die selbst bisher keine Kinder hatte, entdeckt und am Hof großgezogen. Nach einiger Zeit bekommt sie selbst einen Sohn. In der Folge kommt es zwischen ihm und Judas immer wieder zum Streit. Nachdem die Königin dem Judas im Zorn seine Herkunft offenbart hatte, ergreift Judas die erstbeste Gelegenheit, den eigentlichen Sohn der Königin umzubringen und flieht nach Jerusalem. Dort findet er einen Platz im Gefolge des Pilatus. Als er einmal für Pilatus eine bestimmte Frucht aus dem Garten des Nachbarhauses holen will, kommt es zwischen ihm und dem Gartenbesitzer zum Streit, und Judas erschlägt seinen Kontrahenten und heiratet dessen Witwe, ohne zu wissen, dass es sich um seinen Vater Reuben und seine Mutter Cyborea handelt. Als Cyborea ihm später einmal ihre Lebensgeschichte erzählt, erkennt Judas, was er getan hat. Voll Reue beschließen beide, dass sich Judas an Jesus wenden solle. Er wird zum bevorzugten Jünger im Kreis Jesu, doch bald setzt sich die Bosheit seines inneren Wesens wieder durch; er verrät Jesus aus Wut über die Vergeudung der Salbe (vgl. Joh 12
2.2.2. Judas als Prototyp des Sünders
Judas wird weiterhin als negatives Beispiel z.B. der Habgier und der Treulosigkeit wahrgenommen. Die Habgier des Judas ist für Beda Venerabilis (gest. 735) und Hrabanus Maurus (ca. 783-856) ebenso für die Zustände bei den politischen und sozialen Eliten der eigenen Zeit bestimmend. In der Reformationszeit wurde Moritz von Sachsen als „Judas von Meißen“ bezeichnet um seines zweimaligen Frontwechsels hin zur Partei der Romtreuen und wieder zurück.
Judas speziell als Habgieriger und Treuloser ist auch Thema mittelalterlicher Malerei. In vielen Abendmahlsdarstellungen wird er durch die Anordnung der Bildkomposition von den anderen Jüngern abgesetzt: Er allein steht, sitzt oder kniet vor dem Tisch. Aufgrund von Joh 12,6
An diesem negativen Judasbild des Mittelalters hat auch die Reformation wenig geändert: Gerade Martin Luther belegt – im Gegensatz zu Jean Calvin – weltliche und geistliche Herren mit diesem Namen, die zu sehr dem Geld ergeben sind, ebenso den Papst, aber auch Andersdenkende im eigenen Lager. Doch fasst Luther gelegentlich auch den Gedanken, dass die Tat des Judas nicht nur unter seiner persönlichen Schuld zu erfassen ist:
„unsere große Sünde und Missetat / Die Christum, den wahren Gott von Art / Ans Kreuz geschlagen hat. / Drum wir dich armen Juda, dazu die Judenschar / Nicht billig dürfen schelten, die Schuld ist unser gar“.
In diesem Sinne hat Johann Sebastian Bach (1685-1750) in seiner „Matthäuspassion“ die Frage der Jünger „Herr, bin ich’s“ beantwortet:
„Ich bin’s, ich sollte büßen
an Händen und an Füßen
gebunden in der Höll’
die Geißeln und die Banden
und was du ausgestanden
das hat verdienet meine Seel’.“
2.2.3. Judas als Prototyp des Juden
In mittelalterlicher Schriftauslegung wird Ps 109
In demselben Geist wurde Judas zum Symbol der Juden in zwei anderen Bereichen, die auch auf das einfache Volk eine Wirkung ausübten: in der Malerei und im Passionsspiel.
In der Malerei wird Judas nicht nur mit hässlichen (s.o.), sondern mit typisch jüdischen Gesichtszügen gezeichnet, vor allem mit der krummen Hakennase; das gelbe Gewand wird im 15. Jahrhundert zur Darstellung des „typisch Jüdischen“. Die nationalsozialistische Propaganda, vor allem in dem Hetzblatt „Der Stürmer“, knüpft unmittelbar an diese mittelalterliche Porträtierung des Judas an (Einzelnachweise bei Kübler).
In manchen Passionsspielen wird Judas aufgrund seiner Reue noch positiv von den Juden abgehoben: Sie sind schlimmer als er. Judas wird zum Opfer symbolischen, die jüdische Bevölkerung zum Opfer realen Hasses; gerade in der Karwoche hatten Juden am meisten unter Ausschreitungen von Christen zu leiden. Auch Martin Luther zeigt in seinem Spätwerk eine antijüdische Polemik, die uns beschämen muss: Bei seinem Suizid platzten Judas, wie bei Gehenkten üblich, die Därme und die Blase auf; die Juden sollen von seinen Exkrementen getrunken haben.
2.2.4. Judas als Prototyp des Verzweifelten
Am Beispiel des Judas wird vor Verzweiflung gewarnt, z.B. in der Frankfurter Passion von 1493:
„Kein Sünder nicht verzweifeln soll;
Gott ist so großer Gnaden voll
Dass er ihm vergibt seine Sünde!
Hätt’ sich Judas nicht in der Stunde
Vor großem Leide erhangen (= erhängt),
Gott hätt’ ihn gern empfangen.“
Dass der Teufel ihm auch die Idee zum Selbstmord eingegeben habe, mag aus Ps 109,6
2.2.5. Judas als Prototyp des von Gott gestraften
In Dante’s „Göttlicher Komödie“ befindet sich Judas zusammen mit den Cäsarmördern Cassius und Brutus im Inferno an dessen tiefstem Punkt; er ist an den Teufel geradezu angewachsen und muss ewige Folterqualen leiden. Von der ewigen Verdammnis des Judas war man allgemein überzeugt, wie auch die folgende Liedstrophe belegt:
„O du armer Judas, was hat du getan,
dass du unsern Herren also verraten hast!
Darum musst du leiden höllische Pein.
Luzifers Geselle / musst du ewig sein“.
Der dominikanische Volksprediger Vinzenz Ferrer (1350-1419) ist der einzige, der aus dem allgemeinen Verdammungsurteil über Judas ausschert und ihm die ewige Seligkeit zuspricht:
„Judas, …, der den Heiland verraten und verkauft habe, sei nach dessen Kreuzigung von einer wahrhaftigen und heilsamen Reuegesinnung erfasst worden und habe aus allen Kräften versucht, sich Christus zu nahen, um für seinen Verkauf und Verrat Abbitte zu leisten. Doch da Christus von einer so großen Menschenmenge zum Kalvarienberg (= Golgatha) begleitet war, sei es dem Judas unmöglich gewesen, zu ihm zu kommen, und er habe dann in seinem Herzen gesprochen: Da ich zu den Füßen des Meisters nicht gelangen kann, will ich ihm wenigstens im Geiste nahen und ihn so demütig um Verzeihung bitten. Das tat er denn auch wirklich, und als er den Strick nahm und sich erhängte, eilte seine Seele noch zu Christus auf den Kalvarienberg, bat ihn dort um Verzeihung, empfing sie von Christus auch vollständig, stieg mit ihm in den Himmel auf, und so genießt seine Seele mit anderen Auserwählten die Seligkeit.“ (Dieckmann, 139).
Der Gedanke der ewigen Seligkeit des Judas taucht auch bei Anatole France wieder auf, der damit die Kritik an der Mitleidslosigkeit der offiziellen Kirche gegenüber der Person des Judas verbindet).
2.3. Judas Iskarioth in der Neuzeit
2.3.1. Judas als Antiheld der Messiaserwartung
Friedrich Gottfried Klopstock (1724-1803) versucht in seinem „Messias“ (1748-1773) eine psychologische Entwicklung in Judas auszumachen: nach anfänglicher Liebe zu Jesus entwickeln sich Eifersucht und Habgier. Judas sucht dann Jesus durch die Auslieferung an die jüdischen Priester dazu zu bewegen, dass er endlich sein Reich errichte und Judas sein vergleichsweise kleines Erbteil erlangen kann. Auch nach J. W. von Goethe wollte Judas seinen Meister dazu drängen, sich als „Regent und Volkshaupt“ zu erklären (Dichtung und Wahrheit, Buch 15).
2.3.2. Judas als Werkzeug in einem höheren Plan
Fritz Rosenthal (= Schalom Ben-Chorin) lässt einen 1935 erschienenen Gedichtzyklus von vier Sonetten über Judas „mit der Pointe enden, daß Gott ihn als Miterlöser annimmt“.
In Nikos Kazantzakis’ (1883-1957) Roman „Die letzte Versuchung“ ist Judas „Verräter aus Gehorsam“: Jesus erkennt, dass Gottes Herrschaft nur anbrechen kann, wenn er sich opfert, und fordert Judas deshalb auf, ihn an die Machthaber auszuliefern. Bei Mario Pomillo wird die Behauptung der schicksalhaften Verstrickung des Judas in Frage gestellt; dies wird – die erzählte Welt ist das nationalsozialistische Deutschland i.J. 1940 – zur Mahnung: Statt blinden Gehorsam zu üben bleibt dem Einzelnen die Verantwortung auferlegt zu fragen, „ob ein staatliches Gesetz gerecht und die Ausführung eines Befehls vor dem Gewissen zu verantworten sei“ (Imbach, 127f.).
Ähnlich wird in Walter Jens’ „Der Fall Judas“ (1975) einleitend der Antrag auf Seligsprechung des Jüngers begründet:
„Ehre sei Gott - Ich, P. Berthold B. OFM, stelle den Antrag, Judas aus Kerioth seligzusprechen, der ein Sohn des Simon war und im Volksmund bis heute Judas, der Sichelmann heißt. Ich bitte den Heiligen Stuhl zu erklären, daß dieser Judas in die himmlische Glorie eingegangen ist und öffentliche Verehrung verdient. Denn ihm und keinem anderen sonst ist es zu danken, daß in Erfüllung ging, was im Gesetz und bei den Propheten über den Menschensohn steht. Hätte er sich geweigert, unseren Herrn Jesus Christus den Schriftauslegern und Großen Priestern zu übergeben … er wäre an Gott zum Verräter geworden.“ (Jens 8).
2.3.3. Judas als anthropologische Chiffre
„Judas“ wird allgemein zum Symbol für Treulosigkeit und Verrat, unabhängig von den Inhalten, und er ist, so Christian Friedrich Hebbel (1813-1863), kein Einzelfall:
„Zwölf Apostel und doch nur ein einziger Judas darunter?
Würbe der Göttliche heut, zählte er mindestens elf“
(Wiedergabe nach Krieg, Judas, 273).
Eine metaphorische Verwendung des Judasnamens kann Verhaltensweisen von Denunziation in diktatorischen Systemen bezeichnen: Das Buch „Judasfrauen“ (Helga Schubert) thematisiert Fälle von Denunziation durch Frauen während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft; Birgit Lahann veröffentlichte ihre Lebensbeschreibung des später als „Inoffizieller Mitarbeiter“ des Staatssicherheitsdienstes enttarnten Ibrahim Böhme unter dem Obertitel „Genosse Judas“.
Unabhängig davon kehrt der jüdische Schriftsteller Max Brod ein altes, vor allem spätmittelalterlich verbreitetes christliches Traditionsmuster überraschend und für Christen beschämend um: Verrät dort ein mit typisch jüdischen Zügen ausgestatteter Judas seinen Herrn, der – so die damalige (!) Überzeugung – die Fesseln des Judentums hinter sich gelassen hatte, so ist Judas bei Brod gerade der abtrünnige Jude, während Jesus „in seiner Person das Judentum vollkommen zur Geltung“ bringt (Zangger-Derron, 177).
2.3.4. Judas als psychologische Chiffre
In psychoanalytischer Judasdeutung verkörpert Judas die dunklen Seiten des Menschen, des Christen, die der christliche Glaube unterdrückt oder tabuisiert. Gerhard Wehr wendet diesen Ansatz zur Mahnung, sich an Jesu Vorbild zu orientieren: Jesus hat Judas als Apostel bejaht und noch bei seiner Gefangennahme den Kuss als Freundschaftszeichen entgegengenommen. So sollen wir „das eigene mängelbeladene Ich, aber auch das konkrete Du annehmen, so wie es ist, frei von Illusionen, seien es positiv oder negativ scheinende, Illusionen über uns, die wir in der Regel auf das Du projizieren“ (Wehr, 146f.).
2.3.5. Judas als Moment der Kirchen- und Bibelkritik
Das 1971 uraufgeführte Musical „Jesus Christ Superstar“ zeichnet Judas als den, der gegen die überschwängliche Verehrung Jesu durch seine Anhänger kritische Fragen richtet: Ist Jesus wirklich der, als den sie ihn feiern? Ist sein Selbstanspruch berechtigt? Judas’ Suizid wird mit der Verzweiflung darüber begründet, dass Jesus auf seine Kosten als Märtyrer verherrlicht wird, dass er nur ein Steinchen in einem großen Mosaik ist, dass Gott sein Schicksal vorbestimmt hat und dass er machtlos ist, daran etwas zu ändern.
Walter Jens beschließt sein viel gelesenes Judasbuch von 1975 mit den Worten:
„Judas - Judas, mein Bruder - für jene Millionen, die die Orthodoxie (welcher Art immer sie sei) um ihres Freimuts oder, oft genug, auch nur um ihrer Andersartigkeit willen verdammte. Dann wäre er eine Chiffre für Jude und Heide, für Kommunist, Neger und Ketzer - für alle, die man verteufelte und zum Sündenbock machte. Dann verdiente er die Auszeichnung eines Märtyrers … Ehre dem Judas. Ehre den Opfern.“ (Jens 95).
Der jüdische Autor P. Ury kritisiert in seinem „The Kiss of Judas. A Miracle Play with Music Rehabilitating the 12th Apostle“ die christliche Judasdeutung wegen ihres Antijudaismus und versteht Judas als Symbolgestalt des jüdischen Leidens unter der christlichen Tyrannei.
2.3.6. Judas als Gestalt der kirchlichen Selbstkritik
Das Gedicht „abendland“ des Schweizer Pfarrers und Dichters Kurt Marti (*1921), 1980 erstmals veröffentlicht, lässt sich wieder in eine Linie einordnen, die die von Judas in Mt 27,3
abendland
schöner judas
da schwerblütig nun
und maßlos
die sonne
ihren Untergang feiert
berührst du mein Herz
und ich denke dir nach
ach was war
dein einer verrat
gegen die vielen
der christen der kirchen
die dich verfluchen
ich denke dir nach
und deiner tödlichen Trauer
die uns beschämt
(Marti, abendland, in: Marti, abendland. Gedichte (1980), Hamburg / Zürich 1993, 18).
Literaturverzeichnis
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- Goldschmidt, H. L. / Limbeck, M., 1976, Heilvoller Verrat? Judas im Neuen Testament. Mit einem Geleitwort von Anton Vögtle, Stuttgart
- Heindl, A. 2006 / 2007, Zur Rezeption der Gestalt des Judas Iskariot im Islam und im Judentum, Ein Versuch der Annäherung an ein heikles Thema, PzB 15 (2006), 133-151; 16 (2007), 43-66
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- Jens, Walter, 1975, Der Fall Judas, Stuttgart
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- Klauck, H.-J., 1987, Judas - ein Jünger des Herrn (QD 111), Freiburg
- Krieg, M., 2002, Schöner trauriger Judas. Typologie einer literarischen Figur, KuI 17, 76-85
- Krieg, M. / Zangger-Derron, G., 1996, Judas. Ein literarisch-theologisches Lesebuch, Zürich
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- Lahann, B., 1992, Genosse Judas. Die zwei Leben des Ibrahim Böhme, Berlin
- Lona, H. E., 2007, Judas Iskarioth: Legende und Wahrheit, Freiburg (Breisgau)
- Marti, K., 1980 / 1993 abendland, in: K. Marti, abendland. Gedichte (1980), Hamburg / Zürich, 18
- Meiser, M., 2004, Judas Iskariot. Einer von uns (BG 10), Leipzig
- Monstadt, B., 1995, Judas beim Abendmahl: Figurenkonstellation und Bedeutung in Darstellungen von Giotto bis Andrea del Sarto (Beiträge zur Kunstwissenschaft 57), München
- Pagels, E., 2008, Das Evangelium des Verräters. Judas und der Kampf um das wahre Christentum, München
- Schubert, H., 1990 Judasfrauen. Zehn Fallgeschichten weiblicher Denunziation im dritten Reich, Frankfurt
- Schwarz, G., 1988, Jesus und Judas. Aramaistische Untersuchungen zur Jesus-Judas-Überlieferung der Evangelien und der Apostelgeschichte (BWANT 123), Stuttgart u.a.
- Vogler, W., 1983, Judas Iskarioth. Untersuchungen zu Tradition und Redaktion von Texten des Neuen Testaments und außerkanonischer Schriften (ThA 42), Berlin
- Wehr, G., 1974, Judas Ischariot – unser schattenhaftes Ich, DtPfrBl 74, 146f.
- Wurst, G., 2006, War er kein Schurke? Das Judas-Evangelium führt uns in jene unruhige Zeit, als die frühen Christen ihre Identität suchten, National Geographic Deutschland, 62-71
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