Menschensohn
(erstellt: Januar 2011)
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([ὁ] ὑιὸς τοῦ ἀνθρώπου, Son of Man)
Der Titel „Menschensohn“ ist in alter, palästinensischer Jesustradition zuhause. In der Griechisch sprechenden Gemeinde spielt der sprachlich befremdende Ausdruck außerhalb der Evangelien keine Rolle, auch nicht bei Paulus. Griechisch gebildete christliche Autoren sahen darin irrtümlich die Menschlichkeit Jesu – im Gegensatz zu seiner Gottessohnschaft – betont (vgl. Colpe 480 f.). Umso mehr bietet das Stichwort eine Chance, an frühe Christologie heranzukommen, vielleicht sogar an das Selbstverständnis Jesu.
1. Sprachliches, Traditionsgeschichte
Hauptsächlich in den Evangelien, bei den Synoptikern nur in Aussprüchen Jesu, erscheint der rätselhafte Ausdruck (ὁ) ὑιὸς τοῦ ἀνθρώπου. Zugrunde liegt eine idiomatische aramäische Wortverbindung bar enasch, die wörtlich mit „(der, ein) Sohn eines Menschen“ wiedergegeben werden kann. Wie „Menschenkind“ im Deutschen bezeichnet sie ohne Rücksicht auf das Alter einen der Gattung „Mensch“ Zugehörigen, und zwar sowohl in generischer („der Mensch“) wie in indefiniter („ein Mensch“) Bedeutung. Auch die durch Zufügung eines Alef gebildete emphatische Form des 2. Bestandteils (enascha) garantiert noch keine konkrete Bestimmtheit des „Menschen“.
Im Alten Testament findet sich „Menschensohn“ (בֶּן־אָדָם) häufig bei → Ezechiel
Deshalb ändert sich auch die Aufgabe des Menschengestaltigen. Während er in Dan 7,13
2. Die Menschensohnworte Jesu bei den Synoptikern
Wenn Jesus in den drei ersten Evangelien vom Menschensohn spricht, dann entweder vom in Zukunft kommenden oder vom schon gekommenen, womit er offensichtlich sich selbst meint. Diese zwei Gruppen sind inhaltlich, aber auch nach ihrer literarischen Eigenart, nach Kontext- und Situationsbezug noch einmal zu differenzieren. Dabei ist auch die Herkunft zu berücksichtigen: Stammen sie aus der → Logienquelle
2.1. Der kommende Menschensohn in apokalyptischer Tradition
In futurischen Worten prophetischer Art, die relativ lose in den Kontext eingebunden sind und oft zur Begründung von Mahnung oder Ermunterung dienen, redet Jesus vom Menschensohn wie von einem anderen. Einige dieser Worte könnten auch in jüdischen → Apokalypsen
2.1.1. Wie und wann der Menschensohn kommt
Zwei Q-Logien schärfen das rechte Verhalten in der Endzeit ein, indem sie das „Offenbarwerden“ (Lk 17,30
2.1.2. Entsprechung von Verhalten zu Jesus und Sanktion durch den Menschensohn
Andere weithin kontextunabhängige Worte sprechen zwar diese Identität auch nicht offen aus, stellen aber eine Beziehung her zwischen dem gegenwärtigen Verhalten der Jünger Jesu und ihrem eschatologischen Geschick, das der Menschensohn bestimmt. Typisch ist der Spruch vom Bekennen und Verleugnen Lk 12,8f
In diese Gruppe lassen sich noch einige matthäische Texte stellen: Mt 10,23
2.2. Die Worte vom gekommenen Menschensohn
Wie schon bei Lk 6,22
2.2.1. Vollmacht auf Erden
In Mk 2,1-12
2.2.2. Das Muss des Leidens auf dem Weg zur Herrlichkeit
Eine deutliche Untergruppe bilden die sogenannten Leidensweissagungen (Mk 8,31
Es ist ohne weiteres einsichtig, dass diese Voraussagen nicht auf den historischen Jesus zurückgeführt werden können.
2.2.3. Weitere Worte über den bereits gekommenen Menschensohn
An die vorige Gruppe schließt sich gut Mk 10,45
Im kaum ursprünglichen Kommentar zum Gleichnis von den uneinigen spielenden Kindern wird der Lebensstil des Täufers und der Jesu einander gegenübergestellt. Auch hier heißt es „Der Menschensohn ist gekommen“ (Lk 7,34
3. Jesus und der Menschensohn
In welchem Sinn hat Jesus vom „Menschensohn“ gesprochen? Hat er sich damit selbst gemeint? Oder sind alle Menschensohnworte der nachösterlichen Gemeinde geschuldet, die Jesus mit dem apokalyptischen Menschensohn identifizierte?
3.1. Einsatz bei den Worten vom gekommenen Menschensohn unergiebig
In der Mehrzahl der in 2. untersuchten Fälle fungierte Menschensohn als Titel in apokalyptischem Kontext. Es ist also nicht ratsam, von den Worten über den Gekommenen auszugehen, in denen diese titulare Bedeutung nicht so klar war. Besonders im englischen Sprachraum setzt man oft dennoch hier an. Lk 7,34
3.2. Jesus hat sich kaum selbst als kommenden Menschensohn gesehen
Der Menschensohn wurde im zeitgenösssischen Judentum als eine himmlische Gestalt erwartet. Hätte Jesus beansprucht, diese gleichsam vorweg auf Erden zu verkörpern, wäre er auf totales Unverständnis gestoßen. Die Gleichsetzung Jesu mit dem erhofften Menschensohn ist nur aus der nachösterlichen Perspektive denkbar, die Jesus im → Himmel
3.3. Die Menschensohnworte können nicht alle als spätere Bildung erklärt werden
Gegenüber der naiven Annahme, diese dem NT schon selbstverständliche Identifikation von irdischem und noch vom Himmel her kommenden Menschensohn gehe auf den historischen Jesus zurück, fallen heutige Forscher manchmal ins andere Extrem und sprechen diesem alle Menschensohnworte ab. Sie seien Anleihen der christlichen Gemeinde bei der jüdischen Apokalyptik. Der Eindruck, Jesus spreche hier von einem anderen, hänge mit der Traditionalität dieses Materials zusammen. In Wirklichkeit rede er von sich selbst als dem gekommenen und kommenden Menschensohn, eine Sicht, die dem historischen Jesus nicht zuzumuten sei.
Demgegenüber ist festzuhalten, dass bei aller Anknüpfung an traditionelle Sprache die neutestamentlichen Aussagen über den kommenden Menschensohn von den erhaltenen einschlägigen Apokalypsen differieren. Z.B. fehlt dort die Vorstellung, dass der Menschensohn vom Himmel her zur Menschheit „kommt“ (Darauf macht u.a. U.B. Müller 116 aufmerksam). Einzig die matthäische Wendung vom Sich-Setzen des Menschensohnes auf den Thron der Herrlichkeit könnte aus den Bilderreden des äthHen stammen. Literarische Abhängigkeit ist für frühe urchristliche Propheten wenig wahrscheinlich. Die Quelle der synoptischen Menschensohn-Aussagen ist wohl ein mündlich weitergegebener Traditionskomplex, der Dan 7,13
3.4. Der Menschensohn als personales Gerichtssymbol in der Predigt Jesu
Wenn Menschensohnworte von Jesus herrühren, dann am ehesten die Logien, die keinen Bezug des Menschensohnes zu ihm erkennen lassen (s.o. 2.1.). Die Mk-Apokalypse scheidet freilich als Makrotext aus. Es bleiben die Q-Logien, die mit Vergleichen die Plötzlichkeit, Unberechenbarkeit und das Überall-Sein des Kommens des Menschensohnes nahebringen wollen (Lk 12,39f
3.5. Wie Jesus nach Ostern mit dem apokalyptischen Menschensohn gleichgesetzt werden konnte.
Wenn eine solche Vorgabe aus der Predigt Jesu im Raum stand, waren die ersten Christen umso mehr genötigt, das Verhältnis Jesu zu diesem endzeitlichen Menschensohn zu klären. Erst wenn sich eine Erhöhungschristologie mit der Menschensohn-Vorstellung verbindet, konnte man um das Kommen des erhöhten Herrn flehen (anders Vögtle 131.133.176, der von einer Priorität des Maranatha ausgeht). Die christliche Rede vom „Tag des Menschensohnes“ ist m.E. unabhängig von der Transformation des „Tages Jahwes“ zum „Tag des Herrn“ im vorpaulinischen Christentum (anders U.B. Müller 120-123). Dass der Gekreuzigte auferweckt worden war, prädestinierte ihn an sich noch nicht zu einer besonderen Rolle im Endgericht. In der Logienquelle ist auch nicht offen von seinem Kreuzestod, noch weniger von seiner Auferstehung die Rede. Und doch ist vielleicht gerade in Q ein jüdischer Motivzusammenhang aufgenommen worden, der die Gleichsetzung Jesu mit dem zum Gericht kommenden Menschensohn erleichterte. Lk 13,34f
4. Der Menschensohn im vierten Evangelium
Bei den Synoptikern sollte der künftige Menschensohn vom Himmel her kommen, aber bei den Worten vom Gekommenen wurde das Woher nicht thematisiert; sie standen unverbunden neben den Worten vom Kommenden. Dagegen ist für Joh der himmlische Ursprung wichtig. Er geht davon aus, dass Jesus als Menschensohn immer schon bei Gott war (vgl. Joh 6,62
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